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Gegen Mittag fuhr Saitelhöfer beim Reisebüro in Hirschenhain vor. Als er die Tür öffnete, kam ihm die schüchterne Auszubildende entgegen. Offenbar hatte ihn Axel Casch bereits erkannt und sie aus dem Büro geschickt.

»Guten Tag, Herr Casch. Wollen Sie sich heute mit mir unterhalten, oder soll ich Sie und Ihren Anwalt direkt für morgen vorladen?«, kam Saitelhöfer gleich zur Sache. Axel Casch schwieg eine Weile. Dann fragte er:

»Worüber wollen Sie sich denn mit mir unterhalten?«

»Das können Sie sich doch bestimmt denken. Über Ihre Beziehung zu Madeleine Burgund und zu Rosi Weintraud. Außerdem habe ich ein Röhrchen für eine Speichelprobe mitgebracht, um die ich Sie dringend bitten würde. Wir können das auch morgen ganz offiziell im Büro erledigen. Aber eines verspreche ich Ihnen: Wenn Sie nicht erscheinen, beantrage ich direkt einen Haftbefehl. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den bei Ihrem Vorstrafenregister und der neuen Sachlage auch bekomme.«

Axel Casch stand auf. Saitelhöfer, der nicht gerade klein war, stellte fest, dass ihn der gut gekleidete Freund von Madeleine Burgund um wenigstens einen Kopf überragte. Er schätzte den schwarzhaarigen Mann, der offensichtlich vor Kraft kaum laufen konnte, auf knapp 2 m. Die markante Brille, der Vollbart und die edle Kleidung verliehen seinem gewöhnlichen Gesicht einen intellektuellen Touch. Es überraschte Saitelhöfer nicht, dass Casch auf Frauen attraktiv wirkte, ohne es wirklich zu sein.

»Warten Sie, ich schließe den Laden. Ist ohnehin gleich Mittagspause. Dann sind wir allein und ich gehöre ganz Ihnen«, meinte Axel Casch süffisant. Saitelhöfer überhörte die Anspielung und nahm Platz.

»Sie sprachen von einer neuen Sachlage. Was meinen Sie damit?«, fragte Axel Casch.

»Wir haben von der Beziehung Ihrer Mutter zu Marco Weintraud und ihrem Selbstmordversuch erfahren. Und dass Rosi Weintraud Ihre Mutter bis zu ihrem Tod im Altenheim in Großbergen gepflegt hat. Damit rücken Sie näher in den Kreis der Verdächtigen. Mal abgesehen von Ihrem finanziellen Interesse am Tod von Frau Weintraud«, holte Saitelhöfer aus. »Erzählen Sie mir doch von Ihrer Mutter«, forderte er Axel Casch dann auf.

»Warum nicht«, stimmte der Verdächtige zu. Saitelhöfer belehrte ihn über seine Rechte und schaltete das Diktiergerät ein.

»Meine Mutter hat ein trauriges Dasein gefristet«, begann Axel Casch. »Ihr Leben war eine einzige tragische Geschichte ohne Happy End. Bis heute frage ich mich, warum sie so leiden musste. Mein Vater ist schon früh gestorben, von da ab musste sie mich allein großziehen. Mit ihrer Behinderung konnte sie kaum arbeiten gehen. Die meiste Zeit haben wir von Sozialhilfe gelebt. Ich habe meine Mutter geliebt und ihr immer beigestanden, aber ich habe auch sehr unter ihrer Behinderung und unserer Armut gelitten. Vor allem als Kind. Besonders schlimm für mich war, dass meine Mutter schon so früh im Rollstuhl sitzen musste. Und das alles wegen Marco Weintraud. Sie hat ihn geliebt, das hat sie mir immer wieder erzählt. Aber er hat nur mit ihr gespielt. Ist mit ihr ausgegangen und hat meiner Mutter falsche Hoffnungen gemacht. Genauso ist er später mit Rosi Weintraud verfahren. Und das alles nur, um seine Homosexualität zu vertuschen. Daher hege ich wegen dieser alten Geschichte auch keinen Groll mehr. Schon gar nicht gegen Rosi Weintraud. Warum auch? Sie war doch selbst ein Opfer ihres verlogenen Ehemanns. Außerdem kannte ich sie nur aus den frühen Erzählungen meiner Mutter. Jahrzehnte später habe ich sie im Heim dann als Schwester Rosi kennengelernt. Bei dem Vornamen habe ich mir überhaupt nichts gedacht. Ehrlich gesagt hatte ich diese uralte Geschichte über die Jahre hinweg komplett verdrängt. Ich war auch viel zu sehr mit der akuten Demenz meiner Mutter beschäftigt, als darüber noch nachzudenken. Die Zusammenhänge sind mir erst auf einer Feier an Madeleines fünfzigsten Geburtstag bewusst geworden. Da hat sie mich das erste Mal persönlich ihrer Familie in Breitenbergen vorgestellt. Ich habe Rosi natürlich wiedererkannt. Als Madeleine mir ihre Tante dann noch namentlich vorstellte, war alles klar. Wir haben uns kurz über den Tod meiner Mutter unterhalten, und sie hat mir nochmal ihr Beileid ausgesprochen. Das war’s. Vergessen und vorbei. Sie können mich also getrost von Ihrer Liste streichen«, schloss Axel Casch.

»Wo waren Sie am Abend, als Rosi Weintraud ermordet wurde?«, wurde Saitelhöfer direkter. Axel Casch antwortete verärgert: »Am Abend der Ermordung von Rosi Weintraud war ich bei Madeleine in Breitenbergen. Über Nacht. Ich bin allerdings erst später zu ihr gekommen, etwa so gegen 22.00 Uhr, es war schon dunkel.«

»Und was haben Sie vorher gemacht?«, hakte Saitelhöfer nach. Axel Casch druckste ein wenig herum, dann grinste er. Es war kein angenehmes Grinsen.

»Was genau ich vorher gemacht habe, werde ich Ihnen nicht erzählen«, sagte er dann herablassend. »Aber ich bin nach Ladenschluss in einen neuen Sauna- und Swingerclub in Haiger gewesen. Ein wenig Dampf ablassen.«

Obwohl Saitelhöfer in seiner Laufbahn schon viel zu hören bekommen hatte, war er sichtlich irritiert über so viel Offenheit. Dann fragte er:

»Gibt es Zeugen?« Axel Casch lachte ein selbstgefälliges, unehrliches Lachen.

»Keine, die ich namentlich nennen kann. An solchen Orten ist Diskretion Trumpf. Aber ich gehe doch stark davon aus, dass sich die eine oder andere Dame gern an mich erinnern wird.« »Das will ich glauben«, versetzte Saitelhöfer spöttisch. Dann fügte er hinzu: »Vorausgesetzt, Sie sagen die Wahrheit.« »Na, hören Sie mal!«, erwiderte Axel Casch empört. »Mit sowas geht man nicht gerade hausieren. Selbst ich nicht. Wenn Madeleine davon erfährt, bin ich erledigt. Und das ausgerechnet jetzt, wo sie endlich zu Geld kommt. Ich hatte ihr versprochen, auf diese Besuche zu verzichten, aber ich bin halt auch nur ein Mann.«

»Und was für einer«, entschlüpfte es Saitelhöfer.

»Das bringt uns zur nächsten Frage. In welcher Beziehung stehen Sie zu Madeleine Burgund? Lieben Sie sie?«, wechselte Saitelhöfer abrupt das Thema.

»Ich glaube nicht, dass Sie das was angeht. Meine Beziehung zu Madeleine ist Privatsache. Da hat wohl die gute Margot Stimmung gegen mich gemacht. Madeleine und ich sind zusammen. Allerdings unterscheiden sich unsere Vorstellungen von einer Beziehung. Madeleine wünscht es sich klassisch und etwas bieder. Und ich brauche eben gewisse Freiheiten. Damit muss sie leben.«

»Verstehe«, kommentierte Saitelhöfer trocken.

»Haben Sie Rosi Weintraud ermordet?«, fragte Saitelhöfer dann völlig unvermittelt.

»Was soll die Frage? Natürlich nicht!«, brauste Casch auf. »Ich konnte sie und ihre Schwester Margot nicht besonders leiden, das kann ich nicht leugnen. Aber deshalb bringe ich doch keine alten Omas um. Außerdem hat Rosi Weintraud meine Mutter bis zu ihrem Tode gepflegt. Den Job hat sie gut gemacht. Ich gebe ja zu: Über Madeleine profitiere ich in gewisser Weise von Rosis Tod. Aber ich bin kein Mörder!« »Nein, Sie doch nicht«, sagte Saitelhöfer ironisch. »Sie werden nur gern mal handgreiflich gegenüber Frauen.« Das Gesicht von Casch lief rot an. Dann schrie er:

»Jetzt reicht es aber! Das haben Sie wahrscheinlich aus den Akten. Meine Ex-Frau hat damals versucht, mir etwas anzuhängen. Aber sie ist nicht weit gekommen. Und jetzt holen Sie Ihr verdammtes Speichelröhrchen raus und verschwinden Sie!« Die Speichelprobe gab Axel Casch, ohne zu zögern, ab. Dann schloss er das Reisebüro wieder auf und öffnete dem Kommissar die Tür.

Als Saitelhöfer schon draußen war, rief er ihm plötzlich nach:

»Warten Sie, tut mir leid, wenn ich etwas aufbrausend war. Sie machen ja nur Ihren Job. Ich bin auf meine Ex-Frau nicht gut zu sprechen. Hören Sie«, druckste er. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Madeleine nichts von meinem Besuch in dem Saunaclub erfährt. Mein Vorschlag zur Güte: Sie überprüfen die Speichelprobe und hängen den Besuch in dem Swingerclub nicht an die große Glocke. Dafür helfe ich Ihnen, den wahren Mörder zu finden.«

»Wie darf ich das denn verstehen?«, fragte Saitelhöfer überrascht und ging zurück zur Tür.

»So, wie ich es sage«, gab Axel Casch zurück. Seine Gesichtszüge wurden weicher. Für einen Moment schien es so, als kämpfe er mit den Tränen. Dann redete er weiter:

»Ich habe noch nie groß darüber geredet, aber ich habe bis heute das Gefühl, dass meine Mutter in diesem Heim keines natürlichen Todes gestorben ist. Eines Morgens lag sie tot im Bett. Überall hatte sie blaue Flecken, das habe ich später selbst gesehen. Angeblich war sie kurz vor ihrem Tod gefallen. Die offizielle Diagnose war plötzlicher Herztod, geglaubt habe ich das nie. Wenn Sie mich fragen, hat da jemand nachgeholfen. Oder ist seinen Pflichten nicht nachgekommen. Und damit meine ich nicht Rosi Weintraud. Meine Mutter war am Ende ihres Lebens hochaggressiv, ihre Pflege war sehr anstrengend und zeitintensiv. Zeit, die man bei ›FealinWell‹ nicht hatte. Wenn das Pflegeheim von außen auch schön aussieht, die Zustände drinnen sind katastrophal, was wirklich kein Wunder ist. Hinter der ›FealinWell‹-Kette steht ein internationaler Großinvestor, und das Unternehmen ist börsennotiert. Muss ich noch mehr sagen? Zu wenig Personal und ein immenser Kostendruck. Besonders schlimm war es auf der geschlossenen Demenzstation. Die Leute dämmern da nur noch vor sich hin, manchmal liegen sie stundenlang in ihren vollen Windeln. So war es auch bei meiner Mutter. Am Ende war ich froh, dass sie es hinter sich hatte. Da stellt man keine Fragen mehr. Ich glaube aber, dass Rosi Weintraud irgendetwas wusste. Und deshalb musste sie sterben. Sie sollten sich mal die Heimleiterin etwas genauer anschauen.« Axel Casch machte eine nachdenkliche Pause. Dann fuhr er fort:

»Wissen Sie, ich bin vielleicht nicht der beste Mensch, aber das Elend meiner Mutter in diesem Heim hat mich sehr erschüttert. Ich weiß nicht, wie oft ich mich in dieser Zeit bei Esther Biebrich beschwert habe. Schließlich ist das Heim nicht gerade billig. Gott sei Dank hatte ich bereits vor langer Zeit eine Lebens- und Pflegeversicherung für meine Mutter abgeschlossen. In weiser Voraussicht. Sonst hätten wir uns die immensen Kosten überhaupt nicht leisten können. Rosi Weintraud kannte ich damals noch nicht persönlich, sondern nur als Pflegerin auf der Station. Mit Leib und Seele und viel Herz für die Patienten. Sie war wirklich die gute Seele dort! Vielleicht war sie zu unbequem oder sie hat zu viel gewusst. Über diese Esther Biebrich. Eine dieser Frauen, die keinen abkriegen und sich dann völlig in den Beruf verbeißen, weil sie sonst nichts haben. Ich weiß, so was darf man heute nicht mehr sagen, ist mir aber egal. Jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass sie morden würde, um ihre berufliche Existenz zu retten.« Saitelhöfer war überrascht und schockiert zugleich über das, was er von Axel Casch erfahren hatte. Mit einem eiligen Dank verabschiedete er sich und machte sich direkt auf den Weg ins Pflegeheim.