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Sie befanden sich immer noch im zähfließenden Verkehr auf der Höhe des Gambacher Kreuzes. Das Navi hatte keine kürzeren Alternativrouten gefunden, sämtliche Ausweichstrecken waren überfüllt. Esther Biebrich schien zunehmend nervös. Vera war klar, dass sie damit auch gefährlicher wurde.

»Und Roswitha Bornheimer? Warum musste sie sterben?«, hielt Vera verzweifelt das Gespräch am Laufen. Esther Biebrich schien in Gedanken versunken. Vera überlegte kurz, ob sie die Chance nutzen und versuchen sollte, ihr die Waffe zu entreißen. Als ob sie Veras Gedanken lesen könnte, drückte ihr Esther Biebrich plötzlich wieder die Pistole fest gegen den Unterleib und zischte:

»Keine Tricks! Vergessen Sie das nicht.« Vera kämpfte mit den Tränen und nickte stumm. Zufrieden legte Esther Biebrich ihre Hand mit der Waffe wieder in den Schoß.

»Roswitha Bornheimer«, redete Esther Biebrich weiter. »Das war so eine Sache. Eine spontane Entscheidung. Vielleicht habe ich da etwas überreagiert. Ich war mir nicht sicher, wie viel diese Irre wirklich wusste. Als Roswitha Bornheimer beim Requiem vor versammelter Mannschaft verkündete, dass sie extra aus Erlenburg in Franken gekommen sei, um die Mörderin von Rosi Weintraud zu stellen, bin ich nervös geworden. Schließlich war Rosi bis zu ihrem Tod mit Helga Reeter aus Erlenburg befreundet. Ich hatte Angst, dass Rosi ihrer Freundin Helga von den Todesfällen in meinem Pflegeheim erzählt hatte und diese verrückte Bornheimer irgendwie Wind davon bekommen hatte. Als die Tochter von Helga Reeter sich an Rosis Grab dann auch noch als Bekannte von Roswitha Bornheimer zu erkennen gab, wurde mir die Sache zu heiß. Da habe ich kurzerhand beschlossen, sie zu töten. Ich konnte nicht riskieren, dass diese Wahnsinnige die Polizei auf die richtige Fährte brachte. Also habe ich mich während des ganzen Tumults abgesetzt und bin ihr mit dem Auto hinterhergefahren. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie noch nicht einmal mitbekommen hat, dass ich sie durch den Wald verfolgt habe. Dann habe ich mit dem Wagenheber aus meinem Auto mehrmals zugeschlagen. Sie hat nicht lange leiden müssen. Letzten Endes habe ich ihr einen Gefallen getan, irgendwann wäre sie sowieso durchgedreht oder hätte sich umgebracht.«

Vera war schockiert, wie nüchtern Esther Biebrich die Morde schilderte, keine Spur von Reue oder Mitleid mit den Opfern war zu erkennen. Mittlerweile bewegten sie sich nur noch im Schritttempo voran.

»Danke, dass Sie so offen mit mir reden«, versuchte sie wieder, eine emotionale Bindung an ihre Geiselnehmerin herzustellen. Zugleich wurde ihr klar, dass diese Offenheit allein der Tatsache geschuldet war, dass Esther Biebrich offenbar nicht vorhatte, sie am Leben zu lassen. »Ich muss hier raus«, dachte Vera verzweifelt. »Also weiter Konversation machen und hoffen, dass ich sie irgendwann überwältigen kann«, redete sie sich selbst Mut zu.

»Was hatte es mit den Todesfällen in Ihrem Heim auf sich?«, setzte Vera das Gespräch fort. »Das werde ich Ihnen auch noch erzählen«, erwiderte Esther Biebrich etwas genervt. »Aber jetzt nehmen wir erst mal die nächste Ausfahrt und umfahren den Stau. Das hier geht mir entschieden zu langsam voran.«