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Malte Weintraud kam an diesem Tag früher von der Arbeit nach Hause. Vielleicht hatte er eine Vorahnung, vielleicht nur zufällig wahnsinnige Kopfschmerzen im Büro bekommen. Auf dem Weg nach Hause hatte er sich gewundert, dass Veronika seine Nachrichten weder gelesen noch beantwortet hatte. Etwas beunruhigt schloss er die Wohnungstür auf und war überrascht von der Stille. Schnell fiel sein Blick auf den cremefarbenen Briefumschlag, adressiert mit seinem Namen. Er rief noch ein paarmal laut »Veronika, Leonie!« in die leere Wohnung. Dann setzte er sich ins Wohnzimmer, öffnete den Brief und begann zu lesen.

»Mein lieber Malte,

wenn Du das liest, hat man mich verhaftet und ich bin auf dem Weg ins Gefängnis. Aber mach Dir keine Sorgen. Ich habe Deine Mutter nicht getötet. Es wird alles gut enden. Ich habe bereits einen Anwalt beauftragt. Meine Schwester wird sich während meiner Abwesenheit um Leonie kümmern. Sie holt sie heute nach der Schule ab. Bitte ruf mich nicht an. Bitte versuche auch nicht, mich zu besuchen. Ich will Dich nicht sehen. Ich will Dich nicht mehr belasten, als ich es schon getan habe. Deshalb müssen sich ab heute unsere Wege trennen!

Ich mache es kurz und schmerzlos, so wie Du mich kennst. Keine Sentimentalitäten. Du weißt, wie viel Du mir bedeutest. Aber ich verlasse Dich! Wir werden uns trennen, sobald ich wieder frei bin. Der eine oder die andere wird Dir sagen, dass es sowieso keine Liebe war. Und vielleicht haben sie ja recht. Aber ich habe Dich sehr gemocht, und wir hatten eine schöne Zeit zusammen. Die ist jetzt aber zu Ende. Meine Vergangenheit hat mich eingeholt, und für mich gibt es kein Zurück mehr zu Dir. Egal was passiert, Du wirst mir nicht mehr vertrauen können, da bin ich mir sicher. Und ohne Vertrauen gibt es keine Liebe und kein gemeinsames Leben.

Bitte pass auf Dich auf! Und nochmal: Bitte melde Dich nicht mehr bei mir. Ich möchte allein sein und möglichst bald mit Leonie ein neues Leben anfangen. Am besten ganz woanders. Und die Vergangenheit soll endlich ruhen.

Bitte verzeih mir!

Deine Veronika«

Wie betäubt legte Malte Weintraud den Brief beiseite. In seinem Kopf hämmerte es unerbittlich. Unwillkürlich griff er nach dem Handy und wählte Veronikas Nummer. Aber sie ging nicht ran. Er versuchte es ein zweites Mal, dann gab er auf. Er kannte seine Frau. Langsam wurde ihm klar, was gerade geschehen war. Die Tränen liefen über sein Gesicht und linderten immerhin seine Kopfschmerzen etwas. Dann ging er zum Kühlschrank, in dem noch eine volle Flasche Wodka stand. Er wollte sie gerade öffnen und ansetzen, da glaubte er, die warnende Stimme seiner Mutter zu hören. Wütend und verzweifelt warf er die Flasche zu Boden, die mit lautem Klirren in tausend Stücke zerbrach. Langsam verteilte sich der Geruch des Hochprozentigen in der ganzen Küche.

Einem inneren Impuls folgend verließ Malte den Scherbenhaufen und die Wodkalache und ging zurück ins Wohnzimmer. Er überlegte kurz, dann suchte er nach einer Nummer, die er schon seit Jahren nicht mehr gewählt hatte. Es klingelte dreimal, dann nahm jemand ab.

»Hallo, bist du es, Malte?«, fragte eine weinerliche Stimme ungläubig. Es war seine Schwester Regina.