W ilhum, der ein weitaus besserer Reiter war als ich, hatte schon bald einen so großen Vorsprung, dass ich keine Hoffnung mehr hatte, ihn noch einzuholen, bevor er auf seinen Gegner traf. Dennoch ritt ich weiter, dem Geräusch der trommelnden Hufen hinterher, während er in Galopp überging, wann immer der Wald sich etwas lichtete. Ich ließ Karnic einfach seinen Willen. Mit seinem Jagdinstinkt fand er stets die beste Route zwischen den Bäumen, um seinem Stallgefährten zu folgen. Ich wusste, es war töricht, mich einem Drang zu ergeben, den ich früher niedergerungen hätte. Sollte er fliehen, dann lass ihn gehen . Hier war er also und ritt von mir weg, allerdings auf einer Strafexpedition, die uns beide wahrscheinlich über kurz oder lang das Leben kosten würde. Wenn ich umkehrte, würde ich dann nicht einfach einen Befehl befolgen?
Ich habe oft darüber nachgedacht, warum ich in diesem Moment nicht auf die Stimme der Vernunft hörte. Für gewöhnlich schreibe ich es dem unerklärlichen Gefühl von Vertrautheit, Gewohnheit und gegenseitiger Abhängigkeit zu, das Soldaten miteinander verbindet. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass ich Wilhum Dornmahl – seiner adligen Überheblichkeit und seinem beneidenswerten Charme zum Trotz – mochte und ihn nicht sterben sehen wollte. Sentimentalität ist stets das tödlichste Gift.
Als jedoch aus einer Meile zwei und dann drei wurden, verwandelte sich das nagende Gefühl von Bedrohung, das mich seit dem Betreten des Waldes verfolgt hatte, in eine knochentiefe Gewissheit des bevorstehenden Verhängnisses. Warum sollte ich nicht darauf vertrauen? War es nicht Furcht gewesen, die mich so lange am Leben erhalten hatte?
Als sich mir schließlich schon vor lauter Angst der Magen umdrehte und ich würgen musste, zog ich an Karnics Zügeln und brachte ihn zum Stehen. Er schnaubte und stampfte unwillig mit den Hufen auf, weil er weiter seinen Gefährten suchen wollte, aber ich ließ ihn nicht.
»Sei still, du!«, fauchte ich und zog seinen Kopf nach Westen her-um. Wieder ein lautes Schnauben. Siebzig , beschloss ich. Es waren mindestens siebzig, Feldherrin. Riesige blonde Wilde. Und jeder hatte einen frisch abgehackten Kopf auf seinem Schwert aufgespießt …
Das Glück entschied jedoch just in diesem Augenblick, mich zu verlassen, denn durch die Bäume hallte nun das laute Wiehern eines verletzten Pferdes herüber. Karnic vergaß jeden Gehorsam, wirbelte herum und ging eigenmächtig in den Galopp über. Ich konnte nur wüste Flüche ausstoßen und mich mit aller Macht festhalten, während er vorwärtspreschte. Ich duckte mich unter Ästen hindurch, die mir die Kopfhaut zerkratzten, und ein paarmal wäre ich um ein Haar aus dem Sattel gefallen, als der Hengst einige dicke Baumstämme umrundete, ohne dabei das Tempo zu drosseln. Der wilde Ritt jagte mir so große Furcht ein, dass ich schon drauf und dran war, meinen Dolch zu ziehen und ihn dem Tier in den Hals zu stoßen, wenn es nicht bald anhielt.
In einer Wolke aufwirbelnder Kiefernnadeln und Blätter brachen wir zwischen den Bäumen hervor, um von dichtem schwarzen Rauch umhüllt zu werden. Hustend blinzelte ich mit brennenden Augen. Karnic trug mich durch den Rauch, bis plötzlich der Wind drehte und Sonnenlicht aufleuchtete. Mit tränenden Augen konnte ich kurz die Szenerie vor mir erkennen. Der Rauch stammte von einem hohen Stapel brennender Holzscheite und stieg in einer dichten Säule zum Himmel auf. An dieser Stelle fiel der felsige Untergrund zu einer steilen Klippe ab, hinter der sich das blaue Meer erstreckte.
Ich erhaschte einen Blick auf Wilhum, der auf der anderen Seite des Feuers rasend schnell sein Langschwert schwang, umringt von – wie mir schien – nicht weniger als sechs bewaffneten Angreifern. Sie waren alle gleichermaßen wuchtig und in eine Mischung aus Fellen, Leder und Rüstungsteilen gekleidet. Ein paar trugen Stahlhelme, aber die Köpfe der meisten waren unbedeckt, und ihre Zöpfe peitschten beim Kämpfen hin und her.
Wilhums Jagdpferd war zu Boden gegangen. Die Beine des Hengstes strampelten in der Luft, und ihm stand roter Schaum vor dem Maul. Aus einer tiefen Wunde an seiner Flanke strömte Blut. Ich sah auch einige in Fell gehüllte Gestalten am Boden liegen. Anscheinend war es Wilhum gelungen, den unglückseligen Wollhändler zumindest teilweise zu rächen, bevor ihn gleich selbst der Tod ereilen würde.
Noch beunruhigender war allerdings die Erkenntnis, dass Karnic weiter auf die Klippe zugaloppierte, ohne Anstalten zu machen, langsamer zu werden. Als wir uns bereits der Kante näherten, sprang vor uns eine Gestalt mit schussbereitem Bogen hinter einem Felsbrocken hervor. Der Mann hatte eigentlich auf Wilhum gezielt, als er aber Karnics Hufe trommeln hörte, hatte er den Pfeil sofort auf uns gerichtet. Seine Flinkheit rettete ihn nicht; Karnic trampelte ihn nieder, ohne innezuhalten. Der Pfeil ging daneben, und die Rufe des Schützen endeten in einem kurzen Aufschrei, begleitet vom Krachen brechender Knochen.
Karnic, dem die Gefahr nun offenbar endlich bewusst wurde, bäumte sich auf. Er schlidderte über den Boden und prallte so heftig gegen einen großen Felsbrocken, dass ich aus dem Sattel geschleudert wurde. Ich landete auf der Seite, zum Glück auf weicher Erde statt auf Felsgestein. Außer dem Messer an meinem Gürtel und den Armbrustbolzen in meinen Stiefeln hatte ich keine Waffen bei mir. Nicht gerade die beste Ausgangslage für einen Kampf. Als ich in der Nähe einen Ruf hörte, widerstand ich dem Drang hochzukommen, sondern blieb liegen und stieß ein schmerzerfülltes Stöhnen aus. Ich täuschte vor, verletzt zu sein, bis ich durch die halb geschlossenen Lider vor mir ein Paar Stiefel sah. Ich zog mein Messer aus dem Gürtel.
Zum Glück bestanden die Stiefel des Kerls vor mir aus weichem Leder. Die Klinge schnitt ohne Weiteres in die Fußgelenke des Besitzers. Der stieß einen Laut aus, der wie eine Mischung aus Kreischen und Brüllen klang. Ich rollte mich herum, und sein Schwert hackte in die Erde statt in meinen Hals. Was ich als Nächstes tat, verdankte ich ebenso langer Übung wie meinem Verbrecherinstinkt. Wilhum war ein Meister des Langschwerts, ich dagegen hatte schon seit meiner Kindheit Leute mit dem Messer getötet.
Ich zog die Beine an den Körper, schnellte hoch und stürzte mich auf den Schwertkämpfer. Ich schlang ihm einen Arm um den Hals und zerrte ihn in einer ungelenken Pirouette herum. Dann täuschte ich einen Stich auf seine Augen an, worauf er abwehrend den Ellbogen hob, und rammte ihm die Klinge stattdessen unter dem Arm tief in einen Spalt zwischen Fellen und Leder. Gleichzeitig riss ich ihn zu Boden. Ich spürte, wie heißes Blut über meine Messerhand strömte. Der Kerl war aber recht zäh, er brüllte und strampelte weiter, obwohl er soeben eine zweifellos tödliche Wunde erlitten hatte, und versuchte, das Schwert in die andere Hand zu wechseln. Ich richtete mich auf und hieb ihm meine Stirn gegen die Nase. Das betäubte ihn nur kurz, es reichte jedoch, um mein Messer herauszuziehen und es ihm in die Kehle zu stechen.
Ich griff nach dem Schwert in seiner schlaffen Hand, ließ es jedoch schnell wieder los, als hinter mir erneut Schritte ertönten. Ein weiterer Schwertkämpfer hatte sich aus dem Gefecht mit Wilhum gelöst, um sich leichtere Beute zu suchen. Dieser hier trug einen massiven Eisenhelm und in der Hand einen Eichenschild. Hinter ihm sah ich Wilhum weiter in den Kampf gegen seine Angreifer verstrickt. Inzwischen waren es bloß noch drei. Anscheinend war der Mord an dem Wollhändler mit einem weiteren Leben gerächt worden. Allerdings sah ich, dass Wilhum langsam müde wurde.
Der Schrei des Schwertkämpfers mit dem Schild riss mich aus meinen Gedanken. Die Miene des Mannes war wütend und herausfordernd, und bevor ich kehrtmachte und in die andere Richtung davonlief, konnte ich noch die verschlungenen blauen Tätowierungen unter seinem Bart erkennen. Ich sehe es als meine Pflicht an, liebe Leserinnen und Leser, euch zu berichten, dass ich, wäre Karnic mir nicht just in diesem Moment in den Weg gestolpert, mit großer Wahrscheinlichkeit in den Wald geflohen wäre. Doch genau das tat er, und so geriet die am Sattelknauf hängende Armbrust von Feldwebel Swain in meine Reichweite.
Ich riss sie ab, duckte mich, rollte mich unter Karnic hindurch und sprintete vorwärts. Hinter mir hörte ich das Wiehern des Pferdes und das Schreien des Kriegers mit dem Schild, der versuchte, sich vor dem Hengst in Sicherheit zu bringen. Ich rannte zum größten Felsbrocken in der Nähe, sprang hinauf und stellte einen Fuß in den Steigbügel der Armbrust. Ich musste mich zwingen, nicht hochzuschauen, während ich die Sehne einrasten ließ, einen Bolzen aus dem Stiefel zog und ihn in die Rille im Griff einlegte. Dann hob ich die Armbrust und schoss, ohne innezuhalten.
Mein Verfolger hatte die unkluge Entscheidung getroffen hochzuspringen, um mir sein Schwert in die Brust zu hacken, und dabei seinen Schild gesenkt. So konnte der Bolzen sich ungehindert in seine Wange bohren, direkt links des Eisenstegs, der seine Nase bedeckte. Die Steigbügelarmbrust besaß zwar nicht dieselbe Durchschlagskraft wie eine mit Kurbel, auf so geringe Distanz durchdrang der Bolzen aber dennoch mühelos Muskeln und Knochen und bohrte sich ins Gehirn des Kriegers. Der Mann mit dem Schild war tot, noch bevor er auf dem Boden aufkam.
Ich verlor keine Zeit und lud die Armbrust nach, legte den zweiten Bolzen ein und richtete sie auf die drei Krieger, die Wilhum angriffen. Alle Gedanken an Flucht waren verflogen, wie so oft, wenn der Kampf erst begonnen hat, die Vernunft ausgeschaltet ist und man nur noch den Drang verspürt, dem Gegner Schaden zuzufügen.
Mein Instinkt ließ mich auf den Größten der drei zielen – ein Bär von einem Mann mit einer Axt, der zwar einen Helm trug, dessen Beine aber ungeschützt waren. Als sich der Bolzen in die Rückseite eines Oberschenkels bohrte, stolperte er rückwärts. Wilhum machte sich die Ablenkung sogleich zunutze, sprang vor und stach dem Kerl sein Schwert in den Hals. Er ließ das Schwert stecken, packte den noch zuckenden Krieger an der Schulter und drehte ihn herum, um den Angriff eines der anderen Krieger abzuwehren. Er schleuderte den Sterbenden hin und her und benutzte ihn als Schild, um weitere Attacken zu vereiteln.
Ich rannte zu Karnic in der Hoffnung, den Köcher holen zu können, der Hengst war jedoch immer noch in aufsässiger Stimmung. Wilhums Reittier hatte inzwischen den Todeskampf verloren, und Karnics Herdeninstinkt schien ebenso gestorben zu sein. Als ich in seine Nähe kam, drehte er sich herum, sodass ich an den Köcher nicht heranreichte, dafür geriet aber der Griff meines Langschwerts kurz in meine Reichweite. Ich packte den Sattelknauf und zog die Klinge aus der Scheide, bevor Karnic wieder wegtänzelte und mit angstvoll geweiteten Augen davonstürmte.
»Verfluchter Feigling«, murmelte ich, riss das Schwert hoch und rannte zu den drei kämpfenden Männern. Wilhum hielt immer noch den halb toten Gegner als Schild vor sich, und die beiden übrigen Angreifer versuchten ständig, ihn von der Seite zu attackieren. Allerdings sah ich, dass der ehemalige Adlige inzwischen am Ende seiner Kräfte war. Die beiden Krieger schienen das ebenfalls bemerkt zu haben. Sie brachen ihre Angriffe ab und zogen sich ein Stück zurück. Der eine ging im Halbkreis nach links, der andere nach rechts. Sobald Wilhum ihren aufgespießten Gefährten zu Boden fallen ließe, wäre sein Ende schnell besiegelt.
Die geübte Leichtigkeit, mit der beide Männer ihre Schwerter schwangen, ließ mich einsehen, dass es meine noch recht dürftigen Schwertkünste überfordern würde, mich ihnen direkt im Kampf zu stellen. Stattdessen eilte ich zu dem Krieger, den ich erschossen hatte, und hob seinen Schild auf. Es war ein schweres Ding aus Eichenbrettern, die mit einem rot-blauen Muster verziert waren, das sich spiralförmig um den Eisenbuckel in der Mitte wand. Ich war jedoch von der Hitze des Kampfes so angestachelt, dass ich sein Gewicht kaum spürte, als ich mir die Riemen über den Unterarm schob.
Ich wählte den Angreifer rechts von Wilhum, der nur seine schwächer werdende Beute im Blick hatte. Gebückt rannte ich auf den Kerl zu und hielt den Schild dabei so, dass er mich von der Nase bis zur Leiste bedeckte. Den herausfordernden Schrei, der mir über die Lippen kommen wollte, unterdrückte ich. Vielleicht lag es daran oder an schierem Glück, jedenfalls drehte sich der Krieger erst um, als ich ihn schon fast erreicht hatte. Er schlug nach meinem Kopf, aber ich duckte mich rechtzeitig, und die Klinge rasierte nur ein paar Splitter vom Schild ab, bevor der Buckel den Mann in die Brust traf.
Er wurde ein paar Schritt zurückgestoßen und musste das Gewicht verlagern, um nicht zu stürzen, der Aufprall machte ihn jedoch schwerfällig. Zwar gelang es ihm, meinen Schwertstoß auf seinen Bauch zu parieren, aber nicht, den Schwung der Klinge ganz abzufangen, sodass diese an seiner abglitt und tief in seine Hüfte hackte. Mit einem verärgerten Schmerzensschrei ging er zu Boden und knurrte, als ich zu ihm trat, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Bevor ich jedoch zustechen konnte, zwang mich sein Gefährte mit über dem Kopf geschwungenen Schwert, mich ein weiteres Mal zu ducken. Ich fing den Hieb mit dem Schild ab und antwortete mit einem Gegenschlag, der aber kaum Wirkung zeigte. Der Kerl wich dem Bogen meiner Klinge geschickt aus und holte seinerseits zum nächsten Hieb aus. In seiner finsteren Miene spiegelte sich Mordlust. Sein Schlag kam allerdings nicht mehr an, denn just in diesem Moment säbelte ihm Wilhums Langschwert die Schädeldecke mit den goldenen Haaren ab.
Ein menschliches Gehirn auf diese Weise freigelegt zu sehen, ist ein merkwürdig faszinierender Anblick. Wie gebannt starrte ich auf das glänzende halb zermatschte rosafarbene Organ, während der Krieger sich aufgrund irgendeines seltsamen Mechanismus seines sterbenden Körpers noch eine Weile an sein Leben klammerte und weiter umherwankte. Er brabbelte ein paar Worte, die aber vermutlich nicht einmal in seiner eigenen Sprache einen Sinn ergaben. Als er schließlich doch zu Boden stürzte, verließ mich abrupt alle Kraft, und eine tiefe, übelkeitserregende Erschöpfung durchströmte mich. Ich stützte mich auf mein Schwert und sog mühsam die Luft ein.
Der Verwundete warf sich auf dem Boden nach vorn und stach mit dem Schwert nach meinen Beinen, es war aber nur noch eine schwache Geste. Offenbar hatte ich mit meinem Hieb eine wichtige Ader getroffen, denn ein dicker Strom roten Blutes floss seine Beine hinab. Seine Augen waren glühende Kohlen des Hasses in seinem rasch bleicher werdenden Gesicht. Er fletschte die weißen Zähne und stieß in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte, etwas aus, das wie ein Fluch klang.
»›Gottloser Hurensohn‹«, übersetzte Wilhum für mich. Er hatte sein Langschwert auf die Schulter gelegt und betrachtete den verletzten Krieger mit grimmigem Stirnrunzeln. Der Rote Falke war noch immer nicht vergeben und vergessen. »Denke ich jedenfalls«, fügte er hinzu. »Mein Ascarlianisch ist etwas eingerostet.«
»Ich kann nicht behaupten, dass er damit falschliegt.« Ich hob mein Gesicht zum Himmel, und der Meereswind küsste kühl mein verschwitztes Gesicht.
»Ich muss zugeben, du hast mich überrascht, Scribe.« Wilhum klang nachdenklich, aber auch dankbar. »Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich dich schon auf halbem Weg zurück nach Olversahl wähnte.«
Jede spöttische Erwiderung, die ich hätte geben können, war vergessen, als der verwundete Ascarlianer plötzlich zu singen anfing. In meinen Ohren klang es recht schief, jedoch vermutlich nicht für ihn, vielleicht war er aber auch einfach ein schlechter Sänger. Er legte beim Singen den Kopf in den Nacken und rief die Worte in den Himmel. Anfangs war seine Stimme noch kräftig, sie wurde jedoch bald schwächer und sein Gesicht immer blasser.
»Was war das?«, fragte ich Wilhum, nachdem das Lied verstummt war. Der Ascarlianer sank auf den Rücken, seine Brust hob und senkte sich schnell, während sein Körper das Unvermeidliche noch hinauszuzögern suchte.
»Sein Todesgesang.« Wilhum betrachtete den sterbenden Krieger mit schief gelegtem Kopf. »Er hat Ulthnir, den Vater der Altvar, gebeten, ihn als Krieger in Empfang zu nehmen, der in der Schlacht gefallen ist, und seinem Schatten Einlass in die Hallen von Aevnir zu gewähren, wo Festmahl und Kampf niemals enden.«
Der Ascarlianer tat zitternd seinen letzten Atemzug. Sein Körper zuckte noch eine Weile und lag dann still. »Ich würde das Festmahl dem Kampf vorziehen«, knurrte ich.
»Das ist ein und dasselbe.«
Wilhum reagierte als Erster auf die neue Stimme und wirbelte mit kampfbereit erhobenem Langschwert herum. Ich war immer noch derart erschöpft, dass ich nicht so schnell nachkam. Mit verzerrter Miene hob ich den plötzlich schweren Schild und legte mein Langschwert auf dem Rand ab.
Dass die Ascarlianer ein groß gewachsenes Volk waren, hatte ich bereits bemerkt, der Mann, der jetzt ein Dutzend Schritt von uns entfernt stand, war jedoch noch weit beeindruckender als diejenigen, die wir gerade erst zu ihrer mythischen Halle geschickt hatten. Er maß an die sieben Fuß, hatte breite Schultern und kräftige Gliedmaßen. Dass es einem solch massigen Kerl gelungen war, sich an uns anzuschleichen, war ebenso beachtlich wie beunruhigend. Über den Schultern trug er ein schwarzes Bärenfell, das einen Kontrast zu der ungebändigten Mähne seines stahlgrauen Haars bildete. Ein Blick in das von tiefen Falten zerfurchte, wettergegerbte Gesicht über seinem grauen Bart, das mit verschlungenen blauen Tätowierungen überzogen war, bestätigte mir, dass es sich um keinen jungen Mann mehr handelte. Die riesige Axt in seinen Händen hob er trotz seines Alters mühelos an. Die Doppelklinge aus Stein statt aus Stahl machte die Waffe umso fremdartiger.
Allein schon die Aussicht auf einen weiteren Kampf ließ meinen Mut sinken, noch dazu gegen ein solches Ungetüm, was eine sichere Niederlage bedeutete. Die etwa einhundert weiteren Ascarlianer, die sich auf dem Hang hinter dem Mann verteilten, machten die Vorstellung kaum verlockender. Die meisten trugen Schwerter und Äxte, es waren aber auch ein paar Bogenschützen mit schussbereiten Langbögen darunter. Am Ende war es jedoch das Auftauchen der beiden Wölfe, das mich jeden Gedanken an einen Kampf aufgeben ließ.
Sie gesellten sich links und rechts zu dem riesigen Ascarlianer, einer schneeweiß, der andere tiefschwarz, und beide recht kräftig. Im Shavine waren Wölfe kein seltener Anblick. Trotz der vielen Schreckgeschichten, die über sie erzählt wurden, stellten sie aber kaum eine Gefahr dar, solange man ihnen mit Vorsicht begegnete. Die Wölfe des Shavine waren für gewöhnlich grau, und obwohl sie meist größer waren als Hunde, hätten sie es mit diesem Paar nicht aufnehmen können, die beide mindestens vier Fuß Schulterhöhe maßen. Die Wölfe ließen sich ruhig neben dem Ascarlianer nieder, der starre Blick ihrer gelben Augen sagte mir jedoch, dass sie im Gegensatz zu ihren Verwandten im Süden keine Angst vor Menschen hatten.
Mit einem resignierten Lachen senkte ich den Schild. Wilhum dagegen straffte sich und hob sein Langschwert auf Augenhöhe, die Spitze direkt auf den grauhaarigen Riesen gerichtet. Er rief etwas auf Ascarlianisch, und obwohl ich nie herausgefunden habe, was er sagte, brachen unsere Gegner daraufhin in lautes Gelächter aus. Die Wölfe duckten sich tiefer und knurrten mit zitternden Lefzen. Sie beruhigten sich jedoch, als der Hüne mit der Axt das Gesicht verzog und sagte: »Du klingst wie eine kotzende Katze.«
Der Ascarlianer sprach Albermainisch mit starkem Akzent, dafür aber fließend und präzise. »Bitte beleidige nicht länger meine Sprache.«
Wilhum sagte nichts, hielt jedoch weiter sein Schwert vor sich, was den Ascarlianer nicht sonderlich zu kümmern schien. Der Blick des Alten veränderte sich, als er zu mir hinsah. Erstaunlich erwartungsvoll schaute er mich an. Ich hätte denken können, dass er mich erkannte, allerdings bestand nicht die geringste Chance, dass wir einander schon einmal irgendwo begegnet waren.
»Das ist dann wohl der Tielwald, von dem du gesprochen hast«, sagte ich zu Wilhum.
Der Riese lachte, bevor Wilhum antworten konnte, und verneigte sich leicht, wenn auch steif, so als sei die Geste ihm nicht allzu vertraut. »Ja, der bin ich. Margnus Gruinskard. Das bedeutet Margnus Steinaxt in eurer Sprache.« Sein Blick glitt kurz über die Leichen hinweg, die um uns verteilt waren, und seine Miene spiegelte nachdenkliche Bewunderung statt Wut. »Und wer seid ihr, meine mutigen und fähigen Freunde?«
»Alwyn Scribe.« Ich erwiderte die Verbeugung. »Das bedeutet … Alwyn der Schreiber.« Ich sah zu Wilhum hin, dessen Züge sich beunruhigend gerötet hatten. »Das ist Wilhum Dornmahl. Was sein Name bedeutet, weiß ich nicht. Verzeiht ihm seine Unhöflichkeit, aber was Ihr dem Wollhändler im Wald angetan habt, ging ihm gegen seine ritterliche Ehre.«
»Ah.« Margnus Gruinskard richtete seinen ruhigen Blick auf Wilhum. »Der Rote Falke ist die gerechte Strafe für jeden, der einen Schwur an die Altvar bricht. Die Bauern dieses Landes haben geschworen, keine Wolle mehr nach Olversahl zu liefern. Der Mann im Wald hat sich als Lügner entpuppt und dafür bezahlt.«
»Hat er den Schwur freiwillig geleistet?«, verlangte Wilhum zu wissen. »Das bezweifle ich. Und werdet Ihr jetzt seine Kinder ernähren, da niemand mehr da ist, der in den Fjorden Fische fängt und das Land bestellt?«
Der Ascarlianer versteifte sich ein wenig, und seine Antwort klang beleidigt. »Im Reich der Schwesterköniginnen muss kein Kind hungern. Unser Volk hat nur wenige Gesetze, aber an dieses halten wir uns.«
»Das Land hier gehört nicht den Schwesterköniginnen«, warf ich in mildem Tonfall ein. »Genau genommen seid Ihr unbefugt in das Gebiet von König Tomas Algathinet eingedrungen, und ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr Euch schleunigst wieder daraus entfernt.«
Der Tielwald verzog kurz verwundert das Gesicht, dann lachte er herzlich, und die anderen Krieger stimmten rasch mit ein. Die beiden Wölfe gähnten bloß.
»Du sprichst mit blumiger Stimme«, stellte Margnus Gruinskard fest und nickte zu Wilhum. »Aber die Stimme von dem da ist sauberer. Er ist, wie heißt es doch gleich, von ›edler Herkunft‹? Und du bist ein Gemeiner, ja?«
»In der Kompanie des Bundes spielt die Herkunft keine Rolle«, erwiderte Wilhum. »Wir sind alle ebenbürtig in unserem Glauben an die Seraphilen und die Märtyrer.«
»Kompanie des Bundes.« Der Tielwald wiederholte die Worte mit offensichtlicher Abscheu und schüttelte den Kopf. »Nach all den Jahren lässt sich euer Volk immer noch von Lügen unterjochen. Seid ihr deswegen hier? Ist das ein«, seine Abscheu wurde zu Belustigung, »Kreuzzug gegen die Heiden?«
»Wir sind nur hier, um zu beschützen, was von Rechts wegen uns gehört«, sagte Wilhum. »Und das schon seit Jahrhunderten.«
Der Ascarlianer lachte erneut, aber diesmal war es ein kurzes, verbittertes Grunzen. »Als ich ein kleiner Junge war, hab ich mal meinem Nachbarn ein Ferkel gestohlen. Ich versteckte es im Wald und zog es zu einem stattlichen Eber auf. Den haben wir dann an meinem fünfzehnten Geburtstag zu Ehren der Altvar geschlachtet und über dem Feuer gebraten. Betrunken und mit gelockerter Zunge beichtete ich meinem Vater, was ich Jahre zuvor getan hatte. Er hat mich bis aufs Blut ausgepeitscht und mich dann einen ganzen Winter lang zur Wiedergutmachung auf der Farm meines Nachbarn arbeiten lassen. Diebstahl bleibt Diebstahl, egal, wie viel Zeit vergeht.«
Ohne Vorwarnung hob er seine Axt und kam auf uns zu. Wilhum erstarrte und wappnete sich für einen Angriff, während ich dem Drang widerstand, den Schild zu heben. Es war sinnlos zu kämpfen. Ich überlegte, was ich noch Geistreiches von mir geben könnte, um den bevorstehenden Tod hinauszuzögern, verharrte jedoch, als der Riese an uns vorbei zu der Leiche des Kerls stapfte, dessen Schild ich an mich genommen hatte. Der Tielwald musterte den Toten mit teilnahmsloser Miene, sein Tonfall war allerdings ernst, als er zu mir zurückblickte und zu dem Schild nickte.
»Den kannst du nicht behalten«, sagte er.
Darauf bedacht, jeglichen Konflikt zu vermeiden, löste ich die schwere Holzscheibe von meinem Arm und setzte sie ab. Margnus Gruinskard nickte nur knapp und betrachtete den gefallenen Krieger.
»Das ist Tahlwild, mein Neffe«, sagte er. »Ein Narr und Aufschneider, muss man sagen. Seine Frau und seine Kinder werden nicht um ihn trauern. Aber man kann ihm nicht vorwerfen, dass er es den Altvar gegenüber an Ehre hätte mangeln lassen oder am Ruder schlapp gemacht hätte oder je einer gezückten Klinge ausgewichen wäre. Jetzt muss ich seinen Schild nach Hause zu seiner Mutter bringen. Die Zunge meiner Schwester ist scharf, erst recht wenn sie von Trauer gewetzt ist.«
Ich überlegte noch, ob eine Entschuldigung angebracht wäre, als es aus Wilhum herausplatzte: »Keiner hat euch hierher eingeladen, Ascarlianer. Sollen deinen Neffen und deine feige Kriegerschar doch die Pocken holen.«
Ich warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, in seinen Augen standen jedoch nur Wut und Blutdurst. Da wurde mir klar, dass er den Eindringlingen nicht nachgeritten war, um Gerechtigkeit zu üben. Dies sollte sein ruhmreiches Ende werden: der Überläufer, der in einem hoffnungslosen, aber mutigen Gefecht gegen heidnische Nordmänner seine Erlösung findet.
»Von mir aus stirb, wenn du willst«, zischte ich ihm zu. »Aber erwarte nicht, dass ich mit dir in den Tod gehe. Ich hab für heute genug davon, dir deinen adligen Arsch zu retten.«
»Ich hab dich auch nicht darum gebeten, Scribe«, gab er gelassen zurück. »Sie hat dir gesagt, dass du mich laufen lassen sollst, oder?«
Der Fluch, der mir auf der Zunge lag, erstarb auf ein lautes Räuspern von Margnus Gruinskard hin. Als ich mich zu ihm umdrehte, stellte ich fest, dass er uns beträchtlich näher gekommen war. Jetzt befand ich mich in Reichweite seiner Axt, während er selbst immer noch außerhalb der Reichweite meines Schwertes war.
»Fürchtet euch nicht vor mir«, sagte er, und mich traf wieder sein erwartungsvoller Blick. Dass ich nur mit einem Grinsen antwortete, das wohl eher einer furchtsamen Grimasse glich, schien ihn zu verwundern.
»Unser Kampf findet nicht heute statt«, fuhr er fort. Er griff unter seine Felle und zog ein Medaillon hervor. Es hing an einer Lederschnur an seinem Hals – ein kleiner Klumpen Silber, der von fachkundigen Händen so geformt war, dass er ein verknotetes Seil darstellte. Als er mit Daumen und Zeigefinger darüberrieb, spürte ich eine pulsierende Wärme unter meinem Wams. Später verbrachte ich viele Stunden damit, mir einzureden, es wäre nur eine Sinnestäuschung gewesen, eine Ausgeburt meiner Fantasie, aber ich habe es deutlich gespürt. Es war nur eine leichte Wärme wie die einer Wachskerze, die die Haut streift, doch es war da, und es rührte von dem Medaillon her, das Berrine mir gegeben hatte. Ein Medaillon, das identisch war mit dem, das dieser Tielwald, dieser Kriegerpriester, jetzt in der Hand hielt.
»Außerdem«, fügte er hinzu, »habe ich eine Bitte an euch. Ich wäre euch dankbar, wenn ihr eurer Feldherrin eine Botschaft von mir übermittelt.« Er ließ den silbernen Knoten los und deutete mit der Hand über meine Schulter.
Immer noch erschrocken über das erhitzte Medaillon und nicht ganz sicher, dass er mir nicht doch gleich seine Steinaxt zwischen die Schulterblätter hauen würde, drehte ich mich um. Sein Finger zeigte auf die blaue Fläche des Meeres jenseits der Klippe. Die Sonne stand hoch am weitgehend wolkenlosen Himmel, und die Dunstschicht über dem Wasser war recht dünn. Deshalb dauerte es nicht lange, bis ich die dunklen Flecken am Horizont entdeckte. Anfangs zählte ich ein Dutzend, dann noch ein Dutzend mehr, und gleich darauf verwandelten sich die Flecken in breite viereckige Segel. Als sie näher kamen, konnte ich Ruder erkennen, die sich hoben und senkten, während die Schiffe direkt auf diesen Teil der Küste zuhielten, zweifellos gelenkt von dem lodernden Leuchtfeuer auf der Klippe. Ich zählte knapp einhundert, bevor der Tielwald erneut das Wort ergriff.
»Ihr irrt euch, wenn ihr sagt, dass wir ungebeten hierherkommen.« Ich drehte mich um und sah, wie er sich bückte, um den Schild seines Neffen aufzuheben. Als er wieder hochkam, lächelte er grimmig, fast schon entschuldigend, und schlang sich den Schild über die Schulter. »Geht zurück nach Olversahl und berichtet dort, was ihr gesehen habt. Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn ihr es diesem Hund Fohlvast persönlich sagt. Wenn wir die Hafenstadt einnehmen, lasse ich euch lange genug am Leben, damit ihr mir berichten könnt, was für ein Gesicht er gemacht hat.«
Er hob seine Axt und deutete auf den Wald. »Und jetzt, meine Freunde, wird es Zeit für euch zu gehen. Ich habe eine Begräbnisfeier abzuhalten, und wenn ich eure Gesellschaft auch zu schätzen weiß, so muss ich leider sagen, dass den Altvar eure Gegenwart nicht recht wäre.«