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Zwei Stunden zuvor
Es war für Stephan ein Kinderspiel gewesen, den fast zwanzig Jahre alten Honda Civic zu knacken und ohne Schlüssel zu starten. Das zweite Auto innerhalb von zwei Tagen, das er hatte klauen müssen. Aber er hätte den Wagen, mit dem sie Cayenne an der Klinik abgeliefert hatten, schlecht vor dem Campingplatz parken können. Sicher suchte man bereits danach.
Jetzt fuhren er und Joshua Richtung Krankenhaus. Gut zwanzig Kilometer hatten sie vor sich. Der Tank war halb voll, der Sprit würde locker auch für die Rückfahrt reichen. Joshua saß schweigsam auf dem Beifahrersitz. So still hatte er den Jungen lange nicht erlebt. Der Schock über den Angriff auf seine Schwester saß tief, das merkte er. Und auch Stephan bekam die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Noch dazu, weil sie vorher gestritten hatten. Weil Cayenne nur deswegen abgehauen war. Weil es seine Schuld war.
Joshua und Stephan waren ihr hinterhergelaufen, doch es hatte lange gedauert, bis sie sie gefunden hatten. Zu lange.
»Du wusstest sofort, was los ist, oder?« Der Junge stellte die Frage ganz leise. Ihre Gedanken kreisten also um dasselbe Thema, denselben Moment.
»Irgendwie schon. Zum Glück waren wir ganz in der Nähe und haben ihren Schrei gehört. Sonst …« Stephan verstummte.
Joshua wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Er wollte offensichtlich stark wirken. »Meinst du, sie packt das überhaupt?«, fragte der Junge mit belegter Stimme.
Stephan versuchte sich in Zweckoptimismus: »Na klar! Sie ist bestimmt schon wieder munter, kennst sie doch«, sagte er wenig überzeugend.
»War das irgendein Perverser oder waren … die das?«
Stephan zögerte. »Ich … Jo, weißt du, das …«
»Also ja? Fuck, wir werden alle sterben. Einer nach dem anderen.«
Als Stephan zu ihm hinübersah, bemerkte er, wie bleich der Junge war. Er zitterte am ganzen Leib. Wenn er sich nicht beruhigte, konnten sie ihren Plan vergessen.
»Nein«, sagte Stephan, so bestimmt es ihm möglich war. »Keiner von uns wird sterben. Nicht jetzt. Nicht durch irgendeinen Angriff, verstehst du? Dazu sind wir viel zu stark, viel zu gut vorbereitet. Niemand ist so blöde und greift uns an.«
»Warum liegt Cayenne dann im Krankenhaus?«
»Weil sie allein war, Jo. Wir müssen zusammenbleiben, aufeinander aufpassen. Darum fahren wir jetzt da hin, okay?«
»Aber Cayenne hat doch …«
»Cayenne hat überlebt. Wir sind in Topform. Und wir können kämpfen. Alle drei.« Das war nicht mal gelogen, fand Stephan. Und sie würden es bald erneut unter Beweis stellen müssen.
Joshua schniefte, dann sagte er mit festerer Stimme: »Genau, wenn’s drauf ankommt, können wir kämpfen.«
Den Rest der Fahrt sprachen sie nicht mehr.
Um exakt 17.16 Uhr bogen sie auf den Patientenparkplatz direkt vor der Kreisklinik. Niemand nahm Notiz von dem unauffälligen Wagen oder seinen Passagieren.
»Können wir nicht beim nächsten Mal ein richtig cooles Auto nehmen? Einen Pick-up? So ’nen Ami vielleicht?«, fragte Joshua. Er schien deutlich besser drauf zu sein als noch vor ein paar Minuten.
»Zu auffällig. Und nichts ist leichter zu beschaffen als ein alter Honda.«
Der Junge war enttäuscht. Stephan stellte den Motor ab und stieg aus, schnappte sich den kleinen Rucksack von der Rückbank und bedeutete seinem Beifahrer mit dem Kopf, ebenfalls das Auto zu verlassen. Das Einzige, was einem Betrachter hätte seltsam vorkommen können, war der Umstand, dass weder der schwarz gekleidete, athletische Mann am Steuer noch sein gerade mal halb so alter Begleiter den Wagen abschlossen. Wie auch, sie besaßen ja keinen Schlüssel für das Gefährt. Die Verkleidung der Lenksäule war abgerissen, die Lenkradsperre mit roher Gewalt gebrochen und im Zündschloss steckte ein abgefeilter Schraubenzieher. Die Fahrertür war geknackt. Und die Kennzeichen gehörten eigentlich zum VW Golf einer alten Dame, die ihr Auto nur selten benutzte. Sie hatte den Diebstahl wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt.
Die beiden gingen zum Eingang des Cafés neben dem Hauptportal der Klinik.
»Also, du weißt Bescheid. Mein Zeichen: zweimal hintereinander kurz das Licht aus«, zischte Stephan Joshua zu. »Dann rennst du los und tust, was wir besprochen haben. Du bist dir ganz sicher mit der Zimmernummer?«
Der Junge nickte. »Es ist das einzige, vor dem ein Polizist sitzt.«
»Okay, verhalte dich möglichst unauffällig. Keine laute Musik, keine Spielereien mit dem Messer. Und untersteh dich zu rauchen, ja? Ich beginne, sobald es dunkel ist. Dann brichst du auch zu deinem Standpunkt auf. Klar?«
»Klar«, antwortete der Junge. Er war nervös, das sah Stephan. Die Situation war neu für ihn – und anscheinend ziemlich aufregend. Sie klatschten sich ab, und Stephan betrat das Café. Der Junge blickte ihm nach, dann verschwand er hinter der nächsten Ecke und zündete sich erst einmal eine Zigarette an.
Als Stephan in den Gastraum kam, bemerkte er sofort den schalen Geruch. Angewidert verzog er das Gesicht. Es roch nach Krankenhaus, Kantinenfraß und Filterkaffee, eine Mischung, die ihn für einen Moment würgen ließ. Was für ein schrecklicher Ort! Beklemmung stieg in ihm hoch. Hier würde er keinen Bissen herunterbekommen. Aber er war ja auch nicht zum Essen gekommen, für ihn war das Bistro nur eine Möglichkeit, in der Menge unterzutauchen, bis es so weit war. Er stellte sich an der SB-Theke hinter einem Typen im Bademantel an, der von einer Frau und zwei um ihn herumhüpfenden Kindern begleitet wurde. Eines der beiden, ein Mädchen mit asymmetrischen Zöpfen, blickte kurz zu Stephan und erstarrte daraufhin regelrecht. Sie wandte sich ihm zu, stierte ungeniert, als sehe sie zum ersten Mal einen Menschen mit …
Scheiße, die Narbe, dachte er.
Das Mädchen zupfte ihren Bruder am Ärmel und machte ihn auf ihre Entdeckung aufmerksam. Der jedoch fing bei Stephans Anblick gleich an zu weinen. Nun bemerkten auch die Eltern die Veränderung im Verhalten ihrer Kinder. Die Frau nahm den weinenden Jungen auf den Arm. »Was hast du denn, Finn?« Dann schaute sie zu ihrer Tochter, sah ihren starren Blick, folgte ihm und wich entsetzt einen Schritt zurück.
Verdammt, sein Ziel, unauffällig zu bleiben, löste sich gerade in Luft auf.
Die Mutter entschuldigte sich fahrig und zerrte ihre Kinder an einen Tisch am anderen Ende des Cafés. Endlich waren die Bälger weg, und er kam an die Reihe. Er bestellte sich einen Cappuccino und ein kleines Bier, womit er sich in eine Ecke im hinteren Bereich verzog.
Hier war zwar der Gestank noch schlimmer, doch Stephan hatte alles im Blick. Und es war nicht weit zur Toilette im ersten Stock, in die er sich in – er blickte auf die Uhr – exakt sechsunddreißig Minuten begeben würde, um von dort aus im Schutz der Dunkelheit auf das Klinikdach zu gelangen.
Noch immer betraten einzelne Menschen das Lokal: zwei Patienten mit ihrem Besuch, dann noch ein Pfleger oder Arzt. Niemand nahm Notiz von dem einzelnen Gast, der mit Jacke und Mütze in der Ecke saß und sein Bier trank.
Mit der Zeit wurde es ruhiger. Bald würde das Lokal schließen. Kurz vor sechs packte Stephan seinen Rucksack, schob das Tablett mit dem leeren Geschirr in den Rückgabewagen, sah sich kurz um und schlich dann unbemerkt hinauf zur Herrentoilette. Zunächst sondieren, ob die Luft rein ist , sagte er sich und musste schmunzeln über dieses für ein Scheißhaus vielleicht nicht ganz passende Bild.
Der Bistromief war hier weniger schlimm, er wurde allerdings abgelöst von einem stechenden Geruch nach Urin. Er blickte kurz in den Spiegel über den Waschbecken und war zufrieden über die Entschlossenheit, die ihm entgegenblickte. Wenn es drauf ankam, funktionierte er – und das würde außerordentlich wichtig sein in nächster Zeit. Lebenswichtig. Denn die Konfrontation, die er gesucht hatte, war früher eingetreten als erwartet.
Lautlos zwängte er sich mit dem Rucksack in die letzte Kabine mit dem kleinen Milchglasfenster, das aufs Flachdach führte. Er setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel. Unter der Jacke schwitzte er bereits, aber noch brauchte er sie.
Unten würden jetzt wahrscheinlich die Türen geschlossen und die Stühle hochgestellt, so hatten sie es auch gestern gemacht. Niemand war mehr nach oben gegangen. Er hoffte, dass das auch heute der Fall sein würde. Vorsichtshalber drehte er aber am Griff des Fensters, zog es einen Spalt auf und schob schon mal den Rucksack hindurch. Im Notfall wäre er so schneller draußen. Er selbst wartete ab, bis es noch dunkler wurde. Ruhig starrte er auf die Klotür, auf die jemand mit Kuli einen Schwanz gemalt hatte mit einer Telefonnummer darunter.
Im Kopf ging er alle bevorstehenden Schritte noch einmal durch: zuerst aufs Dach, dann die kurze offene Fläche bis hinüber zum Patiententrakt. Das war die heikelste Stelle, dabei konnte er am ehesten gesehen werden. Er musste schnell sein.
»Fuck«, entfuhr es ihm plötzlich. Er hatte ein Geräusch gehört. Die Tür zum Vorraum der Toilette wurde geöffnet. Er entriegelte den Verschluss seiner Kabine und zog die Beine hoch. Abgesperrt konnte er die Tür nicht lassen, dadurch würde er sofort auffliegen. Wenn jemand kontrollieren kam, würde er sich vielleicht nicht die Mühe machen, jede Toilette einzeln zu öffnen. Wenn doch, hätte er Pech gehabt. Und der andere erst recht. Er zog sein Messer aus der Seitentasche seiner Hose und steckte es in die Jacke. Die Schritte auf dem gekachelten Boden hallten in dem kleinen Raum wider. Noch immer auf die Kloschüssel gekauert, hielt er den Atem an. Zwei Kabinen weiter wurde eine Tür aufgestoßen, dann hörte er es plätschern. Er atmete erleichtert auf. Anscheinend musste da tatsächlich nur einer pissen. Und der fing jetzt auch noch an zu pfeifen. Gut so, dadurch nahm er die Geräusche um sich herum weniger deutlich wahr. Das Plätschern versiegte erst nach einer Minute, da hatte es wirklich jemand nötig gehabt. Und das schräge Gepfeife wurde immer lauter. Dancing Queen , schoss es ihm durch den Kopf. Er kannte nicht viele Songs, vor allem keine aktuellen, aber an diesen erinnerte er sich. Die Tür flog erneut gegen die Trennwand, dann entfernten sich die Schritte.
Die Sau hat nicht mal runtergespült , schoss es ihm durch den Kopf. Er wusste selbst nicht, warum ihn das überhaupt interessierte.
Vorsichtig lugte er nach draußen und fand, dass es mittlerweile dunkel genug war. Noch so eine Beinahe-Entdeckung brauchte er wirklich nicht. Er zog sich durch die Luke nach draußen und wartete, bis auch der letzte Rest Dämmerung verzogen war.
Geduckt rannte er los. Der Kies knirschte lauter unter seinen Schuhen als gedacht, dennoch gelangte er unentdeckt zum hoch aufschießenden Zimmertrakt. Kraftvoll sprang er ab und bekam den Holm des Geländers zu fassen, das an sämtlichen Patientenzimmern vorbeiführte. Mit einem Klimmzug zog er sich nach oben und legte sich sofort flach auf den Metallboden des Balkons. Der Gitterrost machte einen Riesenlärm, er würde sich vorsichtig fortbewegen müssen.
Er lugte auf den Platz vor der Notaufnahme, die ein Stückchen unterhalb lag. Alles war hell erleuchtet, heller als gestern, glaubte er. Das Gesicht auf das Gitter gepresst, sah er unten einen Sanitäter stehen und rauchen.
Hatte der nicht gerade noch hergesehen? Jetzt zog er sein Handy aus der Westentasche, drückte darauf herum und hielt es sich ans Ohr.
Fuck! Gestern hatte alles so leicht ausgesehen.
Unten öffnete sich die Schiebetür der Notaufnahme, und ein weiterer Sanitäter schob eine Krankentrage heraus, die er im Rettungswagen verstaute.
Als sein rauchender Kollege ihn bemerkte, steckte er sein Handy weg, klappte einen Flügel der Hecktür zu und stieg ein. Kurz darauf fuhr der Krankenwagen vom Hof.
Zum zweiten Mal heute hatte er Glück gehabt. Langsam robbte er vorwärts, das Gesicht knapp über dem Gitterboden. Ein Zimmer, noch eines, das dritte, dann war er da. Er drehte seinen Körper im Liegen halb nach oben und atmete auf. Dass das Fenster gekippt war, würde ihm einiges an Arbeit ersparen. Er holte die vorbereitete Drahtschlinge aus der Tasche und führte sie durch den Spalt.
Ob Cayenne schon etwas bemerkt hatte? Wenn sie nur nicht anfing zu schreien. Er hatte noch gut im Ohr, wie sie bei ihrem Überfall gebrüllt hatte.
Ein Zug am Draht, schon drehte sich der Fenstergriff nach oben.
Eine Schande, wie schlecht gesichert deutsche Krankenhäuser waren, dachte er und musste grinsen. Dann drückte er die Glastür auf und ging leise auf das Bett zu.
Das Mädchen schlief.
Umso besser.