W ie ihr bemerkt haben mögt, liebe Leser und Leserinnen, sind mir Gefängnisse nur allzu vertraut. Dabei machte ich immer wieder die Erfahrung, dass das Eingesperrtsein, und sei das Gefängnis noch so angenehm, einem über kurz oder lang unerträglich wird. Vier Jahre harter Arbeit hatte es gebraucht, um den Strapazen der Minen zu entkommen, doch nach nur drei Monaten in den Mauern von Callintor begann mein Geist, sich erneut nach Freiheit zu sehnen.
Aber warum?, mögt ihr euch fragen. Hatte ich nicht Essen und Unterkunft? Waren meine Tage nicht mit nutzbringender, sinnvoller Arbeit erfüllt? Lernte ich nicht eine ganze Menge von den anderen Schreibern des Skriptoriums? All diese Fragen kann ich eindeutig mit Ja beantworten, und doch wünschte ich mir bereits bei Anbruch des Festtages von Märtyrerin Ahlianna, Callintor endlich verlassen zu können, und das beinahe ebenso inbrünstig, wie ich einst danach gestrebt hatte, mich aus den Minen hinauszugraben. Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten und auch nicht schwierig in Worte zu fassen, wenn ich auch glaube, dass Toria den Nagel am besten auf den Kopf traf.
»Mir ist so scheiß langweilig!«
Mit einem dumpfen Knall bohrte sich ihr Messer in den Deckenbalken unserer Unterkunft. Das Holz splitterte, als sie das Messer herauszog und zur gegenüberliegenden Wand ging. Ihre ständigen Wurfübungen hatten an dem Balken schon deutliche Spuren hinterlassen. Natürlich waren Waffen innerhalb der Stadt nicht erlaubt, aber Toria war es gelungen, bei ihrer Arbeit auf dem Hof des Metzgers ein Messer mitgehen zu lassen. Es war eine kleine, spitze Klinge, die sie stets gut schärfte und die sich augenscheinlich hervorragend als Wurfmesser eignete. Das weitgehend unmöblierte Untergeschoss unseres Hauses bot ihr jede Menge Platz zum Üben.
Die Geräumigkeit unseres Zuhauses war einer der angenehmen Aspekte dieser neuen Form der Gefangenschaft. Im Vergleich zu den Hütten im Dorf meiner Kindheit war das Haus, das wir mit Brauer bewohnten, geradezu luxuriös. Jeder von uns hatte ein eigenes Zimmer im Obergeschoss, und Toria brachte abends des Öfteren ein Stück Fleisch mit nach Hause, das wir über dem großen Kamin brieten. Brauer hatte eine Anstellung im Obstgarten gefunden, weshalb der Kamin oft mit süß duftendem Apfelholz befeuert wurde und wir unser Abendessen mit ein, zwei Bechern Apfelwein hinunterspülen konnten. Stärkere Spirituosen waren in Callintor streng verboten, aber Apfelwein und Bier erlaubte man – solange sich niemand allzu sehr betrank –, weil das Wassertrinken häufig zu Durchfall führte.
Torias Messer donnerte erneut in den Balken, und ich widerstand dem Drang, ihr einen verärgerten Blick zuzuwerfen. Obwohl ich jeden Tag mindestens zehn Stunden mit Schreiben verbrachte, fand ich nach meiner Rückkehr aus dem Skriptorium stets die Muße, ein paar Zeilen von Sihldas ursprünglichem Testament zu entschlüsseln. Auf ihre Anweisung hin hatte ich den Text damals in einem Code verfasst, für dessen Erlernen ich ein Jahr gebraucht hatte. Es war ein komplexer Code mit doppelter Verschlüsselung, der ebenso gute Kenntnis der Zahlen wie der Buchstaben erforderte. Der Schlüssel war nur Sihlda und mir bekannt, Uneingeweihten erschien der Bericht hingegen wie ein Faksimile in Alt-Danehrisch, der Sprache des Heiligen Landes, die vor tausend Jahren gesprochen wurde. Als solcher wäre er nur für die fachkundigsten Gelehrten lesbar, und selbst die hätten ihn für pures Kauderwelsch gehalten.
Ich war versucht, mich nicht weiter damit zu befassen und damit dem Risiko einer Entdeckung durch die Wächter vorzubeugen. Die frommen Raufbolde besaßen für gewöhnlich mehr Muskeln als Verstand, und ihre Lieblingsbeschäftigung war es, wahllos Häuser zu durchsuchen, in der Hoffnung, auf Beweise zu stoßen, die einen Rauswurf rechtfertigten. Die Liste verbotener Dinge, wegen derer ein Unglücklicher vor die Tür gesetzt werden konnte, war lang, wobei vieles davon jeglichen Sinns entbehrte. Letzten Monat erst war eine alte Frau aus der Stadt geworfen worden, die einst hingerichtet werden sollte, weil sie ihren gewalttätigen Ehemann umgebracht hatte, und gut zehn Jahre lang dem Galgen entronnen war. Ihr jüngstes Vergehen bestand lediglich darin, einen Wandteppich zu knüpfen, der Märtyrerin Melliah mit halb entblößter Brust zeigte.
So eifrig, wie die Wächter Missetäter verfolgten, fragte ich mich, ob sie vielleicht eine Kopfprämie für jeden Unglücklichen bekamen, dessen Rauswurf sie erwirkten. Doch obwohl mein ganzes Denken davon beherrscht wurde, diesen Ort zu verlassen, war mir die Vorstellung unerträglich, mir könnte etwas zustoßen und Sihldas wertvolle Worte könnten für immer verloren sein.
»Erzähl mir nicht, dass du dich nicht auch langweilst.« Torias Messer knallte ein weiteres Mal in den Balken. »Du hasst diesen Ort. Das merke ich. Du bist kein so guter Schauspieler, wie du denkst.«
»Doch, bin ich.« Ich hielt den Blick weiter auf das Testament gerichtet. »Du verstehst dich nur besser darauf, Lügen zu erkennen, als die meisten Leute.«
Ein Seufzen, dann das Kratzen eines Schemels auf dem heubedeckten Boden, als sie am Tisch Platz nahm. Ihre Stimme klang jetzt ernst und eindringlich. »Ich hab’s satt, um den heißen Brei herumzureden. Wann gehen wir?«
»Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
»Wenn du hiermit fertig bist, meinst du.« Toria legte den Kopf schief, um die Worte zu betrachten, die ich auf das Velin geschrieben hatte, das ich aus dem Lager des Skriptoriums hatte mitgehen lassen. »Was steht da überhaupt so Wichtiges drin?«
Ich machte mir nicht die Mühe, die entschlüsselten Worte vor ihr zu verbergen. Obwohl Sihlda es mehrfach angeboten hatte, war Toria nie bereit gewesen, sich die Buchstaben beibringen zu lassen. »Die Formel, wie man Metall in Gold verwandelt«, murmelte ich.
»Ach Quatsch.« Sie schnaufte verärgert und stützte das Kinn auf. »Sie ist tot, und trotzdem seid ihr, du und dieser törichte Bär von einem Mann, immer noch ihre Sklaven.«
»Jeder von uns hat eine Schuld zu begleichen. Ich dachte, du kennst dich mit solchen Dingen aus.«
»Ich weiß nur, dass ich verrückt werde, wenn ich noch eine Woche hierbleiben muss.«
»Wenn dich vier Jahre in den Minen nicht umgebracht haben, wirst du ein paar mehr Monate hier auch überleben.«
»Es ist nicht mein Körper, um den ich mir Sorgen mache.« Sie senkte die Stimme. »Sondern meine Seele. Dieser Ort beschmutzt sie.«
Das reichte, um mich innehalten zu lassen. Sie redete nicht oft über den Glauben des Südens, und ich kannte keine Einzelheiten. Ich hatte den Eindruck, es handelte sich lediglich um geringfügige Abweichungen zur orthodoxen Lehre. Aber nur weil sie selten über ihre Überzeugungen sprach, bedeutete das nicht, dass sie sie aufgegeben hatte. Ganz im Gegenteil: Der Missmut, den ich in ihrer finsteren Miene sah, deutete darauf hin, dass sie sich genauso inbrünstig daran klammerte wie Brauer an seine.
»Inwiefern?«, fragte ich, und sie verlagerte unbehaglich das Gewicht.
»Die Gebete«, murmelte sie.
»Bei euch wird nicht gebetet?«
»Jedenfalls nicht so. Zu Hause versammeln wir uns, um die Märtyrer zu ehren, aber dort darf jeder für sich selber beten. Geistliche, die auswendig gelernte Schriften brabbeln, so was gibt’s bei uns nicht. Im Süden besitzen die Geistlichen nur einen Rang. Sie sind bescheidene Betbrüder und -schwestern, die eine Verbindung zu den Seraphilen herstellen und sie nicht etwa behindern. Sie sind keine Torhüter, die sich für die Erlösung bezahlen lassen.«
Sie war ungewöhnlich laut geworden, und ich legte ihr rasch einen Finger auf die Lippen und schaute besorgt zum geschlossenen Fenster hin. Es gab nur wenige Missetaten, die mit größerer Sicherheit zum Rauswurf führten als Ketzerei. Stirnrunzelnd wandte sie sich ab und verschränkte fest die Arme. In solchen Momenten fragte ich mich, ob sie womöglich doch jünger war, als sie behauptete, so sehr erinnerte sie mich an ein trotziges Kind.
»Wir brauchten einen Plan, um aus den Minen zu entkommen.« Ich mahnte mich innerlich zur Geduld. »Und wenn wir Callintor verlassen wollen, brauchen wir genauso einen.«
»Ich habe einen: Wir gehen durchs Tor und sind frei.«
»Nein. Sobald wir durchs Tor gehen, läuft irgendein Mistkerl, der auf eine Belohnung aus ist, zu Eldurm und berichtet ihm davon. Was glaubst du, wie weit wir es dann wohl schaffen?«
»Couravel ist weniger als hundert Meilen von hier entfernt. Das sind fünf oder sechs Tagesreisen, höchstens sieben, wenn wir uns beeilen. Sogar noch weniger, wenn wir uns ein paar Pferde besorgen können. Dort kann man leicht untertauchen.«
»Und, wie ich hörte, vielleicht auch nie wieder auftauchen. Außerdem, seit wann kannst du reiten? Ich kann es jedenfalls nicht.«
Sie verzog ärgerlich das Gesicht. »Dann gehen wir eben zur Küste, suchen uns ein Schiff. Es gibt noch andere Königreiche.«
»Auf Schiffen braucht man Münzen, um für die Überfahrt zu bezahlen. Du hast nicht zufällig welche?«
»Hier muss es irgendwo ein geheimes Versteck geben. Die Geistlichen des Nordens haben immer Geld, egal, wie sehr sie beteuern, arm zu sein.«
Ich stutzte – ihre Worte waren nicht ganz von der Hand zu weisen und ließen die Anfänge eines Plans in mir aufkeimen. Ich hatte über verschiedene Möglichkeiten nachgedacht, wie wir uns aus der Falle der heiligen Stadt befreien könnten, und der Mangel an Münzen war dabei stets das größte Hindernis gewesen. »Darüber lohnt es sich tatsächlich, mal nachzudenken«, gab ich zu. »Im Schrein von Märtyrer Callin gibt es jede Menge verschlossener Türen. Wozu eine Tür abschließen, wenn nicht, um etwas Wertvolles dahinter zu verbergen?«
Ihr Mund verzog sich zu einem schmalen Grinsen, und sie boxte mich gegen die Schulter. »Und ich hab mir schon Sorgen gemacht, diese Mistkerle hätten dir deine Seele geraubt …«
Sie verstummte, als jemand lautstark gegen die klapprigen Bretter der Eingangstür hämmerte. Die Schreine hatten zwar massive Türen mit Schlössern, die Häuser der Zufluchtsuchenden dagegen nicht, vermutlich damit die Wächter sie besser eintreten konnten.
»Versteck das«, zischte ich Toria zu und nickte zu dem Messer, das noch im Balken steckte, während ich Tinte und Pergament einsammelte. »Hast du sonst noch was?«
Sie schüttelte den Kopf, zog das Messer heraus und hob die Steinplatte an, unter der wir unsere verbotenen Dinge versteckten. »Ich wollte bei Smythes ein bisschen Fleisch gegen Pfeifenkraut eintauschen«, flüsterte sie. »Zum Glück hab ich’s nicht getan.«
Ich wartete, bis sie die Steinplatte wieder an ihren Platz gelegt und etwas Heu darüber verteilt hatte, bevor ich die Tür aufmachte. Statt des erwarteten Trios schwarz gekleideter Männer erblickte ich jedoch nur ein schmales feuchtes Gesicht mit geweiteten Augen, das unserem Nachbarn Nucklin gehörte. Er war ein nervöser Kerl, der zum Schwitzen neigte, weshalb er stets einen penetrant ranzigen Geruch verströmte. Jeder kluge Mensch weiß zwar, dass ein gesunder Körpergeruch schlimme Krankheiten abwehrt, mit seinem Gestank schoss Nucklin jedoch etwas übers Ziel hinaus. Seine Gesellschaft war deshalb kaum für längere Zeit zu ertragen, dafür hatte er das Haus neben unserem ganz für sich allein. Vermutlich war es vor allem Einsamkeit, die ihn so oft bei uns klopfen ließ, dass es schon lästig war. Die kurzen hungrigen Blicke, die er Toria zuwarf, zeugten außerdem noch von einem anderen Interesse, das allerdings entschieden unerwidert blieb.
»Was willst du, Stinker?« Toria verzog wie üblich verächtlich den Mund.
Nucklin, der vor ihrem barschen Ton zurückschreckte, wandte sich mir zu. »Euer Bruder predigt wieder«, sagte er. Sein alundianischer Akzent mit den breiten Vokalen und weichen Zischlauten tat mir in den Ohren weh.
Um seine Avancen abzuwehren, hatte Toria ihm erzählt, Brauer und ich seien ihre Brüder, und wir besäßen einen aggressiven Beschützerinstinkt. Es sagte viel über die geistigen Fähigkeiten des Mannes aus, dass er ihr das abgekauft hatte, obwohl wir einander nicht im Geringsten ähnlich sahen. Dessen ungeachtet fand er trotzdem immer wieder eine Entschuldigung, um an unserer Tür zu klopfen, wobei er zumindest heute einen guten Grund dafür hatte.
»Wo?« Ich seufzte ärgerlich.
»Drüben beim Friedhof. Die Wächter haben sich bereits versammelt, als ich losgelaufen bin, um euch Bescheid zu sagen.«
»Danke.« Ich zwang mich zu einem Lächeln und widerstand dem Drang, ihm auf die Schulter zu klopfen. »Bleib du hier«, wies ich Toria an, die mir hinausfolgen wollte. Es würde gewiss Streit geben, und Torias aufbrausende Art war nicht dazu geeignet, eine angespannte Situation zu entschärfen.
Ich marschierte zügig los, durch Rennen hätte ich nur ungewollte Aufmerksamkeit erregt. Hinter mir stotterte Nucklin an Toria gewandt: »I-ich hab heute einen Krug frischen Tee bekommen. F-falls du welchen willst …«
Als ich um die Ecke bog, hörte ich noch die Haustür zuschlagen, dann eilte ich auch schon durch ein paar schmale Gassen auf den Friedhof zu. Ich kürzte etwas ab, indem ich mich über eine Mauer schwang und einen Schweinestall durchquerte. Ich musste dem Angriff eines aufgebrachten Ebers ausweichen, bevor ich über eine weitere Mauer kletterte und an der Westecke des Friedhofs herauskam. Brauers hochgewachsene Gestalt war unschwer zu entdecken. Er stand auf einer Kiste nahe beim Tor und hielt seine Predigt vor einem halben Dutzend Stadtbewohnern und etwa ebenso vielen Wächtern. Die Stadtbewohner schienen seine Worte zu verwirren oder zu belustigen, die Wächter dagegen merklich weniger.
»Es empfiehlt sich, die Schriftrollen auswendig zu lernen«, verkündete Brauer, als ich näher kam und dabei vorsichtige Blicke auf die ernsten Mienen der Wächter warf. Brauer sprach mit lauter, aber monotoner Stimme. Sein Rücken war gebeugt und sein Gesicht rot angelaufen. Seine Worte klangen gepresst. Dass einem Mann, der keine Angst vor körperlichen Gefahren zu kennen schien, das Sprechen in der Öffentlichkeit derart schwerfiel, kam mir seltsam vor. Und doch stand er hier und stellte sich seinen Ängsten, wie Sihlda es uns gelehrt hatte, und das, obwohl seine Zuhörer nur Gleichgültigkeit und Spott zeigten.
»Aber nicht, sie herzubeten, ohne sie wirklich zu kennen«, fuhr er nach kurzem Räuspern fort. Die Schweißperlen auf seiner Haut funkelten in der Spätnachmittagssonne. »Die Schriftrollen sind keine Beschwörungsformeln. Keine Gebete an die Seraphilen, so wie die Oden, die die Heiden des Nordens für ihre falschen Götter brabbeln. Schriften einfach bloß nachzusprechen, ist sinnlos. Um wahrhaft ein Teil des Bundes zu werden, muss man ihre Bedeutung kennen; man muss sie selbst lesen.«
»Verflucht«, murmelte ich. Mehrere der Wächter hatten bei Brauers letzten Worten aufgehorcht. Und auch in der kleinen Gruppe der Schaulustigen schien überraschenderweise jemand zugehört zu haben.
»Lügner!« Eine magere Frau fortgeschrittenen Alters trat vor und schüttelte ihre knochige Faust. Ihrer schmächtigen Gestalt zum Trotz besaß sie eine schneidende Stimme. »Das ist die Lehre des Südens!«
»Nein, Schwester.« Brauer setzte eine Miene auf, die wohl Sihldas Offenherzigkeit nachahmen sollte, mit der sie so viele Menschen in ihren Bann gezogen hatte. Bei ihm erinnerte es jedoch eher an eine lüsterne Grimasse. »Diese Lehre ist für jedermann. Alle sollten die Schriftrollen lesen, nicht bloß die Adligen. Oder die Geistlichen …«
»Und was ist mit denen von uns, die nicht lesen können?«, unterbrach ihn die Alte. »Was sollen wir machen?«
»Es lernen natürlich.« Brauer zog ein spöttisches Gesicht, als führte er ein Streitgespräch, anstatt zu predigen. Sihlda hatte nie gestritten, sondern stets nur überzeugt. »Lasst euch nicht länger von eurer Unwissenheit einschränken …«
»Wen nennst du hier unwissend?«, schrie ein anderer Zuhörer, ein kräftiger Kerl, der in der Schmiede arbeitete. Zu meinem Entsetzen hatte der Klang erhobener Stimmen inzwischen noch mehr Leute angelockt. Aus dem Grüppchen verwirrter Schaulustiger war bereits eine größere Menge geworden, und eine wütende noch dazu.
»Die Betbrüder und -schwestern lehren mich, was in den Schriftrollen steht, und ich bin dankbar dafür«, fuhr der Arbeiter hitzig fort. Sein kurzer Seitenblick zu den Wächtern ließ mich allerdings an der Aufrichtigkeit seiner Empörung zweifeln. In Callintor zahlte es sich stets aus, sich bei der orthodoxen Obrigkeit beliebt zu machen.
»So wie ein Bettler dankbar ist für die Reste, die man ihm zuwirft?« Brauers Wut machte seine Stimme eindringlicher. »Bist du ein Gläubiger oder ein Sklave?«
»Ketzer!«, schrie die alte Frau. Ein Ruf, der – wie ich schon oft erlebt hatte – von einer Menschenmenge meist recht schnell aufgegriffen wird. »Durch Ketzerei wird die zweite große Plage über uns hereinbrechen!«
Der darauffolgende Chor aus anklagenden Schreien war laut und wütend genug, dass die Wächter nun doch eingriffen. Während sie sich durch die Menge drängten, eilte ich auf Brauer zu, der vergeblich versuchte, sich über das zornige Gebrüll der Gläubigen hinweg Gehör zu verschaffen.
»Hast du jetzt genug?« Ich trat in sein Sichtfeld und warf einen Blick über die Schulter zu den rasch näher kommenden Wächtern.
Mein Anblick brachte Brauer wieder zu Verstand. Seine Schultern sackten herab, und aus Eifer wurde Betroffenheit. Allerdings machte er keine Anstalten, von der Kiste herunterzusteigen.
»Jetzt komm schon.« Ich packte ihn am Ärmel. »Wir müssen hier weg.«
»Du, Zufluchtsuchender!« Der Wächter an der Spitze deutete herrisch auf Brauer, während er und seine Gefährten die Gaffer beiseiteschoben. »Wer hat dir erlaubt zu predigen?«
Als ich das trotzige Funkeln in Brauers Auge sah, drehte ich mich zu den Wächtern um und versuchte, sie zu beschwichtigen. »In Callintor gibt es keine Vorschrift, die es verbieten würde zu predigen.«
Ich zog etwas Hoffnung daraus, dass der Wächter an der Spitze ein Diener im Schrein von Märtyrer Callin war, wenn er auch mein Gesicht erst genauer betrachten musste, um sich daran zu erinnern, dass wir uns kannten. »Aber gegen Ketzerei gibt es durchaus Vorschriften«, knurrte er. »Ein Schreiber müsste das eigentlich wissen.«
»Tu ich auch. Und ich weiß außerdem, dass mein Bruder nichts gesagt hat, was gegen die Vorschriften verstößt. Er predigt nur das, was Aszendentin Sihlda, die Aszendent Hilbert persönlich zu den Erlösten zählt, uns gelehrt hat.«
In den vergangenen Wochen hatte Hilbert sich in seinen Predigten des Öfteren bei Sihldas Testament bedient, wobei er sie nicht immer als Quelle angab. Dass er sie inzwischen so oft zitierte und seine Predigten zugleich stetig an Beliebtheit gewannen, erinnerte mich an einen Lieblingsspruch Deckins: Nur ein Narr riskiert seinen Hals, um etwas Wertloses zu stehlen .
Die Erwähnung von Hilberts Namen zeigte mehr Wirkung als der Sihldas – der Wächter verstummte, und seine Kameraden zögerten. Glücklicherweise hatte ihr Einschreiten die Menge so weit besänftigt, dass die meisten Leuten jetzt nur noch neugierig zusahen, statt wutentbrannt zu schreien. Das Leben in Callintor bot nur wenig Abwechslung.
»Er ist dein Bruder, ja?« Der Wächter schaute zweifelnd zwischen Brauer und mir hin und her.
»Mein Bruder im Glauben.« Ich drehte mich um und nickte Brauer auffordernd zu. Ich unterdrückte ein erleichtertes Seufzen, als er ohne weitere Widerrede von der Kiste stieg.
»Dann solltest du ihn dringend an die Grundsätze des Glaubens erinnern«, sagte der Wächter. »Gehorsam gegenüber dem Bund ist die wichtigste Tugend, wenn man die Gunst der Seraphilen erringen will.«
»Ganz recht«, stimmte ich aufgeräumt zu, packte Brauer am Arm und zog ihn hinter mir her, bevor er sich über die Worte des Wächters aufregen konnte. Zum Glück schien die Niederlage seine Streitlust zu dämpfen, zumindest im Augenblick. Er ließ sich von mir zur Hauptstraße führen und drehte sich nicht einmal um, als der Wächter uns noch ein paar Worte hinterherrief.
»Leg ihm lieber einen Maulkorb an«, schrie der Mann, und die sich zerstreuende Menge lachte. »Nicht jeder Hund taugt zum Bellen.«
Auf dem Weg nach Hause schwieg Brauer größtenteils. Er hielt den Kopf gesenkt, und seine finstere Miene wirkte niedergeschlagen und verwirrt.
»Wenn du das noch einmal machst, überlass ich dich den Wächtern«, sagte ich, worauf er nur leicht mit den Schultern zuckte. »Ich meine es ernst«, fügte ich hinzu. »Lass dich ruhig rauswerfen, wenn du willst. Aber wir sind noch nicht bereit zu gehen.«
Brauer schien mich kaum zu hören und antwortete nicht. Nach ein paar Schritten murmelte er: »Ihre Worte. Ihre Weisheiten. Warum wollen die Leute sie nicht hören?«
»Weil nicht sie es ist, die zu ihnen spricht«, sagte ich etwas sanfter und versuchte, Sihldas beschwichtigenden Tonfall nachzuahmen. »Es waren nicht bloß ihre Worte, sondern auch ihre Stimme. Es ging um …« Ich verstummte, weil ich Sihldas Gabe, die Herzen ihrer Zuhörer zu gewinnen, nicht recht beschreiben konnte. »Um sie. Und sie ist fort. Jetzt sind bloß noch wir übrig.«
»Sie ist eine Märtyrerin.« In Brauers Stimme schwang ein wenig seiner früheren Inbrunst mit. »Und sollte als solche anerkannt werden.«
»Das wird sie auch.« Ich legte mehr Zuversicht in meine Worte, als ich tatsächlich empfand, aber auf Ungewissheit sprach Brauer nicht so gut an. »Eines Tages. Wir haben hier den Samen dafür gelegt. Mit der Zeit wird er wachsen. Aszendent Hilbert erwähnt ihre Weisheiten inzwischen in fast jeder Predigt.«
Bei der Erwähnung des Aszendenten, der gern geistigen Diebstahl betrieb, huschte Verärgerung über Brauers Gesicht. »So als wären es seine eigenen«, murmelte er gekränkt.
»Es bleiben ihre Worte aus ihrem Testament. Wir können es bezeugen. Es liegt an uns, ihre Geschichte am Leben zu erhalten. Aber das können wir nicht, wenn wir zurück in die Erzminen geschleppt werden, wo Eldurm uns aufknüpfen wird.«
Ich war mit meiner Standpauke noch bei Weitem nicht zu Ende, verstummte jedoch abrupt, als wir die Straßenecke umrundeten, an der die Hauptstraße auf den Torweg traf. Unter dem hölzernen Torbogen von Callintor drängte sich eine Gruppe Neuankömmlinge, die in der Stadt Zuflucht suchten. Es waren etwa ein Dutzend – im Normalfall ungewöhnlich viele, in den letzten Wochen war das jedoch häufiger vorgekommen. Die Gerüchte besagten, dass der Prätendent erneut eine Armee aufgestellt hatte, die groß genug war, um die mittleren Herzogtümer zu bedrohen, worauf König Tomas unweigerlich ebenfalls ein Heer ausheben musste, um der Gefahr zu begegnen. Wenn derart viele Soldaten durchs Land marschierten, spülte das für gewöhnlich die Gesetzlosen aus ihren Verstecken wie Kaninchen, die vor einem Frettchen flohen.
Es war jedoch nicht nur die Größe der Gruppe, die mich abrupt stehen bleiben ließ; es war der Anblick eines Mannes unter ihnen. Sie sahen alle gleichermaßen heruntergekommen aus, mit zerrissenen, fadenscheinigen Kleidern und meist nackten Füßen. Drei Frauen und neun Männer, von denen einer meinen Blick gefangen hatte wie eine zuschnappende Bärenfalle. Er war größer als die anderen, aber so dünn wie eh und je. Wangen und Augen waren vor Hunger hohl und wirkten dennoch gefährlich raubtierhaft, wenn man für solche Dinge einen Blick besaß.
Brauer knurrte verwirrt, als ich rasch in die schattige Gasse zwischen der Bäckerei und dem Kerzenmacher trat. Ich war mir ziemlich sicher, dass der großgewachsene Neuankömmling mich nicht gesehen hatte, wollte aber lieber nichts riskieren. Sein Anblick hatte ein hässliches Feuer in mir entfacht, gegen das alles andere sofort verblasste.
»Was ist los?«, fragte Brauer.
»Die neuen Leute am Tor«, murmelte ich an die Mauer der Bäckerei gedrückt. »Schau hin und sag mir, wie viele von ihnen hereingelassen werden.«
Brauer runzelte argwöhnisch die schweren Brauen, tat mir jedoch den Gefallen und beobachtete einen Moment lang das Geschehen am Tor. »Zwei der Männer wurden recht schnell abgewiesen«, teilte er mir mit. »Ziemlich grobschlächtige Typen, wie zu erwarten, und dumm noch dazu. Die konnten wahrscheinlich beide zusammengenommen nicht eine Zeile heiligen Text zitieren.« Er schaute weiter zu. »Die Übrigen bringen sie weg, zum Schrein von Märtyrer Athil. Letzte Woche hab ich gehört, wie sich der Aszendent dort beklagt hat, dass ihm auf dem Steckrübenfeld Arbeiter fehlen.«
»Was ist mit dem Großen?«, fragte ich. »So ein schlaksiger Kerl, der aussieht, als wüsste er sich zu verteidigen.«
»Den haben sie reingelassen.« Brauer sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Ein Freund von dir?«
Ich antwortete nicht. In Gedanken wälzte ich alle möglichen Überlegungen, während ich vorsichtig um die Ecke spähte. Die Gruppe war so gut wie außer Sichtweite, deshalb trat ich aus den Schatten und wollte ihnen folgen, aber Brauer versperrte mir den Weg. »Müssen wir uns wegen dem Kerl Sorgen machen?« Sein Tonfall stellte klar, dass er eine Antwort erwartete.
»Er gehörte zu Deckins Bande«, sagte ich. »Und hat ein paar Dinge gesehen, von denen die Geistlichen besser nichts erfahren sollten.«
Brauers Stirnfalte vertiefte sich. »Das ist keine Besorgnis, die ich bei dir sehe.« Er legte prüfend den Kopf schief und trat näher heran. »So hast du immer geguckt, wenn uns harte Arbeit bevorstand.«
In den Minen war »harte Arbeit« ein beschönigender Ausdruck dafür gewesen, wenn ein Insasse uns Ärger machte und wenig später mysteriöserweise auf dem Leichenhaufen am Tor landete. Wir hatten es aus Rücksicht auf Sihlda so genannt, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass sie genau wusste, was wir damit meinten.
»Bei Ketzerei droht uns der Rauswurf«, sagte Brauer. »Aber bei Mord knüpfen sie uns auf.«
»Toria und ich hatten heute eine Idee, wie wir hier rauskommen könnten.« Ich beschloss, eine kleine List anzuwenden. »Mit vollen Taschen, die uns in alle Ecken dieses Landes bringen können. Orte, an denen die Worte von Märtyrerin Sihlda auf empfänglichere Ohren treffen. Aber es wird nicht klappen, wenn ich ständig auf der Hut sein muss.«
Brauer atmete ein wenig auf, besänftigt von der Aussicht darauf, fruchtbaren Boden für Sihldas Lehren zu finden. »Wenn es sein muss, dann kann ich es tun«, sagte er. Seine Seele mochte durch die lange Bekanntschaft mit einer neuen Märtyrerin geläutert worden sein, im Herzen blieb er jedoch stets ein Gesetzloser. Außerdem fanden sich in den Schriftrollen viele Hinweise darauf, dass Töten zu einem guten Zweck gerechtfertigt war, und konnte es einen besseren Zweck geben als unseren?
»Ich will dir ja nicht zu nahe treten.« Ich schob mich an ihm vorbei. »Aber was harte Arbeit betrifft, bist du nicht grad leise und unauffällig. Wir sehen uns im Haus.«
Ich eilte davon, bevor er widersprechen konnte, und lief in Richtung des Südviertels, wo inmitten von Feldern der Schrein von Märtyrer Athil lag. Jeder Schrein in Callintor trug seinen Teil zur Stadtversorgung bei. Im Schrein von Märtyrer Callin befand sich die Verwaltung, weil dieser Schrein als einziger ein Skriptorium besaß. Dem Schrein von Märtyrerin Melliah unterstanden die Werkstätten von Zimmerleuten, Töpfern und Schmieden. Die Zufluchtsuchenden, die dem Schrein von Märtyrer Ihlander zugeteilt wurden, kümmerten sich um die Schweinepferche und Hühnerställe. Und alle, die töricht genug waren, dem Beispiel von Märtyrer Athil folgen zu wollen, hatten monatelange Knochenarbeit auf den Feldern vor sich.
Callintor war kein Ort, an dem man dem Müßiggang frönen durfte, deswegen lief ich mit zielstrebigem Schritt, damit bei den patrouillierenden Wächtern keine Fragen aufkamen. In der Nähe der Felder zu bleiben, war nicht ganz leicht, aber glücklicherweise entdeckte ich ein wild wucherndes Brombeergestrüpp, in dem ich mich verstecken konnte. Unter dem protestierenden Zwitschern eines darin nistenden Goldzeisigs kauerte ich mich nieder und wartete, wobei ich den Hintereingang des Schreins im Blick behielt. Es dauerte quälend lange, bis die Neuankömmlinge wieder auftauchten. Mit Hacken und Spaten bewaffnet wurden sie von einem Betbruder des Tempels zu ihrem ersten Arbeitstag angetrieben. Die großgewachsene hohlwangige Gestalt stach unter den anderen hervor, und als sie näher kam, begann mein Herz heftig zu pochen, denn es wurde immer deutlicher, dass mich mein erster Eindruck nicht getrogen hatte.
Es war eher die Art, wie der Kerl sich bewegte, als sein Gesicht, die mir Gewissheit verschaffte: die hängenden Schultern, das ständige Umhergleiten seines Blicks, der vor allem bei den jüngeren Arbeiterinnen verweilte. Eine davon starrte er besonders lange an – ein geschmeidiges, stets fröhliches, wenn auch etwas einfältiges Mädchen, das von allen die Lustige Ayin genannt wurde –, woraus ich schloss, dass sich seine Neigungen mit zunehmendem Alter noch verschlimmert hatten.
Der Gedanke brachte mich überraschenderweise zum Lächeln. Irgendwie hatte ich die vor mir liegende Aufgabe doch seltsam bedauerlich gefunden. Schließlich waren wir zusammen aufgewachsen. Und was hatte ich außer meinen endlosen Grübeleien schon für Beweise, dass er wirklich an Deckins Tod beteiligt gewesen war? Doch als ich jetzt das dunkle Verlangen in seinem Blick sah, schwanden meine Skrupel, und mit grimmiger Vorfreude flüsterte ich eine Begrüßung, die er nicht hören konnte: »Hallo, Erchel.«