B evor ich jemanden umbrachte, fand ich es immer beruhigend, die Bäume anzuschauen. Wie ich so auf dem Rücken im hohen Gras am Rand der Königsstraße lag und zum Geflecht der grünbraunen Äste hochblickte, die, begleitet vom Flüstern der Blätter, im spätmorgendlichen Wind knarrten, verspürte ich eine willkommene Gelassenheit. So war es damals schon gewesen, vor zehn Jahren, als ich als kleiner Junge meine ersten zögerlichen Schritte in diesen Wald tat. Wenn das Herz zu hämmern anfing und mir der Schweiß auf die Stirn trat, musste ich nur zu den Bäumen hochschauen, um ruhiger zu werden. Was ich umso mehr genoss, da ich wusste, dass diese Momente stets nur von kurzer Dauer waren.
Als das Stampfen eisenbeschlagener Hufe auf der Erde zu hören war und dazu das schleifende Quietschen einer schlecht geschmierten Achse, schloss ich die Augen und rollte mich auf den Bauch. Ohne die beruhigende Ablenkung beschleunigte sich mein Herzschlag wieder, aber ich war geübt darin, es nicht zu zeigen. Der Schweiß, der sich in meinen Achselhöhlen sammelte und mir den Rücken hinabrann, würde zu meinem Gestank beitragen und die Verkleidung, die ich an diesem Tag angenommen hatte, umso glaubwürdiger machen. Hinkende Ausgestoßene rochen selten angenehm.
Ich hob den Kopf gerade so weit, dass ich die näher kommende Reisegesellschaft durch das Gras sehen konnte. Beim Anblick der beiden bewaffneten Reiter an der Spitze sog ich scharf die Luft ein. Noch beunruhigender waren die zwei Soldaten auf dem Karren dahinter. Beide trugen Armbrüste, und die Art, wie sie den Wald links und rechts der Straße im Blick behielten, sprach leider von einer Wachsamkeit, die sich vielen schlechten Erfahrungen verdankte. Dieser Teil der Königsstraße verlief zwar nicht direkt durch den Shavine, beschrieb jedoch einen weiten Bogen am Nordrand des Waldes. Der Bewuchs war hier weniger dicht, dennoch boten sich zahlreiche Verstecke, was unachtsamen Reisenden in unruhigen Zeiten wie diesen zum Verhängnis werden konnte.
Als die Reisegesellschaft näher kam, bemerkte ich die hohe Lanze, die über dem schmalen Trupp auf und nieder wippte. Der daran befestigte Wimpel flatterte so stark im Wind, dass das Wappen darauf nicht auszumachen war. Seine rot-goldene Färbung war jedoch unverkennbar: die Farben des Königs. Deckins Informationen hatten sich – wie immer – als richtig erwiesen: Der Trupp stellte die Eskorte eines königlichen Boten dar.
Ich wartete, bis der Zug ganz in Sicht war, und zählte weitere vier bewaffnete Reiter in der Nachhut. Der Anblick der erdigen Braun- und Grüntöne ihrer Uniformen stimmte mich etwas zuversichtlicher. Dies waren keine Soldaten des Königs, sondern Männer des Herzogs von Cordwain, die es durch den Krieg weit weg von der Heimat verschlagen hatte. Sie waren meist schlechter ausgebildet und weniger tapfer als die Soldaten der Krone. Ihre Vorsicht und soldatische Disziplin hingegen wirkten weniger ermutigend. Im Ernstfall würden sie wohl nicht gleich die Flucht ergreifen, was für alle Beteiligten bedauerlich war.
Als die Reiter an der Spitze nur noch ein Dutzend Schritt entfernt waren, griff ich nach dem knorrigen, mit Lumpen umwickelten Ast, der mir als Krücke diente, und richtete mich auf. Ich gab mir Mühe, zu blinzeln und die Stirn zu runzeln wie jemand, der gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht war. Ich humpelte zum Straßenrand, ohne mit dem geschwärzten Ballen meines bandagierten Fußes den Boden zu berühren, und mimte mit offen stehendem Mund und trübem Blick den Schwachsinnigen. Als ich die Straße erreicht hatte, tauchte ich den Fuß kurz in den aufgewühlten Schlamm am Wegrand. Unter schmerzerfülltem Stöhnen stolperte ich vorwärts und warf mich auf der zerfurchten Straße der Länge nach hin.
Ich konnte keineswegs sicher sein, dass die Pferde der Soldaten zurückscheuen würden. Viele Schlachtrösser sind darauf abgerichtet, am Boden liegende Menschen zu zertrampeln. Zum Glück waren diese hier offenbar nicht für den Kriegsdienst gezüchtet und kamen unter den verärgerten Flüchen ihrer Reiter – doch zu meiner Erleichterung – stolpernd zum Stehen.
»Mach verdammt noch mal den Weg frei, du Nichtsnutz!«, knurrte der Soldat zur Rechten und zügelte sein Pferd, das sich unruhig im Kreis drehte. Hinter ihm waren der Karren und – noch wichtiger – die wippende Lanze des königlichen Boten ebenfalls zum Stillstand gekommen. Die Armbrustschützen im Karren rutschten tiefer und griffen nach den Bolzen in ihren Köchern. Armbrustschützen ließen ihre Waffen nie längere Zeit schussbereit gespannt, weil sich dadurch Stock und Sehne zu sehr abnutzten. Dass sie es an diesem Tag nicht getan hatten, würde sich alsbald als folgenschwerer Fehler er-weisen.
Ich ließ meinen Blick jedoch nicht zu lange auf dem Karren verweilen, sondern starrte mit furchtsam geweiteten Augen verständnislos zu dem Berittenen hoch. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich lange geübt – die eigene Klugheit zu verbergen, fällt nicht leicht.
»Beweg deinen Arsch!«, befahl der Kumpan des Soldaten. Seine Stimme klang weniger wütend, eher so, als spräche er mit einem dummen Hund. Als ich ihn nur weiter mit offenem Mund angaffte, griff er fluchend nach der Peitsche an seinem Sattel.
»Bitte!«, wimmerte ich und hob die Krücke schützend über den Kopf. »V-verzeiht mir, ihr guten Herren!«
Dass Unterwürfigkeit die gewalttätigen Neigungen brutaler Menschen eher noch anstachelt, anstatt sie zu besänftigen, hatte ich schon öfter bemerkt, und genauso war es auch jetzt. Das Gesicht des Soldaten verfinsterte sich, er nahm die Peitsche vom Haken und entrollte sie, sodass das mit Stacheln bewehrte Ende nur wenige Zoll vor mir auf die Straße hing. Als ich hochschaute, packte er den mit Rauten verzierten Griff fester. Das Leder war ziemlich abgewetzt – dieser Mann schien von seiner Waffe gern und häufig Gebrauch zu machen.
Er hob die Peitsche, hielt jedoch inne und verzog angewidert das Gesicht. »Bei den Darmwinden der Märtyrer, du stinkst!«
»Es tut mir leid, Herr!«, entgegnete ich zitternd. »Ich kann nichts dafür. Mein Fuß, seht Ihr? Mein Herr ist mit seinem Karren drübergefahren, und seither verrottet er immer mehr. Ich bin auf dem Pfad der Schreine, um Märtyrer Stevanos um Heilung zu bitten. Einem frommen Mann wie mir werdet Ihr doch nichts tun, nicht wahr?«
In Wahrheit fehlte meinem Fuß nichts, er war ebenso gesund wie mein Bein. Der Gestank, der dem Soldaten so unangenehm in die Nase stieg, stammte von einer beißenden Mischung aus wildem Knoblauch, Vogelkot und vermoderten Blättern. Eine Verkleidung ist nur dann überzeugend, wenn sie von dem passenden Geruch begleitet wird. Die Soldaten sollten mich nicht als Bedrohung ansehen. Ein junger Krüppel, dem man auf einer für Hinterhalte berüchtigten Straße begegnet, mag seine Verletzung nur vortäuschen. Aber ein Schwachsinniger, dessen Fuß den Gestank einer schwärenden Wunde verströmt, das ist etwas ganz anderes.
Bei näherer Betrachtung wäre meine Maskerade zweifellos aufgeflogen. Hätten die beiden Soldaten aufmerksamer hingeschaut, dann wäre ihnen die unversehrte Haut unter der Schmutzschicht aufgefallen, der langgliedrige, kräftige Körper unter den Lumpen. Ein schärferer Blick hätte gewiss auch die Wölbung des Messers unter meinem fadenscheinigen Wams erspäht. So scharfe Augen hatten die unglückseligen Gesellen vor mir jedoch nicht, und ihre Zeit war abgelaufen. Ich war ihnen eben erst in den Weg gestolpert, aber die Ablenkung hatte schon den gesamten Zug zum Stehen gebracht. Im Laufe eines gefahrvollen, ereignisreichen Lebens habe ich häufig die Erfahrung gemacht, dass es gerade diese kleinen, verwirrenden Zwischenfälle sind, die den Tod bringen.
Den Soldaten zu meiner Rechten ereilte er in Form eines mit Krähenfedern befiederten Pfeils. Das Geschoss jagte von den Bäumen herab, und die Stahlspitze bohrte sich hinter dem Ohr in seinen Hals, um in einer Wolke aus Blut und Zungenfetzen aus dem Mund wieder auszutreten. Der Mann fiel aus dem Sattel, sein Kamerad hingegen erwies sich als erfahrener Veteran: Er ließ sofort die Peitsche fallen und griff nach seinem Langschwert. Er war flink, aber das war ich auch. Ich riss mein Messer aus der Scheide, setzte den bandagierten Fuß auf dem Boden auf und schnellte hoch, um mit der freien Hand nach dem Zaumzeug des Pferdes zu greifen. Das Tier bäumte sich unwillkürlich auf und beförderte mich weit genug nach oben, dass ich dem Soldaten mein Messer in die Kehle stoßen konnte, noch bevor er sein Schwert ganz gezogen hatte. Ich war stolz auf diesen Stich, den ich genauso geübt hatte wie den dümmlichen Gesichtsausdruck. Die Klinge schlitzte schon beim ersten Hieb sämtliche wichtige Adern auf.
Als ich wieder auf dem Boden aufkam, hielt ich das Zaumzeug des Pferdes weiter gepackt. Das Tier drehte sich wild im Kreis und drohte mich umzuwerfen. Der Soldat fiel auf die Straße und tat gurgelnd seine letzten Atemzüge. Ich verspürte einen Anflug des Bedauerns, weil er so schnell gestorben war. Dieser Kerl mit seiner abgewetzten Peitsche hätte sicherlich einen qualvolleren Tod verdient gehabt. Mir kam jedoch eine der vielen Lektionen in den Sinn, die mir als Gesetzlosem über die Jahre eingetrichtert worden waren: Wenn du jemanden töten sollst, dann geh schnell und gründlich vor. Folter ist Luxus. Heb sie dir für diejenigen auf, die es wirklich verdient haben .
Als ich das Pferd beruhigt hatte, war es schon fast vorbei. Der ersten Pfeilsalve waren sämtliche Wachen bis auf zwei zum Opfer gefallen. Die beiden Armbrustschützen lagen tot im Karren und ebenso der Kutscher. Ein Soldat war so klug gewesen, sein Pferd herumzuziehen und davonzugaloppieren – wenn es ihn auch nicht vor der Axt rettete, die zwischen den Bäumen hervorgewirbelt kam und ihn in den Rücken traf. Der letzte Soldat war aus bewundernswerterem, aber tollkühnem Holz geschnitzt. In seinem Oberschenkel steckte ein Pfeil, und ein weiterer hatte sein Reittier getötet, dennoch war es ihm gelungen, sich von dem strampelnden Pferd wegzurollen und auf die Beine zu kommen, um sich mit gezogenem Schwert den zwei Dutzend Gesetzlosen entgegenzustellen, die aus dem Wald gelaufen kamen.
Von dieser Geschichte sind unzählige Varianten im Umlauf. Deckin Scarl selbst hätte beim Anblick des mutigen Mannes seiner Bande verboten, ihn zu töten, heißt es in manchen. Stattdessen hätten er und der Tapfere sich einen Zweikampf geliefert. Nachdem der berühmte Gesetzlose den Soldaten tödlich verwundet hatte, blieb er noch bis zum Abend bei ihm. Gemeinsam erzählten sie sich Kriegsgeschichten und grübelten über die Launen des Schicksals nach, das unser aller Leben bestimmt.
Vieles, was man sich heute über Deckin Scarl erzählt, den berühmten König der Gesetzlosen der Shavine-Marschen und Beschützer von Bauern und Bettlern, wie er genannt wird, ist erstunken und erlogen. Mit einer Hand stahl er, mit der anderen gab er , so beschreibt es eine besonders grässliche Ballade. Der tapfere Deckin im Wald sich verbarg, freundlich war er und stark .
Solltet ihr, liebe Leserinnen und Leser, geneigt sein, auch nur ein Wort davon zu glauben, so hätte ich da einen sechsbeinigen Esel, den ich euch gern verkaufen würde. Der Deckin Scarl, den ich kannte, war zweifellos stark. Er war über sechs Fuß groß und muskulös, wenn auch in seinen letzten Lebensjahren sein Bauch etwas an Umfang gewonnen hatte. Freundlich konnte er ebenfalls sein, es kam jedoch selten vor. Im Shavine schaffte man es nicht allein durch Freundlichkeit, an die Spitze der Gesetzlosen aufzusteigen.
In Wahrheit hörte ich Deckin beim Anblick des tapferen Soldaten lediglich knurren: »Tötet den törichten Mistkerl und macht weiter.« Ansonsten schenkte er dem Mann keine Beachtung, den gleich darauf ein Dutzend Pfeile in die Arme der Märtyrer schickten. Mit einer Axt in der Hand kam der König der Gesetzlosen aus dem dunklen Wald gestapft – die hässliche Waffe mit der unförmigen schwarzen Doppelklinge hielt er stets griffbereit. Er blieb kurz stehen, um mein Werk zu begutachten. Seine klugen Augen leuchteten hell unter den dicken Brauen, während er die Leiche des Soldaten musterte und das Pferd, das ich eingefangen hatte. Pferde waren begehrte Beute. Sie erzielten gute Preise, besonders zu Kriegszeiten. Und wenn sie sich nicht verkaufen ließen, war ihr Fleisch im Lager stets willkommen.
Deckin knurrte zufrieden und wandte sich dem einzigen Überlebenden des Angriffs zu – der nicht zufällig verschont geblieben war. »Wenn ein Pfeil auch nur in die Nähe des Boten kommt«, hatte Deckin uns am Morgen gewarnt, »ziehe ich der Hand, die ihn abgeschossen hat, die Haut ab, von den Fingern bis zum Handgelenk.« Es war keine leere Drohung, wir alle hatten ihn schon solche Versprechen einlösen sehen.
Der Bote war ein Mann mit schmalem Gesicht, der ein maßgeschneidertes Wams und Hosen trug und dazu einen langen Umhang in den Farben des Königs. Er saß auf einem grauen Hengst und behielt selbst dann noch den Ausdruck beleidigter Herablassung bei, als Deckin das Zaumzeug seines Pferdes packte. Trotz seiner steifen Arroganz war er klug genug, die Lanze in seiner Hand nicht zu senken. Der königliche Wimpel blieb hochgereckt und flatterte über dem frisch angerichteten Gemetzel im Wind.
»Jede Gefährdung oder Behinderung eines Boten im Dienst der Krone gilt als Hochverrat«, stellte der Bursche mit bemerkenswert ruhiger Stimme fest. Er blinzelte und ließ sich schließlich dazu herab, Deckin mit herrischem Blick zu mustern. »Das solltest du wissen, wer immer du bist.«
»Das weiß ich in der Tat, guter Herr«, erwiderte Deckin und neigte den Kopf. »Und ich glaube, Ihr wisst sehr gut, wer ich bin, oder?«
Der Bote blinzelte erneut und wandte den Blick ab, ohne zu antworten. Ich hatte Deckin schon für geringere Beleidigungen töten sehen, jetzt aber lachte er nur. Er hob die freie Hand und schnippte auffordernd mit den Fingern.
Das Gesicht des Boten versteinerte noch mehr und lief vor Wut und Demütigung rot an. Seine Nasenlöcher blähten sich, und die Lippen zuckten, zweifellos verkniff er sich ein paar unkluge Worte. Dass er sich nicht zweimal bitten ließ, bevor er nach der Lederröhre an seinem Gürtel griff, bewies, dass er den Namen des Mannes vor ihm sehr wohl kannte.
»Lorine!«, bellte Deckin, nahm die Schriftrolle, die der Bote ihm widerstrebend reichte, und hielt sie der schlanken Frau mit den kupferroten Haaren hin, die zu ihm eilte.
In den Worten der Balladendichter ist Lorine D’Ambrille eine berühmte Schönheit – die Tochter eines niederen Adligen, die aus der Burg ihres Vaters floh, um einer arrangierten Ehe mit einem Edelmann von schlechtem Ruf und üblem Gebaren zu entgehen. Über zahllose Umwege und Abenteuer gelangte sie schließlich in den dunklen Wald der Shavine-Marschen, wo der gütige Schurke Deckin Scarl höchstpersönlich sie vor einem Pack hungriger Wölfe rettete. Bald schon erblühte zwischen den beiden eine Liebe, die – zu meinem Verdruss – durch die Jahre widerhallte und immer abstrusere Legenden hervorbrachte.
Soweit ich feststellen konnte, floss in Lorines Adern genauso wenig adliges Blut wie in meinen, obwohl mir immer noch unklar ist, woher sie ihre gewählte Ausdrucksweise und offensichtliche Bildung nahm. Sie blieb mir ein Rätsel, ganz gleich, wie lange ich über sie nachgrübelte. Wie alle Legenden enthielt aber auch ihre ein Körnchen Wahrheit: Schön war sie wirklich. Das jahrelange Leben im Wald hatte ihren glatten und ansehnlichen Zügen nichts anhaben können, und irgendwie gelang es ihr stets, ihr glänzend kupferrotes Haar sauber und frei von Kletten zu halten. Von jugendlicher Lust geplagt, konnte ich nicht anders, als sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzuhimmeln.
Lorine zog den Deckel von der Röhre und nahm die Schriftrolle heraus. Mit leicht gerunzelter sommersprossiger Stirn las sie den Inhalt. Wie immer fasziniert von ihrem Gesicht, entging mir der Ausdruck des Erschreckens nicht, der kurz darüber hinwegglitt. Natürlich verbarg sie es gut. Schließlich war sie es, die mich in der Kunst der Maskerade unterwies, und sie war weitaus geübter darin, gefährliche Gefühlsregungen zu unterdrücken.
»Hast du dir alles gemerkt?«, fragte Deckin.
»Wort für Wort, Liebster«, versicherte Lorine ihm. Ihr Lächeln entblößte weiße Zähne, als sie die Schriftrolle wieder in die Röhre steckte und sie mit dem Deckel verschloss. Wenn ihre Herkunft auch im Dunkeln blieb, so hatte sie gelegentlich Bühnen und Reisen mit einer Theatergruppe in ihrer Kindheit erwähnt, woraus ich schloss, dass sie früher Schauspielerin war. Vielleicht rührte daher auch ihre unheimliche Fähigkeit, sich große Textmengen nach nur kurzem Lesen einzuprägen.
»Wenn ich an Euren guten Willen appellieren darf, Herr«, sagte Deckin zu dem Boten und nahm Lorine die Röhre ab. »Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihr König Tomas noch eine weitere Nachricht überbringt. Von einem König zum anderen. Übermittelt ihm bitte mein tiefstes Bedauern über die unvorhergesehene, wenn auch kurze Verzögerung Eurer Reise.«
Der Bote starrte die Röhre an, die Deckin ihm hinhielt, als wollte ihm jemand einen Scheißhaufen überreichen, nahm sie aber doch entgegen. »Solche Tricks werden dich nicht retten«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Und du bist auch kein König, Deckin Scarl.«
»Ach nein?« Deckin schürzte die Lippen und hob scheinbar überrascht eine Augenbraue. »Ich bin ein Mann, der Armeen kommandiert, seine Grenzen bewacht, Verbrechen bestraft und Steuern eintreibt, die andere ihm schulden. Wenn mich das nicht zu einem König macht, was bin ich dann?«
Der Bote wusste ganz offensichtlich eine Menge Antworten auf diese Frage, war jedoch klug und pflichtbewusst genug, seine Meinung für sich zu behalten.
»Dann wünsche ich Euch noch einen schönen Tag und eine sichere Reise«, sagte Deckin, trat zurück und versetzte dem Pferd des Boten einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil. »Bleibt auf der Straße und haltet nicht vor Nachteinbruch an. Nach Sonnenuntergang kann ich für Eure Sicherheit nicht mehr garantieren.«
Das Pferd des Boten trabte los, und sein Reiter trieb es zum Galopp an. Bald war er auf der zerfurchten Straße nicht mehr zu sehen, sein flatternder rot-goldener Umhang blitzte noch einmal zwischen den Bäumen auf, ehe er um eine Wegbiegung ritt und außer Sicht verschwand.
»Haltet keine Maulaffen feil!«, bellte Deckin und funkelte seine Bande finster an. »Wir haben Beute einzusammeln und vor der Dämmerung noch ein paar Meilen zurückzulegen.«
Seine Leute gingen mit gewohntem Eifer ans Werk; die Bogenschützen beanspruchten die Soldaten für sich, die sie erschossen hatten, während die anderen sich auf den Karren stürzten. Erpicht darauf, mich ihnen anzuschließen, blickte ich mich nach einem Baum um, an dem ich das gestohlene Pferd festbinden konnte, blieb jedoch stehen, als Deckin eine Hand hob.
»Nur ein einziger Stich«, sagte er und nickte zu dem toten Soldaten mit der Peitsche. »Nicht schlecht.«
»Wie du es mir beigebracht hast, Deckin«, sagte ich lächelnd. Das Lächeln verging mir jedoch, als er mir bedeutete, ihm die Zügel des Pferdes zu reichen.
»Für den Suppentopf ist der zu schade«, sagte er und strich mit seiner Pranke über das graue Fell des Tiers. »Er ist noch recht jung. Der kann uns von Nutzen sein. Genau wie du, was, Alwyn?«
Ich stimmte rasch in sein barsches Lachen mit ein. Mir fiel auf, dass Lorine noch in der Nähe stand. Statt mit den anderen die Beute einzusammeln, beobachtete sie mit verschränkten Armen und schief gelegtem Kopf unser Gespräch. Ihr Gesichtsausdruck gab mir zu denken: Der verkniffene Mund wirkte belustigt, ihre schmalen Augen und die gerunzelten Brauen kündeten dagegen von unterdrückter Besorgnis. Mit mir redete Deckin öfter als mit den anderen jungen Männern der Bande, was viele neidisch machte, aber eigentlich nicht Lorine. Heute jedoch schien meine Bevorzugung durch Deckin sie zu beunruhigen, und ich fragte mich, ob es etwas mit dem Inhalt der Schriftrolle zu tun hatte.
»Dann spielen wir mal unser übliches Spiel, wie?«, sagte Deckin und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er nickte zu den Leichen der beiden Soldaten. »Was siehst du?«
Ich trat näher an die Toten heran und musterte sie eingehend, ehe ich antwortete, wobei ich mir Mühe gab, langsam zu sprechen. Ich hatte die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass es Deckin nicht gefiel, wenn ich einfach drauflosredete.
»Getrocknetes Blut an Hosen und Ärmelaufschlägen«, meinte ich. »Ein bis zwei Tage alt, würde ich sagen. Der hier …«, ich deutete auf den Soldaten, dem die Pfeilspitze aus dem Mund ragte, »… hat eine frisch genähte Wunde an der Braue. Und der da …« Mein Finger wanderte zu dem, den ich erstochen hatte. »Sein Schwert weist Kerben und Kratzer auf, die noch nicht weggeschliffen wurden.«
»Was sagt dir das?«, erkundigte sich Deckin.
»Sie waren erst vor Kurzem in einem Kampf.«
»Einem Kampf?« Er hob eine buschige Augenbraue und fragte ruhig: »Bist du sicher, dass es nur das war?«
Sofort überschlugen sich meine Gedanken. Wenn Deckins Stimme sanft klang, bot das stets Anlass zur Sorge. »Eher eine Schlacht«, sagte ich. Ich wusste, dass ich zu schnell sprach, aber es gelang mir nicht, mich zu bremsen. »Etwas, das groß und wichtig genug war, um den König vom Ausgang zu unterrichten. Und da sie bis heute Morgen noch am Leben waren, würde ich schätzen, dass sie gewonnen haben.«
»Was noch?« Deckins Augen verengten sich enttäuscht. Anscheinend hatte ich etwas Offensichtliches übersehen.
»Es waren Cordwainer«, sagte ich, darum bemüht, mich nicht zu verhaspeln. »Die einen Boten des Königs begleiteten. Also waren sie im Auftrag der Krone in den Shavine-Marschen unterwegs.«
»Ja«, sagte er und seufzte leise und verärgert. »Und womit ist die Krone in diesen unruhigen Zeiten am meisten beschäftigt?«
»Der Prätendenten-Krieg.« Ich schluckte und lächelte erleichtert, als der Groschen bei mir fiel. »Das Heer des Königs hat gegen die Horde des Prätendenten gekämpft und gewonnen.«
Deckins Augenbraue sank herab, und er musterte mich schweigend. Sein starrer Blick blieb so lange an mir haften, dass mir zum zweiten Mal an diesem Morgen der Schweiß ausbrach. Dann blinzelte er und ging mit dem Pferd davon. Als Lorine sich ihm anschloss, murmelte er ihr etwas zu. Er sprach leise, aber ich hörte ihn trotzdem, was sicher auch seine Absicht war.
»Die Nachricht?«
Lorines Antwort klang gelassen, und ihr Gesicht verriet keinerlei Regung. »Du hattest wie immer recht, mein Liebster. Der törichte alte Mistkerl hat die Seiten gewechselt.«
Deckin befahl, die Leichen von der Straße zu schaffen und tiefer in den Wald zu bringen, wo Wölfe, Bären oder Füchse schon bald dafür sorgen würden, dass nur noch namenlose Knochen übrig blieben. Der Shavine ist ein hungriger Ort, und Frischfleisch bleibt dort nicht lange unentdeckt, wenn der Wind den Geruch zwischen die Bäume trägt. Natürlich musste ausgerechnet Erchel einen Gegner finden, der noch am Leben war. Erchel war so hungrig wie jedes Raubtier des Waldes, aber sein Hunger war von anderer Natur.
»Der Mistkerl atmet noch!«, rief er freudig überrascht, als der Armbrustschütze, den wir durch die Farne zogen, ein verwirrtes, fragendes Stöhnen ausstieß. Erschrocken ließ ich die Arme des Mannes los, sodass er zu Boden fiel. Er stöhnte noch einmal und hob den Kopf. Trotz der Löcher, die nicht weniger als fünf Pfeile in seinen Körper gerissen hatten, blickte er mit einem Ausdruck zu uns hoch, als wäre er soeben aus einem seltsamen Traum erwacht.
»Was ist passiert, mein Freund?«, erkundigte sich Erchel und ging in die Hocke. Die besorgte Miene, die er dabei aufsetzte, wirkte erstaunlich echt. »Gesetzlose, wie? Meine Kumpels und ich, wir haben dich an der Straße gefunden.« Er schaute grimmig drein, und seine Stimme nahm den rauhen Ton der Verzweiflung an. »Diese Unholde! Die Plage möge sie holen! Keine Sorge …« Er legte dem Armbrustschützen beruhigend eine Hand auf den herabhängenden Kopf. »Wir kümmern uns um dich.«
»Erchel«, warnte ich. Sein Blick fuhr zu mir hoch, seine Augen blitzten verärgert, und sein scharf geschnittenes Gesicht verfinsterte sich. Wir waren etwa im selben Alter, ich war jedoch größer als die meisten Siebzehnjährigen – wenn das denn mein wahres Alter war. Selbst heute noch kann ich nur raten, wie alt ich wirklich bin. So ist das mit Kindern, die in Hurenhäusern zur Welt kommen: Geburtstage sind ein Rätsel und Namen ein Geschenk, das man sich selber macht.
»Wir haben keine Zeit für Spielchen«, sagte ich. Nach dem Töten war ich stets von rastloser Wut erfüllt, und das Gespräch mit Deckin hatte die Sache nicht besser gemacht. Meine Geduld hing am seidenen Faden. In der Bande gab es keine offizielle Hierarchie. Deckin war unser unangefochtener Anführer und Lorine seine rechte Hand, aber darunter änderte sich die Hackordnung ständig. Erchel stand aufgrund seines Verhaltens und seiner selbst für einen Banditen unappetitlichen Gewohnheiten einige Stufen unter mir. Als bissiger Hund, aber auch pragmatischer Feigling machte er für gewöhnlich einen Rückzieher, wenn er mit jemand Ranghöherem aneinandergeriet. Heute jedoch siegte die Aussicht, seinen Neigungen zu frönen, über seinen Pragmatismus.
»Halt die Klappe, Alwyn«, murmelte er und wandte sich wieder dem Armbrustschützen zu, der unglaublicherweise die Kraft gefunden hatte, sich aufzurichten. »Überanstrenge dich nicht, mein Freund«, riet Erchel ihm und griff nach dem Messer an seinem Gürtel. »Leg dich hin. Ruh dich ein wenig aus.«
Ich wusste, wie es weitergehen würde: Erchel flüsterte dem bedauernswerten Mann tröstende Worte zu, um ihm dann flink wie eine Schlange ein Auge auszustechen. Danach folgten weitere sanfte Versprechungen, bevor er ihm das zweite nahm. Das Ganze entwickelte sich immer mehr zu einem Spiel, mit dem Ziel, herauszufinden, wie lange es dauerte, bis der arme Unwissende starb, wobei Erchels Messer immer tiefer stach. Was unter normalen Umständen schwer zu ertragen wäre, war es heute ganz besonders. Außerdem hatte Erchel mich missachtet, was allein schon den Tritt gegen sein Kinn rechtfertigte, den ich ihm jetzt versetzte.
Erchels Zähne knallten aufeinander, und sein Kopf wurde von dem Aufprall nach hinten geschleudert. Der Tritt war so platziert, dass er möglichst schmerzhaft war, ohne ihm den Kiefer auszurenken – wenn er auch meine Zurückhaltung nicht zu schätzen wusste. Er blinzelte erschrocken, dann rötete sich sein schmales Gesicht vor Wut, und er sprang auf. Er fletschte die blutigen Zähne und holte mit dem Messer aus. Mein eigenes Messer glitt blitzschnell aus der Scheide, und ich ging in die Hocke, um seinen Hieb abzuwehren.
Ehrlich gesagt war durchaus nicht klar, wer von uns beiden gewonnen hätte, denn im Messerkampf waren wir ungefähr gleich gut. Wenn ich mir auch einrede, dass meine größere Körpermasse sich zu meinen Gunsten ausgewirkt hätte. Die Frage erübrigte sich jedoch, als Raith die Leiche fallen ließ, die er getragen hatte, und zwischen uns trat, um dem Armbrustschützen sein Messer in den Nacken zu stoßen.
»Zeit verschwenden heißt Leben verschwenden«, sagte er mit seinem seltsam melodischen Akzent. Er richtete sich auf und taxierte uns mit ruhigem, starrem Blick. Mir fiel es nicht leicht, ihm in die Augen zu schauen. Seine leuchtend blauen Pupillen erinnerten mich an die eines Falken. Außerdem war er sehr groß – größer und breitschultriger noch als Deckin und ohne den Bauchansatz. Besonders abschreckend waren die grellroten Flecken, die in zwei diagonalen Streifen über seine hellbraune Gesichtshaut verliefen. Er war der erste Caerither, den ich in meinem Leben gesehen hatte, als ich damals in Deckins Lager ankam. Das Gefühl von Fremdheit und Bedrohlichkeit, das mich bei seinem Anblick überkam, war nie ganz verflogen.
Früher erzählte man sich Geschichten über die Caerither und ihre rätselhaften, geheimen Praktiken. In Albermaine sah man sie nur selten, und denen, die hier lebten, begegneten die Leute mit Furcht und Spott. Sie galten als fremdartig und sonderbar. Mit wachsender Erfahrung erkannten wir, wie dumm es war, sie zu verteufeln, aber das kam erst später. Ich hatte viele haarsträubende Geschichten über die Caerither gehört, ihre merkwürdigen Hexenrituale und das schlimme Schicksal, das Missionare ereilte, die sich über die Berge wagten, um die Heiden zum Bund der Märtyrer zu bekehren. Deshalb wandte ich rasch den Blick ab – im Gegensatz zu Erchel, der zwar durchtrieben, aber nicht sonderlich schlau war und prompt Raiths Aufmerksamkeit erregte.
»Findest du nicht auch, Wiesel?«, murmelte Raith und beugte sich vor. Seine braune Stirn berührte kurz Erchels helle Braue. Der Talisman des Caerithers baumelte zwischen ihnen herab. Zwar handelte es sich bloß um ein einfaches Stück Schnur mit ein paar Bronzeanhängern daran – winzige, fein gearbeitete Figürchen –, dennoch bereitete der Anblick mir Unbehagen. Ich wagte es nie, die Anhänger länger anzuschauen, aber ich hatte gesehen, dass es sich um Darstellungen des Mondes und verschiedener Bäume und Tiere handelte. Einer davon war besonders interessant: der Bronzeschädel eines Vogels, wahrscheinlich einer Krähe. Aus irgendeinem Grund flößten mir die leeren Augenhöhlen des Tiers noch mehr Angst ein als der unnatürlich helle Blick seines Besitzers.
Raith wartete, bis Erchel den Blick senkte und nickte. »Werft ihn dort drüben hin«, sagte der Caerither und deutete auf ein paar Ulmen ein Dutzend Schritt entfernt. Dann wischte er in aller Seelenruhe sein blutiges Messer an Erchels Wams ab. »Du wirst auf dem Rückweg mein Bündel tragen. Und wehe, es kommt etwas weg.«
»Scheiß Caerither«, murmelte Erchel, während wir die Leiche des Armbrustschützen zwischen die Ulmen schleppten. Wie so oft schien er unsere Auseinandersetzung davor schon wieder vergessen zu haben. Wenn ich jetzt, viele Jahre später, über das Schicksal nachdenke, das ihn am Ende ereilte, muss ich eines zugeben: Erchel war zwar ein schrecklicher Mensch, aber er besaß eine Gabe, die ich mir nie zu eigen machen konnte – die Fähigkeit, seinen Groll zu begraben.
»Es heißt, dass sie Bäume und Steine anbeten«, fuhr er fort und gab sich Mühe, leise zu sprechen. »Sie vollziehen alle möglichen heidnischen Rituale im Mondlicht, um sie zum Leben zu erwecken. Von meiner Familie würde sich keiner mit so einem abgeben. Keine Ahnung, was Deckin sich dabei denkt.«
»Vielleicht solltest du ihn mal fragen«, schlug ich vor. »Oder ich kann es für dich tun, wenn du willst.«
Dieses höfliche Angebot hatte den gewünschten Effekt: Erchel schwieg für den Rest des Wegs. Als wir tiefer ins Dickicht vordrangen und uns dem Lager näherten, fand seine nimmermüde Zunge jedoch unweigerlich ein neues Gesprächsthema.
»Was stand da drauf?«, fragte er leise, weil Raith und die anderen nicht weit entfernt waren. »Auf der Schriftrolle?«
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte ich und verlagerte unbehaglich das Gewicht des Beutesacks auf meiner Schulter. Als ich mich der Plünderung angeschlossen hatte, waren die Leichen längst gefleddert, auf dem Karren fanden sich jedoch noch ein halber Mehlsack, ein paar Karotten und – zu meiner großen Freude – ein Paar exzellenter Stiefel, die mir nach ein paar leichten Änderungen perfekt passen würden.
»Deckin redet mit dir. Und Lorine auch.« Erchel stieß mich auffordernd mit dem Ellbogen an. »Was kann da draufgestanden haben, dass er ein solches Risiko eingegangen ist, um das zu lesen?«
Ich dachte an Lorines Erschrecken beim Überfliegen der Schriftrolle und ihre gemischten Gefühle, als sie mein Gespräch mit Deckin beobachtet hatte. Der törichte alte Mistkerl hat die Seiten gewechselt , hatte sie gesagt. Meine Jahre bei der Bande hatten mir ein gutes Gespür dafür verliehen, wann der Wind sich drehte. Und Deckin war stets derjenige, der die Fäden zog. Er ließ sich nur ungern in die Karten schauen. Oft erteilte er Befehle, die uns seltsam oder unsinnig vorkamen, deren wahre Gründe jedoch später offensichtlich wurden. Bislang hatte seine verschwiegene Art der Bande stets zum Vorteil gereicht und uns vor den Soldaten und Sheriffs des Herzogs bewahrt. Der Herzog …
Ich wurde langsamer, und mein Blick schweifte in die Ferne, während mein emsiger Geist einen Gedanken formte, der mir schon früher, auf der Straße, hätte kommen müssen. Die Wachen des Boten waren keine Soldaten des Herzogs der Shavine-Marschen gewesen, sondern Cordwainer, frisch aus einer Schlacht des Prätendenten-Kriegs. Soldaten im Dienst des Königs. Womit sich die Frage stellte: Wenn die Soldaten des Herzogs nicht damit betraut werden konnten, einen Diener der Krone zu eskortieren, auf wessen Seite hatte der Herzog der Shavine-Marschen gekämpft?
»Alwyn?«
Erchels Stimme schärfte meinen Blick, der unweigerlich zu Deckins massiger Gestalt an der Spitze der Marschreihe ging. Inzwischen hatten wir das Lager erreicht, und Deckin winkte die Gesetzlosen fort, die zu unserer Begrüßung erschienen, und stapfte direkt zu der Unterkunft, die er mit Lorine teilte. Mein Instinkt sagte mir, dass keiner der beiden beim gemeinsamen Festmahl am Abend auftauchen würde, mit dem ein erfolgreicher Überfall für gewöhnlich gefeiert wurde. Ich wusste, dass sie viel zu besprechen hatten. Und auch, dass ich lauschen musste.
»Eines wollte ich dir schon lange mal sagen, Erchel«, meinte ich und ging auf meinen eigenen Unterschlupf zu. »Du redest verdammt noch mal zu viel.«