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Zwei Tage zuvor
»So, Thommi, jetzt beiß mal besser die Zähne zusammen.«
Der Mann auf dem Boden starrte die riesige Nadel an, die sich seinem Bein näherte. Er schien mit sich zu ringen, kniff die Augen zusammen, nur um sie sofort wieder aufzureißen. Flehend richtete sich sein Blick auf den Mann, der die Nadel in der Hand hielt: massiver Oberkörper, muskelbepackte Oberarme, die blonden Haare raspelkurz geschoren. Doch es war vor allem sein Gesicht, das ihn gleichermaßen abstoßend wie Furcht einflößend erscheinen ließ: Es war überzogen von Narbengewebe, das aussah, als läge an manchen Stellen das bloße Fleisch auf den Knochen. Die Haut war gespannt, was seine Mimik grotesk verzerrte. Auf seinen Mundwinkeln schien ein gespenstisches Dauergrinsen zu liegen.
Und dieses Grinsen gab dem Mann auf dem Boden den Rest. »Aufhören«, schrie er genau in dem Moment, als die Nadelspitze seinen Oberschenkel berührte.
Doch der andere dachte gar nicht daran. Sein vernarbtes Gesicht verzog sich noch etwas mehr. »Hab dich nicht so«, zischte er.
Nun begann Thommi zu strampeln, versuchte aufzustehen, doch der Typ über ihm presste ihm seine Pranke so fest auf die Schulter, dass ihm die Luft wegblieb.
»Verdammt, jetzt lassen Sie mich los, Sie sind ja irre.«
»Halt endlich still«, tönte es über ihm, dann bohrte sich die Nadel in Thommis Fleisch, was er mit einem schrillen Schrei quittierte.
»Siehst du, geht doch«, sagte der Typ und wollte weitermachen, da wurde er von hinten gepackt und hochgezogen.
»Herrgottnochmal, Stephan, was soll denn diese Scheiße?«
Unwillkürlich wichen die Männer, die sich um die beiden herumgruppiert hatten, zurück. Ein paar Sekunden sagte keiner etwas, nur ein Keuchen durchbrach die Stille des Waldes.
Stephan riss sich aus seiner Umklammerung und fixierte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen, während sich Thommi vom Boden aufrappelte, die Hand auf die Einstichstelle gepresst. Die Gruppe beobachtete die beiden Kontrahenten mit leuchtenden Augen, viele erwarteten eine handfeste Auseinandersetzung.
Doch Stephan schien daran nicht interessiert. Sein Gegenüber nahm die Baseballkappe ab und wischte sich übers Gesicht: »Ich hab es dir schon tausendmal gesagt: Das hier ist nur ein Trainingscamp, nicht der Krieg. Die Leute zahlen dafür.«
Damit löste sich die Spannung. Die anderen wirkten enttäuscht darüber, dass es keine Schlägerei geben würde. Sie nahmen Thommi in ihre Mitte, klopften ihm auf die Schulter und feixten: »Na, du Weichei? Hättest dir ruhig eine hübsche Ziernaht verpassen lassen können.«
Stephan drehte sich zu ihnen um. Ein Dutzend Männer, einige mit Bauchansatz, schütterem Haar und verschwitzter Tarnkleidung. Bei manchen waren die Klamotten so neu, dass noch die Etiketten daran baumelten.
»Wofür trainiert ihr denn in eurem Camp?«, rief er ihnen zu. »Wenn ihr schon vor so einer kleinen Nadel Angst habt, was macht ihr dann, wenn es wirklich ernst wird? Wenn ihr genäht werden müsst, weil ihr sonst einfach elend verblutet? Ihr müsst endlich mal eure gut geheizten goldenen Käfige verlassen, in denen ihr gefangen seid.«
»Das hier ist aber nicht der Ernstfall«, sagte Martin, der Leiter des Camps. Er war es, der Stephans improvisierte Operation eben beendet hatte. Nicht das erste Mal, dass er hatte einschreiten müssen.
»Das stimmt allerdings«, gab Stephan verächtlich zurück. »Im Ernstfall wärt ihr längst tot.« Dann stapfte er über den blätterbedeckten Boden auf das Feuer zu, über dem ein Wasserkessel dampfte, und ließ sich auf den Baumstamm davor sinken.
Zwei Frauen, ebenfalls in Tarnkleidung, gesellten sich zu den erhitzt tuschelnden Teilnehmern. »Haben wir was verpasst? Mist, immer, wenn’s spannend wird, sind wir auf dem Klo.«
»Bei so einer Mädchenblase ist das kein Wunder«, antwortete Thommi. Dann holte er tief Luft, um sein eben durchlebtes Trauma in allen Einzelheiten zu schildern. »Ich wär grad beinahe bei lebendigem Leib aufgeschlitzt worden.«
»Oha, er kann schon wieder Märchen erzählen«, spottete einer.
Martin ging auf Thommi zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sorry noch mal. Alles okay bei dir?«
»Klar, bin ja nicht aus Zucker. Und gegen Tetanus geimpft. Aber das geht wirklich nicht. Der Typ hat doch ’ne Macke. Da musst du als Veranstalter mal ein Machtwort sprechen«, sagte er leise, darauf bedacht, dass Stephan ihn nicht hören konnte.
»Ich rede mit ihm«, stimmte Martin zu. Die Blicke der Männer folgten ihm, als er sich neben Stephan am Feuer niederließ. Er schöpfte mit einer Kelle heißes Wasser aus dem Kessel, goss damit Kaffeepulver in einer Blechtasse auf, rührte um und hielt sie Stephan hin. Doch der schüttelte den Kopf. Martin zuckte die Achseln und nahm selbst einen Schluck. Dann zog er sich die Kappe vom Kopf. Survival of the fittest stand auf dem Schild. Verächtlich schüttelte Stephan den Kopf.
Martin zog die Augenbrauen hoch: »Denkst du, das ist hier alles nur Spaß?«
»Ich nicht. Aber die …«, erwiderte Stephan und deutete mit dem Kopf in Richtung der Männer, die sich nun um Thommi drängten und die Stelle begutachteten, an der die Nadel in seine Haut eingedrungen war.
»Das ist mein Business, Stephan. Ich trag das Risiko, du kriegst deinen Lohn. Du bist gut, das weiß ich. Die Leute stehen ja auf die harte Nummer, die du abziehst, aber es gibt Grenzen. Wenn du so weitermachst, kann ich dich nicht mehr buchen. Neulich wollte uns schon einer anzeigen.«
Stephan bekam große Augen.
»Ja. Der, den du mit deiner selbst gebauten Falle kopfüber am Baum hast hängen lassen. Der Typ war Anwalt. Frag nicht, was es mich gekostet hat, den von seinem Vorhaben abzubringen.«
»Martin, dieses Arschloch war einfach …«
»Geschenkt. Aber ein für alle Mal: Noch so ein Ding, und du bist raus.«
»Ich dachte, ich soll die Leute auf den Krisenfall vorbereiten!«
»Vorbereiten? Schau dir doch mal diese Spinner an. Das sind alles verweichlichte Großstädter, die sich einmal wie in einem Actionfilm fühlen wollen. Einmal wie Rambo sein. Aber wenn du denen so kommst, meinen sie, Rambo hätte sie in den Arsch gefickt.«
»Martin, wenn das hier irgendwas bringen soll, dann …«
»Natürlich bringt das was. Kohle. Zieh deine Show ab, hüpf mit ihnen durch den Wald, bastle mit ihnen ein paar Fallen, meinetwegen fuchtle auch ein bisschen mit deinem Buschmesser rum, aber hör auf, mit den Leuten so umzuspringen, kapiert?«
»Willst du, dass ich gehe?«
»Nein, will ich nicht. Aber wenn du so weitermachst, musst du gehen.« Mit diesen Worten stand Martin auf und schüttete den Rest des Kaffees in die Glut, wo er mit einem Zischen verdampfte.
Stephan saß noch eine Weile da und sah den Rauchschwaden nach, die sich in der frischen Waldluft schnell auflösten, dann stand er abrupt auf und drehte sich um. Seine Gruppe nahm sofort Haltung an, während er mit schweren Schritten zu ihnen zurücklief. Er sah einen nach dem anderen an. Martin hatte recht: Sie waren verweichlicht, nicht wirklich bereit, ihre Komfortzone zu verlassen, auch wenn es ihm einen gewissen Respekt abnötigte, dass sie sich hier freiwillig der Natur aussetzten, die sie sonst wahrscheinlich nur von ihren perfekt gepflegten Reihenhaus-Vorgärten kannten. Wobei auch wieder ein paar dieser Verrückten dabei waren, die immer häufiger in seinen Kursen auftauchten. Typen, die jeden Moment mit dem Zusammenbrechen der Zivilisation rechneten. Prepper nannten sie sich, weil sie vorbereitet, prepared sein wollten, wie sie immer wieder betonten. Vorbereitet auf einen Krisenfall, einen Krieg, eine Naturkatastrophe. Für ihre Beweggründe hatte er ein gewisses Verständnis. Aber er war sich sicher: Trotz ihrer Überzeugung, die Einzigen zu sein, die den nahen Zusammenbruch überstehen würden, trotz ihrer Kenntnisse und der Lebensmittel, die sie in ihren Kellern horteten, waren sie für den Ernstfall in Wahrheit nicht besser gerüstet als die anderen Wohlstandsbäuche hier vor ihm. Aber er hatte versprochen, sich zusammenzureißen. Und vor allem brauchte er das Geld.
»Also, Leute, wo waren wir stehen geblieben?«
Thommi wich ein paar Schritte zurück und stellte sich hinter die restlichen Teilnehmer, die sich im Halbkreis um ihren Ausbilder scharten.
Eine der Frauen, eine sportliche Mittdreißigerin mit langen Haaren, meldete sich zu Wort. »Du wolltest uns, glaub ich, erklären, wie wir in einer Krise die Kontrolle behalten.«
Die anderen sahen sie bewundernd an. Keiner sonst wagte es, Stephan zu duzen.
Dem schien das jedoch nichts auszumachen. »Richtig. Aber vergesst das Wort Kontrolle. In einer echten Krise haben wir gar nichts unter Kontrolle außer unserer Vorbereitung – und unserem Körper, dessen Gehorsam wir in jeder Situation einfordern müssen.«
Sie nickten alle, auch wenn Stephan bezweifelte, dass sie wirklich verstanden. »Komm her.« Er winkte der Frau, die ihn angesprochen hatte. »Wie heißt du?«
Die Frau verzog das Gesicht. Sie hatten sich alle zu Beginn des Kurses vorgestellt, und offenbar war sie es nicht gewohnt, dass man ihren Namen vergaß. Sie seufzte. »Nenn mich Bine, das sagen alle.«
»Alles klar, Bine. Hau ab.«
Sie blickte ihn ungläubig an.
»Na los, lauf weg. Flieh. Renn um dein Leben.«
Noch immer stand sie mit fragender Miene da.
»Alaaaarm!«, brüllte Stephan unvermittelt.
Aus dem Stand rannte sie los, doch sie kam nicht mal zwei Schritte weit, dann wurde ihr Körper heftig herumgerissen. »Au, Scheiße, was …?«
Stephan hatte seine Hand in ihren Haaren vergraben und zerrte sie wieder zu sich. »Vorbereitung«, sagte Stephan. »Keine offenen Haare, keine Pferdeschwänze.« Dann ließ er die Frau wieder los, die sich sofort daranmachte, ihre Frisur in Ordnung zu bringen und zu einem Dutt zu binden.
»Ihr müsst die Gefahren, die auf euch lauern, erkennen, bevor sie eintreten. Orientiert euch in eurer Umgebung, macht …« Stephan brach mitten im Satz ab und hob den Kopf.
Irritiert blickten sich seine Schüler an, dann vernahmen sie ein leises Surren in der Luft, das schnell lauter wurde.
»Alarm! Gasmasken!«, schrie Stephan, und sofort stoben die Kursteilnehmer auseinander, rannten zu ihren Zelten, setzten die Masken auf und kauerten sich auf den Boden. Stephan tat es ihnen gleich, schaute nach oben, wartete, bis das Flugzeug nicht mehr zu sehen war, wartete noch ein paar Minuten, dann riss er sich die Maske wieder herunter. Die anderen folgten seinem Beispiel, einige japsten nach Luft, nachdem sie sich das Gummiteil vom Kopf gezogen hatten.
Nach einer Weile fragte ein untersetzter Mann mit schweißnassem Haar: »War das jetzt wegen der Chemtrails?«
»Was soll denn das sein, Chris?«, hakte Bine nach. »Das war halt ’ne Übung, oder?«
Stephan hob den Kopf, als wolle er sichergehen, dass das Flugzeug nicht zurückkehrte, dann sagte er: »Beides.«
»Seht ihr, hab ich’s doch gesagt!«, rief Chris triumphierend.
»Was denn?« Bine schien nicht zu verstehen.
»Chemtrails! Weißt du etwa nicht, was das ist?«
Bine und noch ein paar andere schüttelten die Köpfe.
»Dann lass dich mal aufklären, Mädchen«, erwiderte Chris und leckte sich über die Lippen. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass Flugzeuge diese Streifen hinter sich herziehen am Himmel?«
»Ach das.« Jetzt nickte sie. »Das sind doch Kondensstreifen.«
»Genau, dabei gibt’s die gar nicht mehr.«
Bine blickte nach oben. »Klar, sieht man doch.«
»Ja, aber eigentlich müsste es sie nicht mehr geben. Flugzeuge verfügen heutzutage über Doppelmantel-Triebwerke.«
»Aha.«
»Ja, und die hinterlassen gar keine Kondensstreifen. Was du da siehst, sind Nanopartikel, die die schön in der Atmosphäre verteilen. Je höher, desto besser.«
»Und wozu?«
»Um das Wetter zu kontrollieren, uns mit Chemikalien gefügig zu machen …«
Bine wiegte skeptisch den Kopf. »Und wer sollen die sein?«
»Die Regierung, die Juden, die Freimaurer, die Moslems, vielleicht auch immer noch die Russen – alle eben, die die Macht übernehmen wollen.«
Jetzt verzog sich der Mund der Frau zu einem spöttischen Grinsen. »Klar. Wahrscheinlich auch die von der Wettervorhersage, damit sie sagen können: Seht ihr, wir haben recht gehabt.«
Jetzt wandte sich Chris an Stephan. »Sie glauben es doch auch, oder? Deswegen die Gasmaske.«
Stephan hatte keine Lust, sich an der Diskussion zu beteiligen. Was er glaubte und was nicht, ließ sich nicht in einem Satz beantworten. »Hier kann jeder glauben, was er will. Lasst uns weitermachen. Hat jemand noch Fragen zu dem, was wir heute besprochen haben?«
»Ja, ich«, meldete sich ein schmächtiger Mann. Typ Finanzbeamter , dachte Stephan. »Ich wüsste gern noch etwas.«
Die Unterwürfigkeit in seiner Stimme war in etwa so groß wie die Verachtung, die Stephan deswegen für ihn empfand. »Wie sieht es denn aus mit einer lokalen Betäubung, wenn man mal jemanden nähen muss? Gibt es da irgendwas, was man benutzen kann? Eine Wurzel, ein Gras?«
Piss einfach auf die Wunde , hätte Stephan beinahe geantwortet, und wahrscheinlich hätten die Schafe vor ihm genickt und es in ihre Survival-Notizbücher geschrieben. Die Wut stieg wieder in ihm auf. »Klar, in der Wildnis gibt es eine wunderbare lokale Betäubung. Findest du gleich neben dem Asia-Restaurant und der Massagepraxis«, blaffte er. »Wenn ihr eine Verletzung habt, die genäht werden muss, macht ihr Folgendes …« Er nahm ein olivgrünes Päckchen aus einer seiner Hosentaschen, packte eine Nadel aus, führte einen Faden durch die Öse, zog sein Shirt aus, was neben weiteren Narben auch beachtliche Muskelpakete zum Vorschein kommen ließ, und begann, eine imaginäre Wunde auf seinem Bauch zu nähen. Er verzog keine Miene, während er immer wieder durch das Fleisch stach. Die Kursteilnehmer waren entsetzt. Mit ungläubigen Blicken folgten sie seiner Hand, suchten in seinem Gesicht nach Anzeichen des Schmerzes. Einer wandte sich ab und übergab sich, doch diesmal machte sich niemand darüber lustig. Eine andächtige Stille lag über der unwirklichen Szenerie – bis Martin von hinten rief: »So, Leute, Feierabend für heute, das Barbecue ist fertig.«
Das ließ sich die Gruppe nicht zweimal sagen. Alle eilten Richtung Feuer. Stephan, der nun ganz allein dasaß, zog die Nadel aus seiner Haut und verstaute sie wieder in seinem Notfallpäckchen. »Barbecue …«, zischte er verächtlich.
»Willst du auch was?«, fragte Martin, der zu ihm herübergekommen war.
»Nein. Aber verrat mir eins: Was hilft es denen noch mal genau, wenn sie sich hier zum gemütlichen Grillen versammeln?«
»Es hilft uns , Stephan. Dir und mir. Dann haben die Leute nämlich Spaß und empfehlen uns weiter. Oder kommen vielleicht sogar wieder. Positive Erlebnisse, verstehst du?« Martin fasste in seine Hemdtasche und zog ein Bündel Geldscheine heraus. »Hier«, sagte er und hielt es Stephan hin. Dann aber besann er sich, fingerte einen Hundert-Euro-Schein heraus und steckte ihn wieder ein. »Das ist Schmerzensgeld für Thommi, damit er nicht auch noch auf die Idee kommt, einen Anwalt zu konsultieren.«
Widerspruchslos nahm Stephan das restliche Geld. »Die Leute kommen wegen mir, das weißt du.«
Martin sah ihn an und nickte. »Ja, aber irgendwann kommen sie wegen dir nicht mehr, und das weißt du auch.«