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Vera und Esther Biebrich befanden sich mittlerweile auf einer Landstraße zwischen Butzbach und Friedberg. Der Verkehr stockte, aber es ging zumindest weiter und Esther Biebrich wirkte etwas entspannter.

»Erzählen Sie mir jetzt von den Vorkommnissen im Pflegeheim und warum Rosi Weintraud sterben musste?«, fragte Vera erneut. Esther Biebrich zögerte eine Weile. Dann begann sie.

»Die Rosi hat fast ausschließlich auf der geschlossenen Station für Demenzkranke gearbeitet. Ein Ort, den man lieber nicht gesehen haben will. Alte, manchmal aber auch noch junge Menschen, die völlig verwirrt vor sich hin vegetieren. Keiner der Patienten auf dieser Station erkennt noch irgendjemanden, geschweige denn seine Angehörigen. Viele bekommen nur sehr selten Besuch. Man kann das den Angehörigen noch nicht einmal verübeln. Für die meisten Patienten ist die geschlossene Station das Ende einer Odyssee des vollständigen körperlichen und geistigen Verfalls. Sie müssen rund um die Uhr betreut, um nicht zu sagen bewacht werden. Viele sind aggressiv, schreien den ganzen Tag oder schlagen um sich und müssen teilweise fixiert werden. Die Angehörigen sind völlig überfordert. Oft haben sie schon jahrelang bis zur vollständigen körperlichen und seelischen Erschöpfung ihre Eltern oder Ehepartner zu Hause gepflegt. Bis es nicht mehr ging. Hinzu kommt, dass ein Platz in einem Heim mit vierundzwanzig-Stunden-Betreuung und Pflege mindestens sechstausend Euro kostet. Im Monat. Nicht alles wird von der Krankenkasse übernommen. Das bringt viele Angehörige auch finanziell an ihre Grenzen.«

»Verstehe«, sagte Vera. »Ich stelle es mir ziemlich schlimm vor, auf so einer Station zu arbeiten.«

»Da haben Sie wohl recht«, stimmte ihr Esther Biebrich zu. »Aber verstehen können Sie das nur, wenn Sie es mal erlebt haben. Es findet sich kaum Personal. Hinzu kommt, dass wir zu einem globalen Konzern gehören, der auf maximalen Gewinn orientiert ist. Auch wer sein Geld in Pflege investiert, will schließlich Rendite sehen. Ich muss zusehen, dass wir wirtschaftlich arbeiten, und wenn am Ende des Monats oder Quartals die Zahlen nicht stimmen, gibt es Ärger und Druck. Völlig unverhohlen wird einem dann mit Kündigung wegen Schlechtleistung gedroht. Und das schon seit Jahren. Viele Mitarbeiterinnen haben bereits gekündigt, und wir haben einen enormen Krankenstand. Hohe körperliche und psychische Belastung bei mieser Bezahlung und immensem Druck, das hält kaum einer lange aus. Bis auf die Rosi. Die hat ihren Job wirklich geliebt und mit Leib und Seele über die Jahre hinweg gemacht. Das muss ich ihr lassen. Selbst ich war oft am Ende meiner Kräfte auf der geschlossenen Demenzstation. Wir brauchen einfach unendlich viel Zeit für diese Menschen. Zeit und Personal. Beides haben wir nicht. Oft stand ich allein da, wenn Rosi im Urlaub war und sich die Hälfte der Belegschaft mal wieder krankgemeldet hatte. Irgendwann kommen Sie an Ihre Grenzen. Am schlimmsten ist der massive Druck von oben. Der kommt direkt aus New York von der Firmenleitung, bei denen stehen Sie quasi permanent auf der Abschussliste. Nach außen muss alles perfekt aussehen, aber das ist es nicht. Irgendwann musste ich mir etwas einfallen lassen, um den Willen von besonders renitenten und aggressiven Patienten zu brechen und sie ruhig zu kriegen. Aber dazu komme ich noch.« Vera ahnte nichts Gutes. Viel zu oft hatte sie in der letzten Zeit von der Anwendung psychischer oder körperlicher Gewalt in Altenheimen gelesen.

»Im Herbst letzten Jahres fing es an«, erzählte Esther Biebrich weiter. »Eine Patientin auf der Demenzstation war gefallen. Das kommt sehr oft vor. Sie lassen sie nur einen Moment aus den Augen, und schon fallen sie. Wir können sie aber auch nicht rund um die Uhr beaufsichtigen. Jedenfalls musste diese Patientin, Frau Daum, ins Krankenhaus. Dort hat man sie positiv auf multiresistente Keime getestet. Sie trug den MRSA-Keim in sich. Das Krankenhaus hat Frau Daum nur in einer OP den Oberschenkelhalsbruch genagelt und sie dann schnell in die nächste freie Reha in den Schwarzwald verfrachtet. Zur Mobilisierung und Sanierung, so nennt man das. Die Patienten werden dabei einige Tage bis Wochen isoliert, das kommt darauf an. Personal und Angehörige dürfen nur mit Schutzkleidung ins Zimmer. Sie werden täglich mit speziellen Antibiotikalösungen gewaschen und bekommen entsprechende Cremes und Spülungen in die Nase und den Mund. Manchmal erhalten sie zusätzlich noch starke Antibiotika. Bis der Keim nicht mehr nachweisbar ist. Eine schreckliche Tortur. MRSA ist hoch ansteckend und für ältere und geschwächte Menschen lebensbedrohlich, besonders wenn er in die Blutbahn gelangt. Zum Beispiel durch offene Wunden, etwa wenn jemand gefallen ist. MRSA greift dann die inneren Organe an oder es kommt zu Blutvergiftungen. Wie dem auch sei. Die Reha-Leitung aus dem Schwarzwald hat deshalb bei mir im Heim angerufen. Ich war ein verlängertes Wochenende weg, für einen richtigen Urlaub hatte ich schon lange keine Zeit mehr. Also haben sie mit Rosi gesprochen. Die hat mich sofort informiert. Ein multiresistenter Keim auf der Station! Sie können sich ja vorstellen, was da los war. MRSA ist in Pflegeheimen meldepflichtig. Das heißt, eigentlich hätte der Fall gemeldet, jeder Patient auf der Demenzstation getestet und bei positivem Befund in Quarantäne gesetzt werden müssen.«

Mittlerweile waren sie kurz vor Friedberg.

»Jetzt fahren Sie wieder auf die Autobahn«, befahl Esther Biebrich und hob kurz die Waffe. Dann erzählte sie weiter:

»Ich wusste natürlich, dass ein MRSA-Ausbruch im Heim gemeldet werden muss. Das wäre aber mein berufliches Ende gewesen. Das Heim hätte einen schlechten Ruf bekommen. Niemand lässt seine Angehörigen in einer Einrichtung, in der sich multiresistente Keime breitgemacht haben. Die Firmenleitung hätte mich gnadenlos abgeschossen. Das konnte ich nicht zulassen. Dafür habe ich zu hart an meiner Kariere gearbeitet. Also habe ich nichts unternommen und auch Rosi untersagt, den Fall zu melden. Rosi hat protestiert und sich krankgemeldet. Und ich stand nachts überwiegend allein auf der geschlossenen Abteilung. Frau Daum kam nicht mehr zurück in mein Heim. Sie ist in der Quarantäne in der Reha verstorben. Vermutlich an Herzversagen. Von der Reha habe ich nichts mehr gehört. Die Sache mit dem Keim habe ich einfach im Sande verlaufen lassen. Zu meiner eigenen Sicherheit habe ich auf der Demenzstation aber nur noch mit Schutzhandschuhen gearbeitet.«

»Wie schön, dass Sie wenigstens um Ihre eigene Sicherheit besorgt waren«, hätte Vera am liebsten sarkastisch zu Esther Biebrich gesagt, stattdessen fragte sie nur:

»Damit ist Ihre Geschichte aber noch nicht zu Ende, oder?«

»Nein, Sie Schlaumeier, sie geht erst richtig los«, spottete Esther Biebrich, bevor sie fortfuhr.

»Im Zimmer von Frau Daum lag eine unserer schwierigsten Patientinnen. Mathilde Casch, die Mutter von Axel Casch. Sie war absolut nicht mehr ruhig zu kriegen und wurde von Tag zu Tag immer aggressiver. Kein Wunder. Wegen des Keims hatte ich sie vorsichtshalber isoliert und unter Quarantäne gesetzt. Zum Schutz vor Ansteckung der anderen Patienten. Vor allem nachts hat sie geschrien und gegen die abgeschlossene Zimmertür geschlagen. Ich hätte sie eigentlich längerfristig stark sedieren und vielleicht sogar fixieren müssen, aber dafür brauchen Sie einen richterlichen Beschluss. Wenn Sie zu oft damit kommen, werden die Richter misstrauisch. Ich wollte mit dem Keim auf der Station und dem fehlenden Personal aber nicht auch noch einen richterlichen Schnüffler im Haus haben. Als es immer schlimmer wurde und ich Frau Casch nachts alleine nicht mehr Herr wurde, habe ich mir etwas einfallen lassen müssen. Schließlich wollte ich nicht handgreiflich gegen sie werden …«

»Was haben Sie sich also einfallen lassen müssen?«, fragte Vera mit Unbehagen. Esther Biebrich schwieg für eine Weile, dann fuhr sie mit ihrem Geständnis fort:

»Ich hatte mir schon vor ein paar Jahren einmal privat einen Elektroschocker besorgt. Wie Sie wissen, lebe ich allein und ziemlich abgelegen. Den habe ich mit auf die Station genommen und der renitenten Frau Casch mit dem angeschalteten Gerät zunächst nur gedroht. Es war das erste Mal … und hat auch geholfen. Zumindest für eine gewisse Zeit …«

Vera versuchte, ihr Entsetzen über diese Vorgehensweise nicht zu zeigen. Dann sprach sie ihre Befürchtung aus.

»Als die Patientin aber nicht mehr zu bändigen war, haben Sie ihr irgendwann einen richtigen Schock mit dem Gerät verpasst.« Esther Biebrich nickte stumm.

»Zwei Stunden später lag sie tot im Zimmer. Ich konnte doch nicht wissen, dass sie gleich kollabiert und mir einfach so wegstirbt. Ich hatte das Gerät doch auf die niedrigste Stufe gestellt. Heute gehe ich davon aus, dass sie sich bei Frau Daum angesteckt hatte und bereits von dem multiresistenten Keim befallen war. Ihr Herz war wohl schon so geschwächt, dass es durch den Elektroschock versagt hat. Das wurde mir aber erst später klar.«

»Ist denn niemand von den Angehörigen oder der Arzt stutzig geworden?«, wollte Vera wissen. »Nein! Wo denken Sie hin? Die Angehörigen lassen sich nur äußerst selten auf dieser Horrorstation blicken. Außerdem konnte Frau Casch nur noch wirres Zeug von sich geben. Der Amtsarzt hat nur den Exitus durch Herzversagen bescheinigt und die Spuren vom Elektroschocker übersehen. Kein Wunder. Die Patienten haben oft überall blaue Flecken, da sie fast alle Blutverdünner nehmen. Außerdem bilden sich Leichenflecken. Aber so genau wollte es der dämliche Arzt überhaupt nicht wissen. Er hat sich noch nicht mal die Zeit genommen, um den Leichnam genauer anzuschauen. Ein Glück für mich«, meinte Esther Biebrich sarkastisch. »Wissen Sie, auf dieser Station der Vergessenen fragt keiner mehr so genau nach. Nicht einmal die Angehörigen. Viele sind tatsächlich erleichtert, wenn das Martyrium ihrer Liebsten ein Ende hat. Auch für diesen Axel Casch, den Sohn der Verstorbenen, war die Angelegenheit abgeschlossen. Nur für die Rosi nicht …«, beendete Esther Biebrich verärgert ihren Monolog und machte eine kurze Pause.

»Wie meinen Sie das?«, hakte Vera nach. Esther Biebrich holte tief Luft, dann redete sie weiter:

»Kurz vor dem Tod von Frau Casch war sie wieder gesund und munter zurück auf der Station. Sie hätte sich keinen blöderen Zeitpunkt für ihr Comeback aus dem vermeintlichen Krankenstand raussuchen können. Aber so war die Rosi. Wie dem auch sei. Beim Waschen des Leichnams von Frau Casch hat sie wohl Verdacht geschöpft. Schließlich hinterlassen Elektroschocker Spuren. Also hat sie in meinem Büro herumgeschnüffelt und dabei das Gerät gefunden. Dann brauchte sie nur noch eins und eins zusammenzuzählen. Den Elektroschocker mit meinen Fingerabdrücken hat sie als Beweismittel an sich genommen und mir fortan damit gedroht. Leider habe ich bei meinen Aktionen mit dem Gerät nicht immer Handschuhe getragen. Bis heute weiß ich nicht, wo Rosi den Elektroschocker versteckt hat. Gott sei Dank haben auch Sie ihn bei den Ermittlungen nicht gefunden, da hatte ich wieder Glück.«

Sprachlos über das Leid der verstorbenen Patientin und die Kaltschnäuzigkeit von Esther Biebrich hatte Vera für eine Weile fast vergessen, in welcher Gefahr sie sich befand. Dann redete Esther Biebrich weiter:

»Trotz allem konnte ich Rosi davon überzeugen, dass sie bereits selbst zu tief in der Sache drinsteckte, um mich noch anzeigen zu können. Nicht zuletzt, weil auch sie die multiresistenten Keime auf der Station nicht gemeldet und schon zu lange geschwiegen hatte. Es wäre auch ihr berufliches Ende gewesen«, fuhr Esther Biebrich fort. «Und es kehrte wieder Ruhe im Heim ein. Offenbar hatten sich nur die beiden verstorbenen Patientinnen mit dem Keim angesteckt«, erklärte Esther Biebrich nüchtern.

»Wenigstens hatten Ihre schrecklichen Erziehungsmethoden damit ein Ende. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich Ihnen glauben soll, dass es sich bei Mathilde Casch nur um einen Einzelfall handelte. Vielleicht wusste Rosi Weintraud noch mehr, als Sie hier zugeben wollen«, entwich es Vera. Esther Biebrich widersprach ihr nicht. Stattdessen erwiderte sie:

»Sie verstehen das nicht! Auf der Station geht es zu wie in einer Irrenanstalt«, rechtfertigte sich Esther Biebrich ohne eine Spur von Mitleid.

»Anfang des Jahres wurde die Situation im Heim wieder unerträglich. Wir hatten eine schwere Grippewelle und kaum Personal. Der gängige Impfstoff hatte nicht gewirkt, die Patienten haben sich reihenweise angesteckt und sind gestorben. Damit hatte ich aber nichts zu tun.«

»Das hoffe ich für Sie«, rutschte es Vera raus.

»Jetzt werden Sie mal nicht frech!«, drohte Esther Biebrich erneut mit dem Revolver.

»Entschuldigen Sie«, versuchte Vera die Heimleiterin wieder zu beschwichtigen.

»Wie ging es weiter?«

»Wie es weiterging?«, erwiderte Esther Biebrich verbittert. »Die Rosi war völlig fertig. Beruflich und privat. Und mir hat sie das Leben zur Hölle gemacht. Sie hatte herausgefunden, dass ihr Pedro ein Verhältnis mit der Friseuse im Ort hatte. Außerdem gab es da noch eine alte Geschichte, irgendwas mit einem Unfall. Die ist Rosi wohl wieder hochgekommen. Mehr hat sie dazu auf der Arbeit nicht gesagt. Jedenfalls hat sie mir während der Grippewelle erneut damit gedroht, nun doch mit dem von ihr versteckten Elektroschocker zur Polizei zu gehen und mich anzuzeigen. Irgendwie habe ich sie aber wieder in die Spur gekriegt. Die Grippewelle flachte ab, und auch Rosi beruhigte sich wieder. Bis zum April, als Rosi dem Sohn von Mathilde Casch wieder begegnete. Auf einer Geburtstagsfeier. Ihre Nichte hatte ihn über ›Unforgettable‹ oder so was kennengelernt und war jetzt mit ihm zusammen. Der reine Zufall! Ich weiß nicht, ob Axel Casch der Rosi Vorwürfe gemacht hat oder woran es lag. Jedenfalls kam bei der Rosi alles wieder hoch, und sie hat mich weinend zur Rede gestellt. Sie hatte einen ziemlich theatralischen Auftritt in meinem Büro, ich kann mich noch gut daran erinnern«, lachte Esther Biebrich plötzlich sarkastisch. Dann äffte sie die Worte von Rosi Weintraud nach.

»›Du hast Blut an deinen Händen. Und ich habe mich mitschuldig gemacht. Ich will endlich reinen Tisch in meinem Leben machen und dich nicht mehr sehen. Entweder du reichst bis zum Audit die Kündigung ein und verschwindest, oder ich gehe zur Polizei. Egal, was dann passiert und ob die mir glauben‹. So hat sie mir gedroht. Von da an war klar, dass sie sterben musste«, beendete Esther Biebrich ihr skrupelloses Geständnis.

»Schade, dass Sie erst mal niemandem von Ihren Kenntnissen erzählen können«, wandte Esther Biebrich sich dann direkt an Vera. »Leider sind wir durch den Stau ziemlich spät dran. Ich wollte Sie erst irgendwo im Taunus fesseln, betäuben und aussetzen. Dafür haben wir jetzt aber keine Zeit mehr. Also werden Sie diese Nacht am Flughafen im Kofferraum meines Autos verbringen müssen. Wenn Sie Glück haben und das Beruhigungsmittel morgen wieder nachlässt, können Sie um Hilfe rufen und auf Befreiung hoffen. Dann bin ich bereits in Medellín gelandet. Allerdings muss ich Ihnen schon einiges spritzen, damit Sie bis dahin Ruhe geben. Das Risiko, dass Ihr Herz dabei versagt, tragen Sie«, stellte Esther Biebrich emotionslos fest.