16
Luong Chu musste nicht lange nach seinem Ziel suchen, obwohl er zum ersten Mal in Templow war. Eigentlich gab es keinen Grund, die Hauptstadt für dieses märkische Nest zu verlassen. Dabei war es hier wahrscheinlich mal ganz idyllisch gewesen. Bevor die jungen Leute weggezogen waren, um in Berlin oder sonst wo ihr Glück zu suchen. Die Hälfte der Häuser, an denen Chu vorbeifuhr, schien leer, von anderen bröckelte der Putz, während blinde Fensterscheiben den Blick nach innen verwehrten.
Andreas Klamm hatte wohl genau nach einem solchen Ort gesucht. Er war schon immer ein Eigenbrötler gewesen.
Sein kleines Haus lag am Waldrand in einem verwilderten Grundstück, das von einem rostigen Zaun umgeben war. Viel Miete hatte er dafür bestimmt nicht gezahlt. Neben dem Haus, das sich unter den gewaltigen Bäumen zu ducken schien, stand eine baufällige Garage. Beides war in einem schmutzigen Grau getüncht. Chu hatte sich oft gefragt, ob den Leuten diese Farbe so gut gefallen hatte oder ob man zu DDR-Zeiten einfach an keine andere rangekommen war.
Je näher er dem Grundstück kam, desto heller zuckten die blauen Lichter der Einsatzwagen durchs Gestrüpp. Außer den Polizeiautos parkten auch zivile Kombis und Transporter vor dem Haus; ein Mann und eine Frau in Uniform hatten sich am Gartentor postiert, während dahinter Menschen in weißen Overalls geschäftig herumliefen.
Chu stellte Jürgen Wagners Tesla, den der ihm für die Fahrt zur Verfügung gestellt hatte, am Straßenrand ab und atmete tief durch. Ihm schwante, dass es trotz Wagners Vermittlung im Hintergrund nicht ganz einfach werden würde, den Provinzpolizisten begreiflich zu machen, dass er sich im Haus umsehen musste. Lieber hätte er das allein erledigt. Wobei das nicht nur für diese Situation galt. Wenn möglich, mied er andere Menschen.
Aber Wagner brauchte ihn jetzt, also steckte er sein Smartphone ein, strich sich über den kahl rasierten Schädel und stieg aus. Auf dem Kopfsteinpflaster hatte sich der einsetzende Regen mit dem Dreck dieses Kaffs zu einem schmierigen Film vermengt. Vorsichtig setzte Chu seine Schritte. Er war noch nicht weit gekommen, da lief der Mann in Uniform bereits auf ihn zu. »Polizei. Das hier ist alles abgesperrt, entfernen Sie sich bitte«, rief er wild mit den Armen fuchtelnd, noch bevor er Chu erreicht hatte. Der hob beschwichtigend eine Hand und holte seinen Personalausweis aus der Jacke, den er dem Mann unter die Nase hielt.
Er vermied es, mit Fremden zu sprechen. Auch wenn er die deutsche Grammatik einigermaßen beherrschte, bekam er diesen ganz bestimmten Singsang, der seine vietnamesische Herkunft verriet, nicht weg. Und das erschwerte ihm bisweilen die Erfüllung seiner Aufgaben. Auch wenn er nicht vorhatte, irgendwas anderes zu sein als das, was er war: der Mann fürs Grobe eines sehr einflussreichen Freundes. Seines einzigen Freundes. Seit sich vor vielen Jahren ihre Wege gekreuzt hatten, sorgte Jürgen Wagner dafür, dass es Chu an nichts mangelte. Viel brauchte er sowieso nicht: einen Platz zum Schlafen und Anonymität. Seine handgenähten Schuhe und die Lederjacken mit den daraufgestickten Drachen waren alles, was er sich an Luxus erlaubte. Und die paar Samurai-Schwerter, von denen er sich ab und zu eines gönnte.
Im Gegenzug sorgte Chu dafür, dass Wagner den Kopf frei hatte für seine wichtigen Geschäfte. Lästige Probleme löste er für ihn.
»Aha, Herr … Chu Luong. Und jetzt? Soll ich Ihnen ein Autogramm auf den Ausweis geben, oder was?«, fragte der Uniformierte gelangweilt.
Chu seufzte. Wortlos kam er hier wohl nicht weiter. »Man hat mich hier bestellt«, sagte er.
»Verena, hast du was zu essen bestellt?«, rief der Mann seiner Kollegin über die Schulter zu. Sie verstand offensichtlich nicht.
Chu hingegen hatte sofort kapiert. Sein Gegenüber war nicht der Erste, der diesen Witz machte. Unter anderen Umständen hätte der Mann das bereut. Doch hier war das leider nicht möglich.
»Was ist, Verena, willst du etwa so früh am Morgen schon Hühnchen süß-sauer?«
Chu blickte ihm unbeeindruckt in die Augen, während die Polizistin, der die Aktion peinlich zu sein schien, an ihrem Funkgerät herumnestelte. Er ging ein paar Schritte zurück, zückte sein Handy und wählte die Nummer von Jürgen Wagner.
»Telefonieren Sie woanders, hier werden Ermittlungen durchgeführt«, rief ihm der Polizist nach.
Wagner regte sich furchtbar darüber auf, dass man sich auf niemanden mehr verlassen könne. Dann versprach er Chu, dass er die Sache gleich klären würde, diesmal an höchster Stelle, und beendete das Gespräch. Chu blieb stehen und wartete.
»Wenn Sie jetzt nicht freiwillig gehen, erteile ich Ihnen einen Platzverweis.« Der Polizist ließ nicht locker.
Chu blickte ihn aus kalten Augen an. Er hätte ihm mit einem einzigen Handkantenschlag den Kehlkopf zertrümmern können. Doch er verspürte keine Wut. Dieser nichtssagende Typ war ihm gleichgültig. Ein unbedeutendes Hindernis, das sein Leben für ein paar Minuten erschwerte.
»Sind Sie Herr Luong?« Vor dem Haus erschien ein Mann um die fünfzig in einem schlecht sitzenden blauen Anzug. Sein schütteres Haar wurde vom auffrischenden Wind durcheinandergewirbelt.
Chu nickte.
Der Anzugträger winkte ihn zu sich. »Beer, von der Staatsanwaltschaft. Das BKA hat mich gerade erst über Ihr Kommen informiert. Tut mir leid, falls Sie Unannehmlichkeiten mit den Kollegen von der Schutzpolizei hatten.«
Der Uniformierte musterte Chu mit verdutzten Blicken, als der an ihm vorbeiging, ohne ihn anzusehen. Er hatte den Mann schon so gut wie vergessen.
Chu folgte Beer durchs nasse Gras. Interessiert betrachtete er die Schnüre, die überall im Garten gespannt waren. Klamm hatte nichts von seiner Paranoia verloren.
Herr Beer stellte Chu seinen Kollegen als externen Experten des BKA für Verbrechensbekämpfung im Bereich politisch motivierter Kriminalität vor. Hörte sich einschüchternd an, fand Chu. Zumindest, wenn der Anzugtyp es sagte. Er fragte sich, ob es irgendwelche Türen gab, die Jürgen Wagner nicht mithilfe seiner weitverzweigten Beziehungen öffnen konnte.
»Herrn Luong Chu hier ist Zugang zu allen Räumen zu gewähren«, sagte Beer laut in die Runde, als sie das Haus betreten hatten. Dann wandte er sich wieder an Chu. »Ich bin informiert worden, dass Sie am liebsten in Ruhe gelassen werden, um in aller Konzentration zu arbeiten, aber falls Sie Fragen haben, zögern Sie bitte nicht.« Dann musterte ihn Beer noch einmal von oben bis unten – anscheinend wunderte er sich ein wenig über Chus legeren Aufzug. Aber vielleicht hatte er in seiner langen Dienstzeit gelernt, wie karriereschädlich Nachfragen sein konnten, und beließ es dabei.
Chu begann, sich im Haus umzusehen. Endlich hatte er Ruhe. Er ging über einen kleinen Korridor mit rissigem Linoleumbelag in die Küche: Überall stand dreckiges Geschirr, dazwischen Reste von billigem Essen – Fast Food, Pizzaschachteln, Pommes. Klamm war im Grunde schon immer schwach gewesen. Doch dass er sich so hatte gehen lassen …
Die Aschenbecher quollen beinahe über, der Großteil der Kippen war selbst gedreht. Keine Disziplin, keine Selbstbeherrschung. Chu verachtete diese Art der Lebensführung. Er selbst brauchte den Verzicht, das regelmäßige Hungern, die Selbstüberwindung. Fett hatte an einem Körper nichts verloren. Ein wacher Geist und geschmeidige Muskeln waren Voraussetzungen für die Beherrschung der asiatischen Kampfkünste. Wachsam und flink zu sein war sein oberstes Ziel. Hier hingegen sah alles nach Nachlässigkeit und Trägheit aus. Hätte ihn nicht jemand anderes erwischt, wäre Klamm sicher bald an seinem Lebenswandel zugrunde gegangen.
»Ekelhaft«, stieß einer der Beamten hervor, die das Haus nach Spuren durchsuchten. Er hielt sich angewidert die Hand vor die Nase.
Chu blendete den Gestank einfach aus. Er verließ die Küche Richtung Wohnzimmer, wo der Mord passiert sein musste. Hier herrschte jedenfalls am meisten Betrieb. Als er an einem Polizisten im weißen Schutzanzug vorbeiwollte, hielt der ihn zurück. Chu seufzte. Würde die Diskussion jetzt von vorn losgehen?
Doch der Beamte hatte andere Gründe, den Besucher vom Betreten des Zimmers abzuhalten. »Einen Moment, bitte, Kollege«, begann der ins Chus Augen ziemlich attraktive Mann: Er war schlank und muskulös, das konnte man selbst unter dem Overall sehen. So ein Aussehen erreichte man nur durch Disziplin, Sport und einen asketischen Lebenswandel, wie Chu ihn selbst auch praktizierte. Viel zu lange hatte er keinen solchen Mann mehr im Bett gehabt.
»Das da drin ist wirklich kein schöner Anblick. Ziemlich krass. Wenn Sie also nicht unbedingt …«
»Ich werde schaffen«, erklärte Chu kurz und versuchte sich an einem Lächeln, dann trat er ein. Er konnte dem Mann schlecht sagen, was er bereits alles in seinem Leben gesehen hatte. Eine Leiche würde ihn ganz bestimmt nicht schocken, egal, wie sie zugerichtet sein mochte.
Das Wohnzimmer roch nach Tod. Chu ließ seinen Blick über eine alte DDR-Schrankwand wandern, bei der bereits einige Türen fehlten. Darin kreuz und quer Papiere, Aktenordner, Bücher, das 60er-Jahre-Geschirr alter Leute. Gegenüber eine abgewetzte Sofagarnitur. Vor der Terrassentür blieb Chus Blick unvermittelt an etwas haften: fein säuberlich geputzte lederne Militärstiefel. Sie waren mit Abstand das Sauberste und Gepflegteste im Haus. Klamm hatte schon früher einen Schuh-Tick gehabt.
Vor dem Fenster ein Schreibtisch, darauf ein Laptop, auf dem einer der Polizisten herumtippte. Auf dem Boden Papiere, Aschenbecher, Flaschen – Spuren eines Kampfes. Klamm hatte sich gewehrt. Chu betrachtete die Leiche, die vor dem Schreibtisch auf einen Stuhl gefesselt war. Das Gesicht war fahl und mit bläulichen Flecken überzogen, der Mund mit den gelben Zähnen stand weit offen, die Zunge quoll seitlich ein Stück heraus. Die Augen waren aus ihren Höhlen getreten und starrten leblos zur Decke.
»Ist mit einem Draht erwürgt worden«, erklärte der attraktive Beamte, der ihm ins Zimmer gefolgt war.
»Garotte«, entfuhr es Chu.
»Wie bitte?«
Chu seufzte. Was waren das für »Experten«, die nicht einmal den Namen dieses einfachen, aber effektiven Mordwerkzeugs kannten? Er zeigte auf Klamms Hals. »Das hier … von Garotte.«
»Ah. Hier in Templow spricht einfach kaum einer Chinesisch, sorry.«
Chu blickte ihn prüfend an. Er war sich nicht sicher, ob der Spruch ernst gemeint oder wieder gegen ihn und seine Herkunft gerichtet war.
Chu ging, ohne darauf zu reagieren, Richtung Terrassentür, starrte in die trostlose Wildnis dahinter, die kaputten Monoblockstühle, den rostigen Gartentisch. Er holte sein Handy aus der Tasche und begann, den Toten aus verschiedenen Perspektiven zu fotografieren. Vor allem die Strangulationsmale am Hals versuchte er möglichst deutlich einzufangen. Niemand behelligte ihn. Dann verschickte er drei der Bilder mit dem Smartphone an Jürgen Wagner, versehen mit einer Nachricht: »Sieht aus wir haben Problem«.