I ch erwachte zu einem Lied – nicht sehr melodisch und in einer Sprache gesungen, die ich nicht kannte, aber dennoch mit großer Begeisterung und Lautstärke geschmettert. Ich blinzelte mit blutverkrusteten Augen und hob den Kopf, prallte jedoch sogleich gegen etwas Hartes, als die Fläche, auf der ich lag, sich abrupt zur Seite neigte. Meine Sicht blieb trübe und körnig, aber der schwankende Untergrund und das Quietschen einer Achse teilten mir immerhin mit, dass ich mich wohl auf einem Karren befand. Der Gestank nach Schweiß und getrockneten Exkrementen ließ außerdem vermuten, dass ich nicht allein war.
»Die schlafende Prinzessin ist also doch nicht tot«, kommentierte eine Stimme, und als ich in die Richtung blickte, sah ich ein bleiches verschwommenes Oval. Die Stimme klang weiblich, und ihr schriller Akzent deutete auf eine Herkunft außerhalb der Marschen hin. Eines der südlichen Herzogtümer , vermutete ich.
»Aber vielleicht schwachsinnig«, fuhr die Stimme fort, während ich noch mit offenem Mund und trübem Blick in ihre Richtung starrte. Das Gesicht kam näher; eine gerunzelte Stirn und kleine forschende Augen tauchten vor mir auf. »Bist du einfältig?«, fragte die Fremde betont langsam. »Kannst du sprechen?«
»Natürlich kann ich sprechen, verflucht nochmal«, murmelte ich trotz meiner Benommenheit verärgert. Ich wollte die Hand heben, um die lästige Fragestellerin wegzustoßen, musste aber feststellen, dass ich mit einer kurzen Kette gefesselt war. Der Eisenring der Fessel schnitt mir ins Handgelenk, und ich stieß ein Zischen aus, als mich ein heftiger Schmerz durchzuckte. Tränen schossen mir in die Augen, wodurch sich zum Glück mein Blick so weit schärfte, dass ich meine Umgebung genauer betrachten konnte.
Meine anfängliche Verwunderung darüber, dass der Himmel in eine Reihe ungleicher Quadrate unterteilt war, wurde zu säuerlichem Verdruss, als ich erkannte, dass ich mich im Inneren eines Käfigs befand. Sein Gitter bestand aus dünnen Eisenstäben, und die Kanten des Kastens waren mit dicken Bolzen gesichert. Mit geübtem Blick begann ich sofort, nach Roststellen zu suchen, fand jedoch nur wenige, was bedeutete, dass sich der Käfig nicht so einfach zerbrechen ließe. Zu beiden Seiten des Karrens, der zu meinem Leidwesen von sechs berittenen Soldaten in mir unbekannten grau-schwarzen Uniformen begleitet wurde, zog Wald vorbei. Einen Moment lang betrachtete ich die Bäume – hauptsächlich hohe Kiefern, die aus einem Teppich gefrorener Farne aufragten. Das war nicht der Shavine, den ich so gut kannte.
Inzwischen war mein Blick etwas klarer, und ich musterte die Frau, die mich bei meinem Erwachen begrüßt hatte, und stellte fest, dass es eher ein junges Mädchen war. Ihr schwarzes Haar stand ihr in verfilzten Zotteln vom Kopf ab und rahmte ein ovales Gesicht ein, das vielleicht hübsch war, was sich aber unter der Maske aus Schmutz nicht erkennen ließ. Ihr Körper war zu mager, um meine Lust anzufachen – wenn ich in diesem Moment überhaupt zu derlei fähig gewesen wäre. Neben ihr entdeckte ich die Quelle des Gestanks, der mir trotz meiner zerschlagenen Nase so unangenehm aufgefallen war – ein riesiger Kerl, so breit wie hoch und vor Schmutz starrend, der dalag und schlief. Doppelkinn und Bauch des Mannes schwabbelten jedes Mal, wenn der Karren über eine Spurrille holperte. Er war in dünne, fadenscheinige Lumpen gehüllt, schien aber bisher, wie an den Dampfwölkchen zu erkennen war, die von seinem schlaffen Mund aufstiegen, die Kälte überlebt zu haben.
»Ich nenne ihn Schlafender Eber«, sagte das Mädchen mit den Haarzotteln in ihrem schrillen Akzent. »Hab mit Stummem Trottel hier gewettet, dass du als Erster aufwachst. Nicht dass er die Wette angenommen hätte.« Sie nickte zu dem vierten Mitfahrer, dessen Anblick mich überrascht in meinen Ketten hochfahren ließ.
»Raith!«
Der Caerither schien meine Begrüßung kaum zu bemerken, seine Aufmerksamkeit war voll und ganz auf die massige Gestalt des Mannes gerichtet, der den Käfig auf Rädern lenkte. Dieser hob den Kopf mit den struppigen Haaren und begann erneut, ein Lied zu schmettern, noch lauter diesmal und ebenso schief. Fremde Worte hallten zwischen den Bäumen wider.
»Das macht er oft.« Das Mädchen verzog das Gesicht und verlagerte das Gewicht, um sich bequemer hinzusetzen. »Aber sag ihm lieber nicht, dass er damit aufhören soll, auch wenn’s verlockend ist. Er hat einen dicken Knüppel, von dem er gerne Gebrauch macht.«
»Raith«, wiederholte ich und lehnte mich vor, um den Caerither mit meinen gefesselten Händen anzutippen. Dieses Mal drehte er sich zu mir um, und ich sah mich einem hohlwangigen Schatten des Mannes gegenüber, den ich kannte. Das Muster der blutroten Male in seinem Gesicht trat auf seiner ungesund wächsern glänzenden Haut umso deutlicher hervor. Er trug ein zerlumptes ärmelloses Wams, und seine einstmals muskulösen Arme wirkten viel dünner.
»Seid ihr alte Freunde?«, erkundigte sich das Mädchen. »Ich hoffe, du redest mehr als er. Der sitzt einfach nur da und starrt den ganzen Tag lang den Kettenmann an. Das bisschen, was sie uns zu essen geben, rührt er nicht an. Ist fast so, als wollte er sterben.«
»Deckin …«, setzte ich an, verstummte jedoch. Offensichtlich wusste Raith schon, was ich sagen wollte, oder es kümmerte ihn nicht. In seinem Blick war lediglich ein Hauch von Vernunft zu erkennen. Aber da er momentan meine einzige Informationsquelle war, konnte ich nicht anders, als nachzuhaken.
»Lorine«, sagte ich. »Hast du gesehen …?«
»Sie hat ihn aufgeschlitzt«, sagte der Caerither monoton. »Von oben bis unten.«
»Wen?« Verwundert starrte ich ihn an. »Wen hat sie aufgeschlitzt?«
Raith fühlte sich jedoch anscheinend nicht verpflichtet, mir zu antworten. Blinzelnd wandte er sich ab und starrte wieder den breiten Rücken des Karrenlenkers an. Mit einem resignierten Seufzer ließ ich mich zurücksinken. Da fiel mir auf, dass Raith zum ersten Mal, seit ich mich entsinnen konnte, nicht seine Kette mit Talismanen um den Hals trug.
»Wie lange ist es her, dass wir Burg Duhbos verlassen haben?«, fragte ich das Mädchen.
Sie musterte mich vorsichtig, aber neugierig, bevor sie antwortete. »Drei Tage, seit sie dich zusammen mit Stummem Trottel und Fettklops hier in den Karren geschmissen haben.« Sie stieß den schlaffen Leib von Schlafender Eber mit dem Zeh an. »Ich dagegen friere mir schon seit drei Wochen in diesem Ding den Arsch ab. Ich dachte schon, ich bekomme gar keine Gesellschaft mehr.«
Sie lächelte freudlos, und ich erhaschte einen Blick auf gelbe Zähne, bevor sie den Mund rasch wieder schloss und mich erneut prüfend ansah. Ich wusste, dass sie eine Gesetzlose war, ohne ein Wort ihrer Geschichte gehört zu haben; sie hatte einfach das Aussehen, diese halb wilde, kaum gebändigte Kraft, die junge Diebe besaßen. Ich zog etwas Befriedigung aus dem Wissen, dass sie wahrscheinlich ebenso dringend aus diesem Käfig hinauswollte wie ich. Wenn man sich von Ketten befreien wollte, machte sich jede Hilfe bezahlt.
»Alwyn«, sagte ich und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe. Ich schenkte ihr ein Lächeln, was ich aber sofort bereute, weil dadurch einige meiner Schnittwunden wieder aufrissen.
»Alwyn, und weiter?«, erkundigte sie sich.
»Schlicht Alwyn.«
»Alwyn der Schlichte, also?«
Sie entblößte wieder grinsend ihre gelben Zähne, und ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
»Als sie dich hier reingeworfen haben, hat jemand Deckin Scarl erwähnt.« Sie senkte die Stimme und sah vorsichtig zu dem in Pelz gehüllten, massigen Leib des vor sich hin summenden Kettenmanns hin. »Stimmt das? Hast du dich mit ihm herumgetrieben?«
Ich überlegte, erneut zu lügen, aber in diesem Moment schien mir das zwecklos. Deckin und die anderen waren alle tot, und Raith und mich, die einzigen Überlebenden unserer legendären Schurkenbande, erwartete höchstens noch ein kurzes Leben in den Erzminen.
»Mit ihm herumgetrieben«, sagte ich. »Mit ihm gestohlen. Hin und wieder auch mit ihm getötet.« Ich wollte die Schultern zucken, aber die Geste führte nur dazu, dass sich meine Kette fester zog. Sie war mit einer massiven Eisenklammer am Karrenboden befestigt, die, ebenso wie die Gitterstäbe, nahezu rostfrei war. Plötzlich wütend trat ich gegen die Klammer und riss kräftig an der Kette, in der vergeblichen Hoffnung, das Holz drum herum könnte splittern.
»Tu das nicht!«, zischte das Mädchen scharf. Ihr Blick ging warnend zu der massigen Gestalt des Kettenmanns. Mir fiel auf, dass der Kerl inzwischen nur noch leise vor sich hin summte. Er legte den Kopf schief, sodass ich einen Blick auf seine rot gefleckte Stirn erhaschte. Die Beunruhigung des Mädchens und mein Gespür für Gefahren ließen mich innehalten. Ich senkte den Kopf und schwieg, bis der Kettenmann sich wieder umdrehte und weiter sein Lied trällerte.
»Wenn er aufhört zu singen«, flüsterte das Mädchen, »dann musst du dir Sorgen machen.«
Definitiv hübsch unter all dem Dreck , entschied ich, nachdem meine Wut nachgelassen und ich ihr Gesicht eingehender betrachtet hatte. Und dazu noch klug . Ich sah die Gerissenheit in ihren Augen. Sich dumm zu stellen, ist für kluge Menschen schwer, und ich hatte den Eindruck, dass dieses Mädchen sich nie die Mühe gemacht hatte, es zu lernen.
»Ich hab dir meinen Namen genannt«, erinnerte ich sie. »Du mir nicht. Das ist unhöflich.«
Sie antwortete nicht sofort, sondern schaute mich nur unverwandt mit ihren klugen Augen an, die eine blassblaue Farbe hatten, wie mir jetzt auffiel. »Toria«, sagte sie schließlich. »Frag nicht, wo ich herkomme oder warum ich in diesem Käfig hocke.« Ein weiteres freudloses Lächeln mit gelben Zähnen. »Das geht dich verdammt nochmal nichts an. Nur so viel, Alwyn der Un-Schlichte: Ich bin keine Hure. Erwarte von mir also nichts außer Gespräche.«
»Der Gedanke wäre mir auch nicht gekommen«, erwiderte ich aufrichtig. Ich beugte die Knie, um näher an sie heranzurücken, und zog eine Grimasse bei dem Versuch, meine steifen Muskeln wieder zum Leben zu erwecken. Ich senkte den Kopf und sprach leise weiter, damit unser singender Wärter mich nicht hörte. »Ich nehme an, Verehrteste, dir gefällt es nicht sonderlich, hier drinnen angekettet zu sein. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass die Erzminen einem langen Leben zuträglich sind.«
»Hübsch gesprochen.« Toria schnaubte verächtlich. »Wie wär’s, wenn du mir einfach sagst, was du verflucht nochmal vorhast?«
»Ich will damit sagen, dass ich nicht vorhabe, in den Minen zu enden, um mich im Laufe der nächsten Jahre zu Tode zu schuften. Zwischen hier und dort wird sich sicher die ein oder andere Chance bieten, diese Ketten loszuwerden. Es wäre leichter, wenn wir zusammenarbeiten.« Ich schaute zu Raith hin und murmelte skeptisch: »Wir drei.«
»Dafür, dass du erst ein paar Minuten wach bist, scheinst du dir unserer Chancen erstaunlich sicher zu sein.«
»Die Zeit ist auf unserer Seite.« Ich versuchte ebenfalls zu lächeln, ließ es aber gleich wieder, weil meine malträtierten Lippen aufsprangen und zu bluten anfingen. Ausspuckend fügte ich hinzu: »Mit der Zeit kommen die Gelegenheiten. Wir müssen nur bereit dafür sein.«
»Soll heißen, du hast keinen Plan, nur eine Absicht.« Sie schüttelte verächtlich und belustigt den Kopf. »Mögen die Märtyrer mich vor ehrgeizigen Männern bewahren, die glauben, das Schicksal würde ihnen immer in die Hände spielen.«
»Ebenfalls hübsch gesprochen. Und was ist an Ehrgeiz falsch?«
»Tja, zunächst mal hat er dich hierhergebracht, oder?«
Ich senkte den Blick und musste erschöpft seufzen. »Nein«, murmelte ich resigniert und rückte von ihr ab. »Das habe ich meiner Sentimentalität und Dummheit zu verdanken.«
Ich legte mich auf die Seite, ballte die Hände zu Fäusten und zog die Knie fest an den Körper, um sie warm zu halten. Ich wusste, es wäre nicht klug einzuschlafen, weil ich möglicherweise nicht mehr erwachen würde, wenn die Kälte zunahm. Aber ich war plötzlich so unfassbar müde, dass ich unmöglich wach bleiben konnte.
»Ey!« Torias schmaler Fuß, der in einem dünnen Lederschuh steckte, trat mir unangenehm hart in den Hintern. »Du solltest nur schlafen, wenn der Karren anhält. Bei Nachteinbruch zündet der Kettenmann ein Feuer an. Wenn du nicht darum bettelst, wirft er dir vielleicht sogar was zu essen rein.«
Ein abweisendes Knurren wollte aus meiner Kehle dringen, ich unterdrückte es jedoch. Die Erwähnung von Essen macht einem Hungrigen stets Hoffnung. Dennoch hatte mich die Müdigkeit fest im Griff und drohte mich in die willkommene Schwärze der Bewusstlosigkeit hinabzuziehen.
»Die Wachen«, flüsterte Toria so drängend, dass ich den Kopf hob.
»Was ist mit ihnen?«
»Sie sind faul. Er nicht.« Sie nickte zum Kettenmann und sah mich dann mit ihren schlauen Augen an. »Er schläft kaum. Aber die Wachen, die uns begleiten, denen geht es, glaub ich, ziemlich am Arsch vorbei, ob der Karren voll oder leer bei den Minen ankommt.«
Nun knurrte ich doch, aber eher belustigt als abweisend. »Anscheinend bist du auch ehrgeizig.«
Sie lachte schnaubend und schaute vorsichtig zum Kettenmann. Dann lehnte sie sich zurück und murmelte leise: »Du hast recht. Die Minen sind keine schöne Aussicht. Ganz und gar nicht.« Als sie sah, dass mein Kopf erneut vor Müdigkeit hinabsinken wollte, trat sie mir ein weiteres Mal in den Hintern. »Nicht schlafen! Warte, bis es Nacht ist. So lange trete ich dir jede Minute in den Arsch, verlass dich drauf. Und nichts zu danken.«
• • •
Die nächsten Tage lieferten hinreichend Belege dafür, dass Torias Beobachtungen stimmten. Die Wachen nahmen es mit ihren Pflichten nicht allzu genau und ritten mit großem Abstand zum Karren, was vermutlich dem Gestank unseres korpulenten schlafenden Weggefährten geschuldet war. Außerdem behielten sie den umliegenden Wald nur halbherzig im Auge und saßen die meiste Zeit mit hängenden Köpfen auf ihren Pferden oder unterhielten sich gelangweilt. Mir fiel auf, dass sie alle schon etwas älter waren. Nach meiner Schätzung war kaum einer von ihnen unter dreißig. Ihre Narben und die wettergegerbten Züge ließen vermuten, dass sie schon einige Feldzüge hinter sich hatten, Rüstungen und Waffen waren jedoch in schlechtem Zustand – offenbar hatten sie schon länger nicht mehr gekämpft.
»Alte, müde Soldaten sind mir die liebsten«, murmelte ich eines Abends an Toria gewandt. »Denen ist das eigene Leben wichtig. In ihrer Jugend haben sie viel riskiert, aber jetzt hat sie der Mut ebenso verlassen wie die Hoffnung auf Ruhm.«
»Und?«, erkundigte sich Toria mit vollen Backen. Sie kaute gerade eine Möhre, die der Kettenmann uns hereingeworfen hatte. Er hockte vor einem großen Feuer, das sich nahe genug am Karren befand, um den Insassen etwas Wärme zu spenden. Um den Feuerschein sehen zu können, mussten wir uns jedoch über Schlafender Eber beugen und seinen Gestank ertragen. Raith hockte nur reglos da, ohne etwas zu essen, egal wie sehr ich ihn dazu drängte. Stattdessen schaute er weiter den Kettenmann an, der seinen starren Blick nicht im Geringsten beachtete.
»Und«, erwiderte ich und nahm einen Bissen von meiner Hälfte der Möhre – ich hatte Möhren nie gemocht, aber jetzt schmeckten sie süßer als Honigkuchen –, »wenn sie vor die Wahl gestellt sind, ihr Leben zu riskieren oder uns laufen zu lassen, werden sie sich höchstwahrscheinlich für Letzteres entscheiden.«
Der Kettenmann war nicht sehr großzügig mit dem Proviant. Er gab uns gerade genug, um uns am Leben zu erhalten, aber nicht so viel, dass wir Kraft hätten sammeln können. Vermutlich blieb Toria nur deswegen einigermaßen am Leben, weil ihr Körper ohnehin wenig Nahrung benötigte. Ich hingegen fühlte mich mit jedem Tag auf dem Karren schwächer, und die Aussicht auf eine Flucht rückte in immer weitere Ferne, wenn ich sie auch noch nicht aufgeben mochte.
»Dafür müssten sie uns als Gefahr ansehen.« Toria runzelte skeptisch die Stirn. »Was nicht sehr wahrscheinlich ist.«
»Die Gefahr muss nicht unbedingt von uns ausgehen.« Ich schaute mich im Wald um, der immer noch hauptsächlich aus Kiefern bestand, die wie hohe namenlose Wachposten in der Dunkelheit aufragten. Außer einem fernen Wolfsheulen und dem nächtlichen Scharren und Kreischen eines Dachses oder Fuchses hatte ich auf unserer Reise bisher kaum etwas gehört. Um uns herum herrschte Wildnis, aber sie war nicht wild genug. »Hast du eine Ahnung, wo genau wir uns befinden?«, fragte ich Toria.
»Genau? Nein. Aber nach meiner Schätzung müssten wir noch fünfzig Meilen von den Minen entfernt sein. Sie befinden sich an der Grenze zwischen den Herzogtümern Alberis, Althiene und den Shavine-Marschen. Deswegen ist es für die Adligen so praktisch, unerwünschte Leute dort loszuwerden.«
Ich aß stumm den Rest meiner Möhre und versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich über die östlichen Regionen der Marschen wusste. Ich war im Herzogtum viel herumgekommen, aber verlassen hatte ich es nie und mich auch kaum weiter als ein paar Meilen von der Sicherheit des Waldes entfernt.
»Der Nehlis-Sumpf«, sagte ich. Mir war ein Gespräch mit Klant wieder eingefallen, einem alten Soldaten, der sich mit seinem Hauptmann überworfen hatte und in Deckins Bande gelandet war. »Dort gab’s mal eine Schlacht, am Anfang der Herzog-Kriege. Eine Menge Leute sind ertrunken, wegen ihrer Rüstungen und so. Er zieht sich ein paar Meilen weit am Westufer des Siltern hin. Ich schätze mal, wenn man zu den Erzminen will, muss man entweder drum herum oder ihn durchqueren.«
»Wir fliehen also in den Sumpf, und diese faulen Arschlöcher hier haben zu viel Schiss, um uns zu folgen.« Torias Augen, die im Feuerschein hell und aufmerksam glänzten, richteten sich auf die massige Gestalt des Kettenmanns. »Bei denen mag das klappen, aber nicht bei ihm . Wenn es uns überhaupt gelingt, diese Ketten loszuwerden und aus dem Käfig rauszukommen.«
Ich musterte ebenfalls den Kettenmann. Wie üblich hatte er uns den Rücken zugekehrt und summte leise vor sich hin. Die Soldaten setzten sich nie zu ihm ans Feuer, sondern schlugen stets ein paar Meter entfernt ihr Lager auf. Außerdem hatte ich sie während der gesamten Reise noch kein einziges Wort mit dem Mann wechseln hören. Das gemeine Volk ging Leuten seiner Zunft für gewöhnlich aus dem Weg, aber mir war bisher nicht klar gewesen, dass auch Soldaten sie verachteten. Mir fiel auf, wie die Männer seinem Blick auswichen. Sie schienen ihn regelrecht zu fürchten. Bislang hatte ich nur wenige Blicke auf das Gesicht des Kettenmanns erhaschen können, am deutlichsten stachen jedoch die roten Flecken auf seiner blassen, nahezu weißen Haut hervor. Ob er wohl an irgendeiner Krankheit litt? Aber er wirkte sonst recht gesund, und an Essen mangelte es ihm eindeutig nicht, so knausrig, wie er mit unseren Rationen war. Außerdem sprach er nie, sang lediglich seine unverständlichen Lieder. Offenbar war er also nicht völlig stumm – ein Widerspruch, über den ich lange nachgrübelte.
Ich fragte Toria, ob sie irgendeine Ahnung hatte, welche Sprache er benutzte. Sie warf dem Kettenmann einen argwöhnischen Blick zu, bevor sie leise antwortete: »Caerithisch.«
»Er ist Caerither?«, fragte ich überrascht und handelte mir einen wütenden Blick von ihr ein, weil ich versehentlich zu laut gesprochen hatte. Ich schaute zu Raith hin, und zum ersten Mal fiel mir auf, wie ähnlich die Male in seinem Gesicht denen des Kettenmanns waren. Bis dahin hatte ich angenommen, alle Caerither hätten dieselbe Hautfarbe, weil sie alle aus derselben Region jenseits der südlichen Berge stammten. Auch klangen die Lieder, die der Kettenmann sang, in meinen Ohren ganz anders als die melodiösen Worte, die ich Raith hatte sprechen hören.
Die Erkenntnis, dass ich von einem Landsmann Raiths gefangen gehalten wurde, hätte beinahe ein Lächeln auf meine geschundenen Lippen gezaubert. Wie war dieser Heide wohl dazu gekommen, Kettenmann im Königreich Albermaine zu werden? Er war eindeutig ein interessanter Kerl, aber die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass interessante Menschen gefährlich sein konnten. Und selbst damals schon, als unreifer Jungspund, spürte ich die Gefahr, die von diesem Mann ausging.
»Unsere Chance wird kommen«, beharrte ich, mehr an mich selbst gewandt. »Es gibt immer eine. Vielleicht nur kurz – eine flüchtige Gelegenheit, so schnell vorbei, dass wir sie gar nicht bemerken. Also halt die Augen offen …« Ich verstummte, als der Kettenmann abrupt zu summen aufhörte. Er legte den Kopf schief, genau wie nach meinem ersten Erwachen im Karren. Ich war mir sicher, dass wir so leise gesprochen hatten, dass er uns nicht hören konnte, dennoch wirkte das schmale Lächeln, das auf seine Züge trat, bevor er sich abwandte und weitersummte, wissend.
»Alwyn …«, flüsterte Toria beunruhigt, verstummte jedoch, als ich ihr einen warnenden Blick zuwarf.
»Warte auf die Chance«, zischte ich ihr zu. »Sie wird kommen. Verlass dich drauf.«
• • •
Am nächsten Morgen erwachte ich jäh vom Quietschen der Käfigtür, die aufgerissen wurde. Die Luft war noch kälter als sonst, und ich nahm zitternd den Anblick der Landschaft draußen in mich auf. Die Umgebung hatte sich verändert, an die Stelle der Bäume war ein nebelverhangenes, mit Gräsern bewachsenes flaches Moorgebiet getreten. Nur ein paar hundert Schritt von der Straße entfernt begann der Sumpf, den kein vernünftiger Mensch in einer Rüstung betreten würde, ein verzweifelter Gesetzloser hingegen schon.
Die offene Käfigtür ließ mein Herz schneller schlagen, die ersehnte Aussicht auf eine Flucht schien näher gerückt. Meine Aufregung legte sich jedoch gleich wieder, als mir einfiel, dass ich ja immer noch gefesselt war. Toria lag neben Schlafender Eber, und in ihrem Gesicht zuckte es, vermutlich würde sie gleich aufwachen. Raith dagegen fehlte. Außerdem war das Lied des Kettenmanns verstummt.
»Caihr teasla?«
Mein Blick zuckte zu den beiden Gestalten außerhalb des Käfigs. Der Kettenmann stand vor dem knienden Raith. Einen Mann, den ich jahrelang gefürchtet hatte, so eingeschüchtert zu sehen, war ein merkwürdiges Gefühl. Er hatte den Kopf gesenkt, wie ein Kind, das jeden Moment damit rechnet, von einem wütenden Vater verprügelt zu werden. Seine Miene war ebenso starr wie sonst, und die Augen waren aufgerissen, die harten Züge des Kettenmanns hingegen spiegelten Verachtung. Zum ersten Mal konnte ich sein Gesicht ganz sehen. Die roten Male auf seiner bleichen Haut waren zahlreicher als die seines Landsmanns. Sie verliefen von der Stirn bis zum Nacken und erinnerten an lodernde Flammen. Sein Alter ließ sich schwer schätzen – Augen und Mund waren von Falten umgeben, aber in der schwarzen Haarmähne zeigte sich keine Spur von Grau.
Der Wärter beugte sich näher an Raith heran und schüttelte etwas leise rasselnd neben dem Ohr des Gesetzlosen: Raiths Kette mit Talismanen. »Caihr teasla?« , wiederholte der Kettenmann mit einem Hauch von Hohn. Was immer die Frage bedeutete – die Antwort darauf kannte er offenbar bereits.
Er richtete sich auf und sprach eine ganze Menge Worte in der fremden Sprache, so schnell, dass ich sie nicht auseinanderhalten konnte. Raith hingegen verstand sie eindeutig, denn sein Ausdruck veränderte sich. Er schloss die Augen, holte tief und zittrig Luft und hob das Gesicht zum Kettenmann. Als er die Augen öffnete, leuchtete Trotz darin, und er presste mit zusammengebissenen Zähnen ein paar Worte hervor.
»Ihs Doenlisch kurihm ihsa gaelihr . «
Die Verachtung des Kettenmanns schlug plötzlich in Wut um, wenn auch zuvor ein Anflug von Furcht in seiner Miene aufleuchtete. Seine Faust traf kraftvoll Raiths Wange. Unter der Wucht des Schlags brachen Knochen, der Gesetzlose schwankte und sackte in sich zusammen. Er hustete Blut. Der Kettenmann stellte seine Füße zu beiden Seiten von Raiths Kopf auf und beugte sich tief hinunter, um in derselben fremden Sprache eine Frage zu stellen.
»Vearath?«
Raith lag zitternd am Boden und spuckte ein paar Zähne aus. Dann holte er einige Male rasselnd Luft und stemmte sich ein Stück hoch.
»Vearath?!« , schrie der Kettenmann.
Anstatt sich ihm zuzuwenden, reckte Raith den Hals und schaute mich an. Von dem stummen verängstigten Mann fehlte jetzt jede Spur, und er war wieder ganz der Raith, den ich kannte. Sein Blick wirkte selbstsicher und ruhig.
»Auf welchem Pfad man auch wandelt …«, krächzte er, und Blut tröpfelte an seinem Kinn hinunter. »Dem Schicksal entgeht man nicht …«
Der Kettenmann knurrte wütend und packte mit beiden Händen Raiths Kopf. Die Adern an Händen und Handgelenken des Kettenmanns traten deutlich hervor, als er erbarmungslos zudrückte. Ich hatte viele Menschen auf die unterschiedlichsten Weisen sterben sehen, aber noch niemals so. Ich schloss die Augen, noch bevor es vorbei war, aber das feuchte Knirschen von Raiths Schädel, der unter der Kraft des Kettenmanns nachgab, sandte dennoch eine Welle der Übelkeit durch meinen Körper. Wäre etwas in meinem Magen gewesen, so hätte ich es mit Sicherheit erbrochen.
»Verfluchte Scheiße.« Als ich die Augen öffnete, sah ich, wie Toria den Anblick jenseits der Gitterstäbe fasziniert in sich aufnahm. »Das hat er bisher noch nie gemacht.«
Ich zwang mich zuzusehen, wie der Kettenmann Raiths Leichnam in das Sumpfgras am Straßenrand schleppte und den Toten mit leisem Platschen ins Moor warf. Nachdem er wiederaufgetaucht war, blieb er noch kurz am Straßenrand stehen und betrachtete mit grimmiger Miene die Kette mit den Talismanen in seiner Hand. Er hielt sie hoch und musterte prüfend die Bronzeanhänger. Am längsten blieb sein Blick an dem Krähenschädel haften, wenn seine Miene auch kaum Interesse verriet. Verächtlich schnaubend warf er die Kette in den Sumpf zu ihrem ermordeten Besitzer.
Als er zum Karren zurückstapfte und die Tür schloss, murmelte er barsch in der fremden Sprache: »Ishlichen . « Es klang wie eine Beleidigung oder ein Fluch, und die Miene des Kettenmanns blieb finster, während er zur Vorderseite des Karrens ging und wieder auf dem Kutschbock Platz nahm. Leider hielt seine missmutige Stimmung ihn nicht davon ab, erneut seine Lieder anzustimmen. Er ließ die Zügel schnalzen, um die Kutsche in Gang zu setzen, und sein Gesang klang dabei lauter und schiefer denn je.