Konzern - Macht - Politik - Wissen

Sozialwissenschaften als Hilfskräfte in Bertelsmanns

>Reformwerkstatt<

Steffen Roski untersucht, wie Vorfeldorganisationen von Bertelsmann systematisch Kontexte und Rahmenbedingungen herstellen, die es ermöglichen sollen, die sozialwissenschaftliche Diskussion im Sinne stiftungspolitisch er Ziele bzw. in Richtung eines von Bertelsmann favorisierten >Deutscbland-Trends< zu lenken.

Auf gesicherter Faktenbasis Orientierungen vermitteln - dies ist die erklärte Absicht des von Werner Weidenfeld und Karl-Rudolf Körte herausgegebenen Deutschland-Trendbuchs, das im Jahre 2001 im Verlag Leske & Budrich, zu diesem Zeitpunkt dem Hause Bertelsmann zugehörig, erschienen ist.1 Ein Who-is-Who des bundesrepublikanischen Mainstream der Sozialwissenschaften und Zeitgeschichtsforschung findet sich in ihm versammelt. Es soll seiner Adressatengruppe - vom Studienrat bis zum MdB - der Anschein unbedingter wissenschaftlicher Neutralität vermittelt werden. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr ist das Deutschland-Trendbuch ein erneuter Beleg dafür, dass Bertelsmann (Konzern, Stiftung, CHE, CAP et al.) die Hochschullandschaft inzwischen fast unbemerkt für sich hat vereinnahmen können und dort auf Wissenschaftlerinnen trifft, die sich dem Medienimperium als servile Hilfskräfte anbieten.

Prof Dr. Dr. h. c. Werner Weidenfeld, Herrscher über die >unabhängige Denkfabrik< CAP (Centrum für angewandte Politikforschung, München), ist in den Augen politischer Entscheider der Orientierungsgeber schlechthin. Als > Vordenker und graue Eminenz< kooperiert er eng mit der Bertelsmann Stiftung, die sein Institut mit >Forschungsaufträgem, sprich Geld, ausstattet.1

Jargon der Trendigkeit

So spielte denn auch für das Projekt Deutschland-Trendbuch Geld keine Rolle. Schön kuschelig wurde es dem Autorenteam gemacht. Im Weichspülerjargon Weidenfelds liest sich das so:

Die Koordination und Vernetzung der Beiträge zu einem runden Gesamtbild wurden durch die Möglichkeit, Autorenkonferenzen abzuhalten, wesentlich erleichtert. Herzlicher Dank gilt auch hier dem Bundesverband deutscher Banken und insbesondere seinem Hauptgeschäftsführer, Manfred Weber, für die erwiesene Gastfreundschaft in den Räumlichkeiten des Bankenverbandes in Berlin. Die Autorenkonferenzen verliefen in einer Atmosphäre des kreativen Gedankenaustausches, der konstruktiven Anregungen und der teamorientierten Zusammenarbeit. Dies war nur möglich, weil die Autoren zu einem erheblichen Mehraufwand an Arbeit und Kooperation bereit waren. Wir danken ihnen dafür. Mit ihrer wissenschaftlichen Expertise verliehen die Autoren dem Deutschland-Trendbuch sein spezifisches Profil. Sie alle standen vor der Herausforderung, ein komplexes, vielschichtiges und sich dynamisch veränderndes Thema auf begrenztem Raum behandeln zu müssen. (13)

Neben dem CAP und damit stets auch als ideellem Partner: der Bertelsmann Stiftung, stand der Bundesverband deutscher Banken dem Projekt Pate. In dessen Räumlichkeiten fühlten sich neben Gastgeber Weber und dem Herausgeberduo Weidenfeld/Korte wohl: Michael Weigl, Lars C. Colschen, Rainer Geißler, Michael Vester, Heiner Meulemann, Jürgen Turek, Bert Rürup, Werner Sesselmeier, Wolfgang Merkel, Joseph Huber, Jörn Rüsen, Friedrich Jaeger, Wolfgang Leidhold, Thomas Meyer, Manuela Glaab, Andreas Kießling, Peter M. Wagner, Hans W. Maull, Wilhelm Bürklin und Christian Jung. Der »erhebliche [n] Mehraufwand an Arbeit und Kooperation« wird den Autorinnen und Autoren gewiss schön entlohnt worden sein. Interessant ist darüber hinaus die Mitwirkung der Bundeszentrale für politische Bildung an dem Buchprojekt. Ihrem Fachbereichsleiter Rüdiger Thomas wurde die Ehre zuteil den Beitrag Kultur und Gesellschaftbeizusteuern. Der so Gebauchpinselte hat wohl auch dafür gesorgt, dass die Publikation in das Schriftenverzeichnis der Bundeszentrale aufgenommen wurde. So kann es besser an jene gelangen, die als >Mittler in der politischen Bildung< die frohen Orientierungsbotschaften des Deutschland-Trendbuchs weiter an die geben, die ihrer scheinbar so dringend bedürfen.

Ich werde im Folgenden nicht jeden Einzelbeitrag unter die Lupe nehmen. Dies würde aus meinem Text eine Rezension, das Deutschland-Trendbuch somit zu einer >normalwissenschaftlichen< Publikation machen und damit meine Absicht verhüllen. Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, was hinter diesem Jargon der Trendigkeit (»Trend-Optionen«; »Konturen der Trendentwicklungen«; »Trend-Konzept«;

»Trendbeschreibung zur zukünftigen Orientierung«; »Deutschland-Trends«; »Trend-Kalküle«; »trendorientierte Positionsbeschreibung« etc. etc., 7-13) steckt.

Generell werden von den Herausgebern zwei »Entwicklungsrichtungen« ausgemacht: solche, die »politisch-steuernd gestaltbar«, andere, wie »im Kultursektor«, die »durch Eigendynamik« gekennzeichnet sind.(7) Zum einen also die berühmte »Reformwerkstatt« (12), in deren Hallen (Parlamente, Ministerien, Beraterzirkel usw.) Bertelsmann (Stiftung, CAP, CHE et al.) unlegitimiert die Rolle des Meisters spielt, zum anderen die amorphe Sphäre der Kultur, deren Erzeugnisse in die Wertschöpfung des Medienkonzerns einfließen. Klarer kann das strategische Operationsfeld des Gütersloher Imperiums nicht umrissen werden. Entsprechend findet man im Deutschland- Trendbuch, ohne dass dies einen Widerspruch darstellte, sowohl die neoliberale Reformrhetorik als auch die blumige Sprachwelt nationalistischer Kultur- und Sinnvermittlung vor.

Betrachten wir zunächst den Überbau, so ist z. B. die Rede von »Selbstbeschreibung«; »Ausbildung einer historischen Fundamentierung einer gesamtdeutschen Identität«; »nationales Interesse«; »Erfahrungswelten«; »historische Neuorientierung«. (29-54) Diese nur dem Beitrag von Weidenfeld entnommenen Stichwörter machen deutlich, wie der diskursive Rahmen abgesteckt ist, innerhalb dessen über Geschichte, Kultur und Nationales geredet wird. Rüsen/Jaeger bringen das Thema auf den Punkt: »Wie kann aus der Erfahrung des Dritten Reiches und seiner Verbrechen ein zukunftsfähiges Konzept der Selbstverortung konstruiert werden?« (408) Nun ist - für sich genommen - an den geschichtsmethodologisch ausgerichteten Reflexionen von Rüsen/Jaeger manches Bedenkenswerte und Interessante, doch muss dieser (wie andere Beiträge auch) im Gesamtzusammenhang des Deutschland-Trendbuchs gelesen werden. Erst die Lektüre von Weidenfeld, Weigl/Colschen und Maull stellt diesen her. Verfolgt man gegenwärtige Kampagnen wie »Du bist Deutschland«, fällt es einem nicht eben schwer zu identifizieren, wer hier die ideologische Software beigesteuert hat, wenn im Deutschland-Trendbuch »Aktionskorridore deutscher Politik für künftige Eingriffe in den Prozess der historischen Selbstverortung« (77) identifiziert werden. Zwei Handlungsfelder zur Schaffung einer »gesamtdeutschen Identität« (46) ergeben sich: »Deutsche Leitkultur« (76) und das »neue außenpolitische Selbstbewusstsein Deutschlands«. (34) Hier gibt es viel zu tun: »Die Aufgabe der historischen Führungsleistung wie sie die politischen Eliten selbst für sich deklarieren, blieb in den 90-er Jahren mehr Anspruch als Realität.« (48) Angesichts dieses beklagten Mangels an Führung und nationalem Selbstbewusstsein sind kritische Bestandsaufnahmen des gegenwärtig in Deutschland grassierenden Fremdenhasses und Antisemitismus natürlich nicht erwünscht. Das Goldrähmchen-Geschichtsbild des CAP duldet keinerlei Eintrübung. Zwar wird »die Etablierung einer neonazistischen und gewaltbereiten Szene« erwähnt, aber es handele sich dabei eher um ein »mediale[s]« Konstrukt (69). Vester weist in einer historischen Betrachtung darauf hin, »wie weit damals [gemeint: Wahlen zum Deutschen Reichstag 1930; SR] die autoritären Mentalitäten verbreitet waren, auch bei den kleinbürgerlich-autoritären Teilen der Angestellten und Arbeiter, die durch die Deklassierungsprozesse in der Wirtschaftskrise orientierungslos geworden waren.« (139-140) Und heute? Festzustellen sei gegenwärtig allenfalls ein »Radikalisierungspotenzial bei ostdeutschen Jugendlichen«. (69) Soweit, so verharmlosend. Der einzige des Autorenteams, der hier - in einer freilich schockierenden Offenheit - klar analysiert, ist Turek, wie unten zu zeigen sein wird. Einigkeit besteht bei den Autorinnen des Deutschland-Trendbuchs darin, dass ein ungetrübtes gesamtdeutsches Selbstbewusstsein im Trend liegt! Oder, mit anderen Worten: »eine neue positiv gedeutete historische Tradition Gesamtdeutschlands« (79), die es geschichtspolitisch zu begründen und durchzusetzen gilt.

Gesellschaftskritik oder »soziales Engagement«?

Verlassen wir zunächst die Sphäre von Kultur und Identität und wenden uns den Gesellschaftsanalysen des Deutschland-Trendbuchs zu. Geißler, Vester und Meulemann liefern die Beiträge zur Sozialstruktur und Wertorientierung der Deutschen. Gestützt auf die Sozialstatistik deutet Geißler die meisten sozialstrukturellen Entwicklungen als Teil eines Modernisierungsprozesses. Dabei wird durchaus Skandalöses festgestellt: »1993 hatte das reichste Zehntel der Haushalte fast die Hälfte des Gesamtvermögens [...] aller Deutschen angehäuft, während die untere Hälfte der Bevölkerung nur über etwa ein Zehntel des Vermögensbestandes verfügte.« (103) Das Gerechtigkeitsthema wird ausdrücklich von Vester aufgegriffen und weiter vertieft. In Anlehnung an Pierre Bourdieu kartiert er Milieus, die »die Lebensweise als ganze[r]« (E.P Thompson), also Habitusformen und Einstellungsmuster erfassen sollen. (150-151) Angesichts von »Schieflagen der sozialen Gerechtigkeit« wie Diskriminierung, biografische Diskontinuitäten, prekäre Berufspositionen und Soziallagen sowie Armutsrisiken (156-157) stellt Vester zusammenfassend fest, dass die »von Staat und Gesellschaft angebotene System- und Sozialintegration [abnimmt], so dass die Milieus im Alltag immer mehr auf ihre eigenen >Bewältigungsstrategien< zurückgeworfen sind.« (157-158) Anstatt diese Tatbestände zum Ausgangspunkt radikaler Gesellschaftskritik und -analyse zu machen, wird im Deutschland-Trendbuch darüber spekuliert, wie sich soziale Probleme durch mildtätiges Engagement gemeinnütziger (gemein und nützlich!) Stiftungen bei minimaler Staatstätigkeit bewältigen lassen. Meulemann übt sich hier in spitzfindiger Dialektik, wenn er die

Parsonssche Orientierungsvariable Selbst- vs. Kollektivorientierung transversal verschmilzt und vorschlägt, die »Selbstorientierung als Motiv der praktizierten Kollektivorientierung« (203-207) zu begreifen. Man könnte meinen, die Familie Mohn über soziale Probleme schwadronieren zu hören. Meulemann liefert hübsche rhetorische Formeln, die die Motivation des Handelns der Bertelsmann Stiftung treffend kennzeichnen: »Soziales Engagement« oder »freiwillige Arbeit für andere« (206) stellt »eine Ausdrucksmöglichkeit der Selbstorientierung« dar. Man muss »nach sozialen Mechanismen suchen, die es dem Einzelnen erlauben, die Selbstorientierung in Formen auszudrücken, die auch als Kollektivorientierung angesehen werden kann«. (194) Nicht mehr Staat und Gesellschaft, sondern selbstorientierten privaten Akteuren soll die System- und Sozialintegration überlassen sein. Wenn es dann der Politik noch gelingt die »Notwendigkeit materieller Einschränkungen« wählerund publikumswirksam zu vermitteln, wird - aus Vesters Sicht - dieses den Milieus dann auch durchaus »hinnehmbar« erscheinen. (156)

Das politische System wird insbesondere von Merkel, Körte, Meyer und Glaab/ Kießling sowie von Wagner und Maull (Europa- und Außenpolitik) untersucht. Auf den Wohlfahrtsstaat bezogen stellt Merkel- gestützt auf die ökonomisch-demographischen Analysen (Globalisierung, Informatisierung, Tertiärisierung, Bevölkerungsentwicklung) von Rürup/Sesselmeier - im Imperativ fest: »Abrücken von der statusorientierten und transfergestützten Einkommenssicherung sowie Umschichtung der Sozialhaushalte und des Staatshaushaltes zugunsten der sozialinvestiven Ausgaben. Der Sozialversicherungsstaat muss zu einem Sozialinvestitionsstaat werden.« (322) Und dies geht nur über ein Mehr an »Eigenverantwortung«. (591) Glaab/Kießling sehen den Staat in der Gefahr »aufgrund überhöhter Leistungserwartungen der Bürger« in die »Anspruchsfalle« zu tappen. Jenseits von Markt und Staat bedarf es der »civil society« um Engagement zu fördern. (592) Der Staat ist aber nicht unverzichtbar, er wird natürlich immer dann benötigt, wenn der Bertelsmann Stiftung ein gesetzlicher und finanzieller Rahmen geschaffen werden soll, damit diese sich ungehindert auf dem Spielfeld der >zivilen Bürgergesellschaft< tummeln kann. Von nichts kommt eben nichts. »Um Nachhaltigkeit zu erzielen, sind fortgesetzte Anstrengungen auf dem Gebiet der Engagementförderung nötig, die geeigneter rechtlicher und finanzieller Rahmenbedingungen bedürfen (einen ersten Schritt in diese Richtung stellt z. B. die Reform des Stiftungswesens dar).« (595) Nehmen wir einmal diese drei Bereiche - Staat (Politik), Wirtschaft (Markt) und Zivilgesellschaft (Engagement), so ist Bertelsmann als Konzern globaler Spieler auf dem Weltmarkt, als Stiftung vorgedrungen in die feinsten Kapillare sozial-integrativer Zusammenhänge - und wie steht es mit der Politik? Sehr schön zeigt Körte auf, wie sich Regieren verändert hat: »Im multidimensionalen Mehrebenensystem verliert die nationalstaatliche Regierung durch eine Politik der Entgrenzung zunehmend Entscheidungskompetenzen. Regieren wird heute mehr denn je zum Interdependenz-Management.« (525) Zugespitzt könnte man von Regieren ohne Regierung (»governance without government«, J. Rosenau) sprechen. Und wer könnte hier besser integrierend moderieren, mediatisieren und Netzwerkeinfluss geltend machen als das Gütersloher Medienimperium mit seinem >Think Tank< GAP? Man lese Meyer. »Politisches Handeln, das in seiner Funktion der langwierigen Herstellung gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen in komplexen und offenen Interaktionsnetzen verpflichtet ist, unterwirft sich im Interesse der eigenen öffentlichen Legitimation [...] der Logik des Mediensystems.« (553)

Konkurrieren um die Stärksten der Welt

Gesamtdeutsche Identität schaffen - Eigenverantwortung und Engagement fördern - Mitregieren - so lassen sich die Topoi Bertelsmannschen Einflusses auf die Systeme von Legitimation und Werten, sozialer Integration und Politik bezeichnen. Die Analysen des Deutschland-Trendbuchs wären nicht vollständig, wenn nicht auch die technisch-ökonomische Basis eine angemessene Berücksichtigung fände. Rürup/Sesselmeier, Weber, Huber, Leidhold und Turek haben hier Relevantes beigesteuert. Dass Dr. Manfred Weber, Hauptgeschäftsführer und Mitglied des Vorstandes des Bundesverbandes deutscher Banken e. V., das Bankgeschäft in die Sphäre einer »Finanzkultur« hebt und daher das »ideologische[n] Freund-Feind-Schema« beklagt, in dem Banken »von den Parteien der politischen Linken fast reflexartig als symbolischer politischer Gegner eingestuft« wurden, ist nicht weiter verwunderlich. Wurden!, denn: »Die neue Finanz- und Aktienkultur, neue Formen der Mitarbeiterbeteiligung und der breite gesellschaftliche Wohlstand lassen diese traditionelle Konfliktlinie allerdings zunehmend verschwimmen. Damit steigen auch die Chancen, finanz- und bankpolitische Themen künftig ohne diesen ideologischen Ballast diskutieren zu können.« (360) Das er das so sagt, nun, das ist ja schließlich sein Job; Weber gehört daher neben den Politikberatern Weidenfeld, Turek und Rürup/Sesselmeier zu den wenigen im Chor des Deutschland-Trendbuchs, deren Stimmen authentisch sind, weil sie in unverblümter Weise die Funktion des Bertelsmann-Sprachrohrs einnehmen. Ihr Interessenstandpunkt ist eindeutig und muss nicht erst re-konstruiert werden! Die Bertelsmann-Doktrin, nämlich die Verklammerung nationalen Selbstbewusstseins und neoliberaler Regime, kommt im Deutschland-Trendbuch am klarsten in den Beiträgen von Weidenfeld und Turek zum Ausdruck. Sind die geschichtspolitischen Forderungen von ersterem bereits oben erörtert worden, ist an dieser Stelle ein genauerer Blick auf den Beitrag Technologiegesellschaft von Jürgen Turek, M.A., Geschäftsführer am Centrum Jur angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München und dort Leiter der Forschungsgruppe Zukunftsfragen, geboten. Ich lasse ihn ausführlich zu Wort kommen. Turek umreißt die Zielsetzungen des Gütersloher Konzerns glasklar, wenn er »gesellschaftliche Verantwortung und politisches Handeln in Deutschland in den kommenden 15 bis 20 Jahren« wie folgt beschreibt: »Die Phänomene und Synergien von moderner Globalität, technologischem und sozialem Wandel werden auf alle sozialen Teilsysteme in Deutschland - auf Wirtschaft, Politik, Militär, Recht, Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Religion und Medizin - in [...] umwälzender Weise ausstrahlen.« (213) Global agierende Unternehmen wie Bertelsmann »werden zu Kompetenzzentren im Prozess des Wandels. Durch die Übernahme sozialer Verantwortung über gesellschaftlich ausgerichtete Public Relations oder eine geschickte Instrumentalisierung von Stiftungen definieren sie gleichermaßen politische Positionen und bestimmen die Themen der internationalen Politik zunehmend mit.« (218) Weidenfelds Lamento über die mangelnde »historische Führungsleistung« (s. o.) der herrschenden Elite wird von seinem Adlatus Turek knallhart auf das politische Tagesgeschäft hin operationalisiert. Geht es um »Zukunftshandeln« werden Unternehmen wie Bertelsmann »selbst eine aktive Rolle anstreben und nicht nur handeln, wenn sie gebetene Gäste der Politik sind. Daran werden sich Politiker und Beamte zu gewöhnen haben«. (241) Ein zentrales Thema Tureks ist das Verhältnis von Nationalkultur und Biopolitik festgemacht an der Zuwanderungspolitik. Da heißt es in schonungsloser Offenheit:

In diesem Kontext halten nach der Umfrage des Bundesverbandes deutscher Banken im Jahr 2000 zwei Drittel der deutschen Bevölkerung die Gefahr religiöser Konflikte in Deutschland für >sehr groß< oder >groß<. In der deutschen Gesellschaft können Verflechtung und Einwanderung insbesondere in kleinbürgerlichen Milieus vermehrt zu Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit führen. Globalisierung erscheint vielen als Nullsummenspiel, in dem die Gewinne anderer zwangsläufig gewachsene Besitzstände angreifen. Die Perspektive gravierender Diskontinuitäten in der eigenen Biografie erzeugt Unsicherheit und Zukunftsangst. Auf der Suche nach der eigenen Identität, im Bemühen um eigenen Schutz und bei der Verteidigung des eigenen Terrains kann das Fremde deshalb als bedrohlich empfunden werden. Migration von Menschen in Not beansprucht staatliche Mittel und kann Konflikte bis zum Ausbruch tätlicher Gewalt entfachen. (215-216)

Michael Hardt und Antonio Negri zufolge, die sich dabei auf Analysen Michel Foucaults stützen, äußert sich Rassismus im Empire nicht mehr biologistisch; der soziale Darwinismus hat sich ein neues Kampffeld gesucht: die Kultur, sprich: die kulturelle Zuschreibung von Leistungsfähigkeit! Bei Turek liest sich das dann so:

So benötigt Deutschland nach Schätzungen der UNO bis 2050 ca. 25 Millionen Einwanderer, um das Verhältnis von Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen stabil zu halten [...] [Deutschland und die übrigen Industrieländer] werden deshalb versuchen, ihre eigenen gesellschaftlichen Belange durch den Zuzug von solchen Menschen zu stabilisieren, die als >genug< qualifiziert und >systemstabilisierend< angesehen werden [...] So ergibt sich die Notwendigkeit, Armuts- und Umweltflüchtlinge oder Asylbewerber abzuweisen - gleichzeitig aber um die Besten und die Stärksten in der Welt zu konkurrieren. (227-228)

»Die Besten und die Stärksten in der Welt« - Humankapital für die Informationswirtschaft der new economy! Turek stellt in seltener Klarheit heraus, was für Bertelsmann auf dem Spiele steht, welche Strategie der Konzern verfolgt. Um den anfangs entwickelten Faden wieder aufzunehmen: Gesamtdeutsche Identität schaffen (nationalistische Geschichtspolitik) - Eigenverantwortung und Engagement fördern (»Reformwerkstatt«) - Mitregieren (Gesellschaftssteuerung jenseits demokratischer Legitimation) - »Motor einer neuen Ökonomie« (222) sein (»effektive Beherrschung globaler Sachverhalte«, 18) - vier Dimensionen imperialer Organisationskultur also. Turek schreibt sich geradezu euphorisierend in einen Mohn-Rausch:

Technologisch repräsentiert sie [die Informationswirtschaft; SR] einen Schub, mit der die informationstechnische Industrie zur Schlüsselbranche wird. Konzepte, Informationsinhalte und Bewertungsleistungen für die nationalen wie internationalen Güter-, Finanz- und Dienstleistungsmärkte, Beratungsdienstleistungen für Unternehmensorganisationen, Angebote für lebenslanges Lernen sowie die Stärkung individueller wie sozialer Kompetenz rücken in den Mittelpunkt. Neben die Welt der stofflichem Waren tritt die der digitalen Produkte und Dienstleistungen. Ihre mikroökonomische Dimension liegt in der wachsenden Bedeutung eines neuen Unternehmenstypus und neuer Bewertungskriterien für diese Unternehmen auf den Kapitalmärkten.

Die Digitalisierung der Information treibt dabei die Integration ehemals getrennter Branchen an: Die Wertschöpfungsstränge von Telekommunikation, Medien und Informationstechnologien wachsen in komplexen Ketten zusammen; die Grenzen zwischen Medienunternehmen als Informationsanbieter sowie Telekommunikation-und Internet-Unternehmen als technische Dienstleister verschwimmen. Große Tele-kommunikations- oder Medienkonzerne wie der Gütersloher Medienkonzern Bertelsmann haben Internet-Dienstleistungsunternehmen gegründet, gekauft oder sie kooperieren mit Online-Diensten, über deren Angebote täglich mehr Menschen in das Internet gehen. Auf makroökonomischer Ebene repräsentiert die Informationswirtschaft eine neuartige wirtschaftliche Konstellation, in der Dank höherer Produktivitätszuwachsraten höhere Raten inflationsfreien Wachstums aufgrund höherer Preis- und Markttransparenz möglich sind. Metaökonomisch betont die neue Ökonomie schließlich die zunehmende Bedeutung von Information als Input, Output und Strukturprinzip der Wirtschaft, die Intensivierung marktwirtschaftlicher Beziehungen und die Tertiärisierung der Wirtschaft. (223)

In der Informationswirtschaft verschmelzen die Sphären von Basis und Überbau, Kultur geht unmittelbar in Wertschöpfung ein, Wertschöpfungsstrategien wälzen ihrerseits den kulturellen Überbau um. Turek flankierend spricht denn auch Thomas normativ davon, das »vereinte[n] Deutschland [...] in ein gemeinsames Kulturbewusstsein zu integrieren.« (22) Und wer ist eher dazu in der Lage diese Integration zu bewerkstelligen als Bertelsmann (Konzern, Stiftung, CHE, CAP et al.)? So könnten die von Thomas herausgearbeiteten »Trends« der kulturellen Entwicklung so auch in einem Strategiepapier des Medienkonzerns stehen:

1. Kultur wird zunehmend zu einer wesentlichen Komponente der Individualisierung, die zwischen Selbststilisierung und einer selbstreflexiven Gestaltung des eigenen Lebens changiert. 2. Der Medienmix (Crossover) wird zum vorherrschenden Kulturmuster der Mediengesellschaft. 3. Kunst, Kultur und Wissenschaft entwickeln neue Vermittlungsformen: zwischen technologischer Rationalität, kreativer Improvisation, konkreter Anschauung und sinnhafter Wertorientierung. Sie bilden Brücken für gesellschaftliche Selbstverständigung. 4. Kultur wird zum Fokus konzentrischer Identitätsbildung zwischen Regionalismus, Nationalkultur und Globalisierung in einer digitalen Welt. 5. Kultur wird zunehmend zur ökonomischen Ressource mit ambivalenten Folgen: dem Risiko der Dekulturation und der Chance diverser Kulturen für alle. (499-500)

Es versteht sich dabei von selbst und braucht hier nur am Rande erwähnt zu werden, dass die Kultur- und Sinnangebote aus dem Hause Bertelsmann (RTL, »Deutschland sucht den Superstar«, »Du bin Deutschland« etc. etc.) sich in Thomas Perspektive kaum dem »Risiko der Dekulturation« aussetzen, sondern eher eine »Chance diverser Kulturen für alle« darstellen.

Aus dem Deutschland-Trendbuch lassen sich somit vier Dimensionen des Bertelsmannschen Konzernhandelns ableiten. Im Vier-Funktionen-Schema von Talcott Parsons et al. lassen sich diese modellhaft repräsentieren:

A (Anpassung)

NEUE ÖKONOMIE (GLOBALISIERUNG)

G (Zielerreichung/Goal Attainment) REGIEREN OHNE REGIERUNG

I (Integration)

REFORMWERKSTÄTTEN

(ENGAGEMENT)

L (Kulturmuster u. Sinnvermittlung/Latency) INTEGRATIONALISTISCHE NATIONALKULTUR

Für die makrosoziologische Theorie ergibt sich aus alldem ein Forschungsprogramm. Turek stellt die entscheidende Frage: »Ist das Konzept der modernen Gesellschaft tragfähig und flexibel genug, um den absehbaren Herausforderungen begegnen zu können?« (213) Anders gewendet: Darf die soziologische Forschung angesichts globaler Machtverhältnisse noch unhinterfragt naiv das Konzept der »funktionalen Differenzierung« so verwenden, wie es Meulemann, Heiner im Deutschland-Trendbuch tut, wenn er schreibt: »Die funktionale Differenzierung verlangt von den Menschen eine Haltung der Plan- und Machbarkeit, die der Akzeptanz genau entgegengesetzt ist.« (187) Die Pointe liegt doch vielmehr darin, dass die Organisation Bertelsmann eine Matrix oder einen Frame darstellt und den nur noch scheinbar differenzierten Sphären den Takt der eigenen Organisationskultur vorgibt. »Akzeptanz« bedeutet dann nicht mehr Glaube an kirchliche Autorität, da hat Meulemann wohl recht, akzeptiert werden nunmehr die Sinnbotschaften, Reformprojekte und sozioökonomischen Erfordernisse des Gütersloher Medienimperiums. Tatsächlich lässt sich eine Kontinuitätslinie des Hauses Bertelsmann sehen. Ein deutsches Medienhaus: Vom Vertrieb religiöser Erbauungsliteratur über Landserheftchen und Türdrückerei zum Global Player ...

Meinungsmache

Christiane Leidinger, Oliver Schotter

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