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»Na, Herr Fink, wo haben Sie denn diesmal reingelangt? Ihr Ringfinger ist ja ganz schön ramponiert.«
Kerstin Weinert beugte sich konzentriert über den blutenden Fingernagel, tupfte ihn mit einer Sterilisationslösung ab und begann, eine Mullbinde darum zu wickeln.
»Den müssen Sie jetzt aber sauber halten. Nicht dass Sie mir wieder eine Wundinfektion bekommen.« Die Ärztin zwinkerte dem Hausmeister zu. Fink war die gute Seele der Klinik. Er kannte alle Mitarbeiter beim Namen, war immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte, und schaffte es sogar, durch kleine Gefälligkeiten oder Notreparaturen den allgegenwärtigen Renovierungsstau ein wenig erträglicher zu machen. Das war auch nötig, denn es fehlte an Geld – für einen Neubau sowieso, aber auch für dringend notwendige Sanierungen und natürlich für mehr Personal. Vielleicht war es gerade diese Tatsache, die sie alle hier besonders zusammenschweißte. Sie verstanden sich als Team. Ein Team, das hier, in einer Kreisklinik mitten in der brandenburgischen Provinz, sein Bestes gab. Und dazu gehörte ab und an, die Wehwehchen von Herrn Fink zu verarzten, auch wenn sich auf Kerstin Weinerts Schreibtisch wie immer die Patientenakten stapelten. Andererseits: Ihr Nachtdienst hatte gerade erst begonnen, und sie hatte noch den ganzen Abend Zeit für den Schreibkram.
»So, fertig.« Zufrieden schnitt sie den Rest der Bandage ab, rollte auf dem Hocker nach hinten und warf ihre Einweghandschuhe in den Papierkorb. »Sie auch?«, fragte sie, als sie sich einen Filterkaffee in die Tasse mit der Aufschrift »doctor fueled by coffee« schenkte, ein Präsent der Kollegen zum Abschluss ihrer Praktikumszeit. Sie nahm einen kräftigen Schluck und verzog das Gesicht. War diese Plörre warm schon kaum genießbar, wurde sie kalt zum regelrechten Brechmittel.
»Lieber nicht«, antwortete der Hausmeister angesichts ihrer Miene.
»Wird besser sein«, gab sie lachend zurück. »Dann sind wir fertig, Herr Fink. Morgen früh kommen Sie zum Verbandswechsel, bevor ich nach Hause geh, ja?«
»Danke, Frau Doktor. Wissen Se, heute war wieder Revision von die janze Notstromaggregate, und da is mir so ’ne rostige Klappe aufn Daumen jeknallt. Das Zeug ist doch uralt und wird nie jebraucht. Das läuft nur noch für die Überprüfung, die die Korinthenkacker von der Klinikaufsicht alle halbe Jahre hier veranstalten. Aber so sind nu mal die Vorschriften.«
»Jaja, die Vorschriften. Wenn wir die nicht hätten …«, seufzte Kerstin Weinert vielsagend.
»Dann jinge es uns allen besser«, ergänzte der Hausmeister und knöpfte sich seinen Hemdsärmel zu. »Im Moment sind se da aber ooch besonders penibel. Irjend so ’ne Studie, hat der Typ vom Amt jesagt. Hat erjeben, dass im Falle eines Stromausfalls …« Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn ein ohrenbetäubender Lärm zerriss die abendliche Stille in der Notaufnahme.
Ehe sie begriffen, was da passierte, flogen ihnen die Splitter der Fensterscheibe um die Ohren. Instinktiv zogen Kerstin Weinert und der Hausmeister die Köpfe ein. Zu Tode erschrocken, sahen sie sich in die Augen, wagten nicht, sich zu bewegen, bis sie sich vom ersten Schock erholt hatten.
»Wat warn dat nu wieder?«, fragte der Hausmeister und blickte durch das zerbrochene Fenster in die Dunkelheit.
Kerstin Weinert suchte mit den Augen den Boden ab. Ein Pflasterstein lag inmitten der Glassplitter. Immerhin, kein Schuss. Es hatte in der Vergangenheit ein paar Drohungen gegen das Krankenhaus gegeben, weil hier immer wieder unbürokratisch Flüchtlinge aus der benachbarten Erstaufnahmeeinrichtung behandelt wurden. Sie hatten diese jedoch nie ernst genommen. Bis jetzt.
Die junge Ärztin ging hinter der Behandlungsliege in Deckung und bedeutete Fink, ebenfalls Schutz am Boden zu suchen, der nächste Stein würde bestimmt nicht lange auf sich warten lassen.
»Nee, die kauf ick mir jetzt, die Burschen«, winkte der Hausmeister ab und stürzte zur Tür. »Dat sind bestimmt diese Rotzbengel, die immer alles mit ihren Hakenkreuzen beschmieren.«
»Herr Fink, nicht! Wer weiß, vielleicht sind die gefährlich.«
Doch der Mann war bereits aus der Tür. »Hunde, die bellen, beißen nicht«, rief er noch.
Kerstin Weinert blieb zusammengekauert hinter dem Tisch. Sollte der Alte doch den Helden spielen, sie verspürte keinerlei Lust, gleich ein Loch im Kopf zu haben.
Keine Minute später war der Hausmeister zurück. »Sie müssen kommen, Frau Doktor! Da liegt eener. Mitten auf der Zufahrt. Kommen Se, schnell!«
»Herr Fink, meinen Sie nicht, wir sollten die Polizei …?«
»Nix Polizei, dem jeht’s nich jut. Sie müssen helfen! Ick hol noch ’n paar Pfleger oben uff Station!«
Mit zitternden Knien erhob sich die Ärztin. Sie konnte ihren Puls in der Halsschlagader spüren. Vorsichtig betrat sie den Gang und ging auf die elektrische Tür zu, wo sie mit dem Pförtner zusammentraf. Fink hatte ihn anscheinend bereits in Kenntnis gesetzt. Ob er ihr eine Hilfe sein würde, bezweifelte sie jedoch: Der schmächtige Mann schien noch mehr Angst zu haben als sie selbst.
Sie bedeutete ihm, mitzukommen, was er widerwillig tat, dann traten sie nach draußen. Obwohl der Eingangsbereich nachts beleuchtet war, sah sie nur schemenhaft die Umrisse eines undefinierbaren Bündels auf der Zufahrt liegen. Ob da ein Mensch lag?
Sie bewegte sich langsam, vorsichtig. Wer konnte schon wissen, ob das nicht eine Falle war, die sich eines dieser kranken Hirne da draußen ausgedacht hatte? Am Ende war es wieder der Perverse, der sie vor ein paar Monaten nach der Spätschicht vom Fahrrad ziehen wollte. Die Polizei hatte wenig Interesse gezeigt, nach ihm zu suchen, und ihr lapidar zu verstehen gegeben, dass sie eben besser nicht nachts allein durch die Gegend radeln sollte.
Kerstin Weinert zitterte jetzt am ganzen Körper. Sie hatte das Bündel noch nicht erreicht, da hörte sie einen Motor aufheulen. Scheiße, also doch eine Falle! Sie wollte zurückrennen, aber ihr Körper dachte nicht daran, zu gehorchen. Starr stand sie da, sah den Wagen aus der Parklücke fahren, mit Vollgas, unbeleuchtet. Jetzt würde er auf sie zurasen und sie …
»Kerstin, komm rein, wir rufen die Polizei, wer weiß, was da los ist.« Frank, ein Oberarzt aus der Geburtshilfe, rief aus einem Fenster im ersten Stock zu ihr herunter. Ausgerechnet der! Es passte zu diesem schleimigen Widerling mit seinen plumpen Anmachversuchen, dass er Schiss hatte und sich nicht zu ihr ins Freie traute. Die Wut auf ihn verdrängte ihre Angst. Noch dazu hatte das Auto gewendet und raste jetzt in Richtung Straße.
Die Ärztin rannte auf das Bündel zu. Jetzt erkannte sie, dass es eine olivgrüne Decke war, nein, eine Plane. Und sie bewegte sich. Ein klägliches Wimmern drang daraus hervor. Kein Zweifel, dort lag ein Mensch. Ein Mensch, der ihre Hilfe brauchte. Kerstin Weinert ging in die Hocke. »Was ist mit Ihnen?«, fragte sie und zog gleichzeitig die Plane zurück. Als sie sah, was darunter lag, entfuhr ihr ein spitzer Schrei.
Keine fünf Minuten später lief Kerstin Weinert wieder völlig rund. Sie war Internistin und ausgebildete Notärztin, sie wusste, wie man sich in Extremsituationen professionell und ruhig verhielt. Auch wenn es sich bei ihrer Patientin um ein übel zugerichtetes Mädchen handelte, das offensichtlich einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Um die Frage, wie es in die Klinikeinfahrt gekommen war, würde sie sich später kümmern, jetzt zählten erst einmal andere Dinge.
Den Blick auf ihre Patientin gerichtet, die von zwei Pflegern auf einer Liege durch die Krankenhausgänge geschoben wurde, diktierte sie in sachlichem Ton in ihr Aufnahmegerät: »Das Mädchen hat eine stark blutende Wunde am linken Oberschenkel, Kopfplatzwunde, Schürfwunden am Oberkörper und an den Beinen. Abwehrverletzungen an den Unterarmen. Vermutlich starker Blutverlust. Schnittwunden am Hals und an den Händen sowie Einblutungen im Gesicht, wahrscheinlich als Folge einer Strangulation. Nicht ansprechbar.« Sie schaltete das Gerät wieder aus. Das war wirklich starker Tobak, sie hoffte nur, dass die Kleine keine inneren Verletzungen hatte.
Dann wandte sie sich an die beiden Pfleger: »Ich brauche ein EKG. Außerdem Sauerstoffsättigung, Röntgen und Schädel-CT.« Die beiden Pfleger nickten. Kerstin Weinert fasste die Hand des vielleicht sechzehnjährigen Mädchens. Sie war bildschön, das konnte man selbst in diesem Zustand sehen. Ihre dunkle Hautfarbe bildete einen harten Kontrast zum blassen Teint der Ärztin und ließ den Zustand des Mädchens weniger schlimm erscheinen, als er wirklich war.
Die Plane, in der sie eingewickelt gewesen war, hatte sich als Armeeponcho herausgestellt. Er lag nun zusammen mit ihren schweren Stiefeln am Ende der Liegefläche. »Wird schon wieder, Kleine«, murmelte sie der Jugendlichen aufmunternd zu, obwohl die bislang nicht reagiert hatte. Dann wandte sie sich wieder an die Pfleger: »Bringt sie in OP drei und legt ihr einen Zugang mit Ringerlösung, bis das Laborergebnis da ist. Ach ja: Blutbild und Blutgruppe bräuchten wir auch.«
Auf einmal ging ein Ruck durch die junge Patientin. Sie schlug die Augen auf, hustete schwer, wobei sie etwas Blut ausspuckte. Dann brabbelte sie leise etwas vor sich hin. Die Ärztin verstand kein Wort, beugte sich zu ihr und hielt ihr Ohr an ihre Lippen. »J’ai dix-sept ans. Je pèse cinquante kilos. J’ai le groupe sanguin A. Je ne suis pas d’ici, j’ai perdu mon groupe de voyage. J’ai besoin d’assistance médicale.«
Mist, das musste Französisch sein – aber Fremdsprachen waren noch nie Kerstin Weinerts Stärke gewesen. »You are from France?«
»Ho diciassette anni. Peso cinquanta chili. Il mio gruppo sanguino …«
Das klang nun gar nicht mehr französisch. Eher italienisch. »Sorry, do you speak English?«, unterbrach die Ärztin den heiseren Singsang.
»Ho perso il mio …«
»Hör doch mal, sprichst du deutsch?«
»Tengo diecisiete años. Peso cincuenta chilos. Mi tipo de sangre es …« Spanisch, keine Frage! Kerstin wandte sich an einen der Pfleger, einen drahtigen jungen Mann mit schwarzem Wuschelkopf. »Sag mal, Balta, kommst du nicht aus Mexiko?«
»Sí claro.«
»Hör doch mal, verstehst du, was die Kleine sagt?«
»… mi grupo de viaje. Necessito ayuda medica.«
»Sie sagt, dass sie ihre Reisegruppe verloren hat und medizinische Hilfe braucht.«
»Frag sie mal, wie sie heißt.«
»¿Como te llamas?«
»I am seventeen years old. My weight is fifty kilos. My blood type is A. I am not from here. I’ve lost my travelgroup. I need medical assistance.«
Kerstin zog die Brauen zusammen. »I see. But what’s your name? What happened? Who brought you here?«
Die Jugendliche zeigte keine Regung, sondern murmelte einfach weiter. »Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich wiege fünfzig Kilo. Meine Blutgruppe ist A. Ich bin nicht von hier. Ich habe meine Reisegruppe …«
»Fuck!«, schimpfte Kerstin Weinert. Was immer diesem Mädchen zugestoßen war, es musste heftig gewesen sein. Davon zeugten nicht nur ihre äußeren Verletzungen. Auch ihre geistige Verfassung schien desolat. »Ruft jemand die Polizei, bitte? Wir versorgen sie jetzt erst mal, dann werden wir hoffentlich bald wissen, wer unsere junge Patientin hier ist und was man ihr angetan hat.«