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Am Montagmorgen waren Vera und Saitelhöfer in Frankfurt vor der Wohnung von Malte Weintraud verabredet. Der Haftbefehl gegen Veronika Fincker sollte vollstreckt werden. Vera war mit dem Dienstwagen gekommen, ihr eigenes Auto hatte sie schon vorher zur Werkstatt gebracht. Für den Nachmittag hatte sie sich freigenommen und mit Robert in der Stadt verabredet. Am Abend zuvor hatten sie noch bis in die Nacht telefoniert. Verspätet und übermüdet kam Vera in der Frankfurter Innenstadt an. Saitelhöfer stand bereits ungeduldig mit verschränkten Armen vor seinem geparkten Wagen, als Vera einbog. Sie winkte kurz und suchte nach einem Parkplatz. In der Nähe des französischen Konsulats hatte Vera endlich Glück. Unbedacht öffnete sie die Autotür und übersah dabei einen Kurierdienst-Fahrer auf dem Fahrrad. Er konnte noch rechtzeitig ausweichen, schrie ihr aber ein derbes »Pass doch auf, blöde Kuh!« über die Schulter. Den Schreck noch in den Knochen hastete Vera Richtung Bockenheimer Warte. Sie musste unweigerlich an Rosi Weintraud, den schrecklichen Unfall in Koblenz und an Frau von Hettenkever denken. Dann blieb sie einen Moment stehen und sagte laut und erleichtert »Danke« dafür, dass dem Kurierfahrer nichts zugestoßen war. Gedankenverloren holte sie sich noch ein belegtes Brötchen beim Bäcker.

»Wird aber auch Zeit«, grüßte Saitelhöfer etwas genervt, als Vera ankam. Sie warf einen Blick auf das geparkte Polizeiauto direkt vor der Wohnung von Malte Weintraud. Zwei Kollegen in Uniform saßen darin und frühstückten.

»Für den Fall, dass Veronika Fincker Schwierigkeiten macht und nicht freiwillig mitkommt?«, fragte Vera.

»Genau, dann mal los. Die Nachbarn beobachten uns bereits durchs Fenster«, antwortete Saitelhöfer.

»Guten Morgen. Ich habe Sie schon erwartet«, öffnete Veronika Fincker die Tür. Wie immer war sie elegant angezogen, heute in einem dunkelblauen Kostüm mit weißer Bluse. »Gott sei Dank müssen Malte und Leonie das nicht miterleben. Er ist bereits auf der Arbeit und Leonie in der Schule.«

»Guten Morgen, Frau Fincker. Wie meinen Sie das?«, wollte Vera wissen.

»Nun, Sie sind doch gekommen, um mich festzunehmen, richtig?«, erwiderte Veronika Fincker. »Eine ehemalige Bekannte aus Erlenburg hat mich gestern angerufen und mir erzählt, dass Roswitha Bornheimer ermordet wurde. Die Nachricht hat dort schnell die Runde gemacht. Ich weiß, was das bedeutet und dass Sie in Ihrer kleinen Tasche einen Haftbefehl für mich haben.«

»Gut, dann können wir das hier ja verkürzen«, ergriff Saitelhöfer das Wort. »Frau Fincker, wo waren Sie am vergangenen Samstag nach dem Requiem für Rosi Weintraud?« Veronika Fincker überlegte nicht lange. Dann antwortete sie bestimmt:

»Ich bin direkt nach dieser Schmierenkomödie nach Hause gefahren.«

»Können Sie das beweisen?«, fragte Vera nach. Veronika Fincker schwieg für einen Moment.

»Leider nein. Ich hatte bereits morgens mit Malte besprochen, dass wir mit zwei Autos fahren. Er wollte mit Leonie und seiner Familie gemeinsam nach dem Requiem noch einen Kaffee trinken. Ohne mich. Sie wissen ja, dass ich in seiner Familie nicht unbedingt beliebt bin. Also bin ich direkt vom Friedhof zurück nach Frankfurt gefahren. Zu Hause habe ich mich ins Bett gelegt. Ich hatte Migräne. Malte und Leonie sind erst spätabends wieder zurück nach Hause gekommen. Da habe ich bereits geschlafen.«

»Ihre Geschichte klingt für mich nicht besonders überzeugend«, fasste Saitelhöfer zusammen. »Schon deshalb nicht, weil Sie uns auch letzte Woche angelogen haben. Die Auswertung der Überwachungskameras des Kinocenters an der Hauptwache für den Tag des Mordes an Rosi Weintraud verlief negativ. Wir konnten weder Sie noch Ihre Tochter bei Ihrem angeblichen Kinobesuch darauf erkennen.«

»Und das hat für einen Haftbefehl gereicht?«, spottete Veronika Fincker. »Da muss die Verzweiflung der Justiz in diesem Mordfall ja wirklich groß sein. Sie wissen doch selbst, wie viele Menschen an einem Abend durch ein Kinocenter strömen und dass bei Weitem nicht alle von den Kameras erfasst werden. Als Nächstes wollen Sie wahrscheinlich auch noch von mir wissen, wo ich in der Nacht war, in der Eric Niedt ermordet wurde. Um es kurz zu machen: Hier in Frankfurt, in meinem Bett. Mit Malte! Es war die Nacht zum Feiertag. Wir haben gewartet, bis Leonie schläft, dann hatten wir Sex. Fragen Sie ihn doch!« Für einen Moment war Veronika Fincker laut geworden.

»Das werden wir auch!«, entgegnete Saitelhöfer. »Er wäre auch nicht der Erste in diesem Fall, der seinem Ehepartner ein falsches Alibi verschafft. Es bleibt dabei: Wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes in drei Fällen müssen wir Sie festnehmen. Außerdem besteht Fluchtgefahr. Sie haben sich schon einmal in Erlenburg aus dem Staub gemacht.«

Veronika Fincker hatte sich wieder gefasst.

»Also gut«, gab sie nach. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich habe bereits einen Anwalt kontaktiert. Er schreibt gerade schon die Beschwerde gegen den Haftbefehl. Von daher wird diese Farce nicht allzu lange dauern. Wohin darf ich Sie denn begleiten?«, fragte sie provokant.

»In die JVA Butzbach. Sie werden dort schon erwartet«, konnte sich Saitelhöfer nicht verkneifen.

»Lächerlich«, erwiderte Veronika Fincker zynisch. Dann griff sie nach einem rosafarbenen Beautycase, welches bereits bei der Garderobe stand, und konstatierte siegessicher:

»Das dürfte wohl reichen. Schließlich will ich bis zum Wochenende wieder in Freiheit sein.« Zuletzt öffnete Veronika Fincker die oberste Schublade einer Kommode im Flur und ergriff einen Brief, den sie mit »Für Malte« adressiert hatte. Stumm legte sie ihn auf die Ablage.

Dann legte Vera ihr die Handschellen an und sagte ihren Spruch auf: »Frau Fincker, ich nehme Sie hiermit fest wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes an Rosi Weintraud, Eric Niedt und Roswitha Bornheimer.«