19
Es war ein Tag ganz nach Beat Gigers Geschmack: Im Vierwaldstätter See spiegelte sich ein heiterer Himmel, das Laub der Bäume leuchtete in der Herbstsonne und sein kleines Lokal war voller gut gelaunter Menschen, die sich die riesigen Portionen schmecken ließen. Zufrieden blickte er auf die kleine Gaststube, die hölzernen Tische mit den rot-weißen Deckchen und den Muschelschalen darauf, die farbenfrohen Tücher mit den maritimen Motiven an der Wand – es war ein wilder Stilmix, aber die Leute liebten es. Das Restaurant hatte sich vom Geheimtipp zum Renner entwickelt, seit es im Lonely Planet erwähnt worden war. Das Publikum war noch internationaler geworden, worüber er als Weltbürger sich besonders freute.
»J’ai besoin d’aide.« Seine Frau stand neben ihm, in jeder Hand ein voll beladenes Tablett, was die zierliche Dunkelhäutige noch zerbrechlicher aussehen ließ, als sie sowieso schon wirkte. Dabei täuschte dieser Eindruck, denn sie konnte zupacken. Und dass sie nie ihre gute Laune verlor, war eine der Eigenschaften, die er besonders an ihr liebte. Beat Giger war zufrieden mit seinem Leben, und das war mehr, als er angesichts seiner Vergangenheit hatte erwarten können. »Natürlich helf ich dir, ma petite«, säuselte er, schnappte sich eines der Tabletts und setzte seinen massigen, einst muskulösen Körper in Bewegung. Ein stechender Schmerz in seinem Knie erinnerte ihn daran, dass er die notwendige Operation schon viel zu lange hinausschob.
»Le genou?«, fragte seine Frau besorgt.
Er winkte ab. »Nicht schlimm«, log er. Er hatte gelernt, Schmerzen zu unterdrücken. Genau wie die Erinnerung daran, wo er sich die Verletzung zugezogen hatte, die ihm jetzt zu schaffen machte.
»Table trois«, sagte seine Frau noch, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre, denn so viele Tische hatten sie nicht, und den Garnelensalat mit Appenzeller Käse bestellte selbst bei seinen experimentierfreudigen Gästen nur einer.
»Grüezi, Pirmin, lass es dir schmecken«, sagte Giger, als er den Teller zusammen mit einem Bier vor dem Weißhaarigen mit dem faltigen Gesicht abstellte.
»Riecht guet«, sagte der knapp und schob sich schon die erste Gabel in den Mund. »Fangfrisch?«
»Direkt aus’m See. Wie immer«, gab Giger grinsend zurück und zwinkerte ihm zu. Dann machte er sich auf den Weg zurück in die Küche. Jetzt kam der weniger angenehme Teil seines Berufs. Während das Kochen und der Service ihm und seiner Frau nie langweilig wurden, war das Aufräumen danach nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung. Er seufzte, als er auf die Stapel aus Töpfen, Tellern und Pfannen blickte. Irgendwann würde er jemanden einstellen, dachte er sich wieder einmal und krempelte die Ärmel hoch.
Als seine Frau mit einem »Beat, chéri?« hereinkam, hätte er nicht sagen können, wie lange er schon mit dem Schwamm hantierte. An ihrem Tonfall merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte.
»Il y a un homme …«
»Was für ein Mann? Hat er dich belästigt?« Unwillkürlich spannte Giger seine Muskeln unter dem Hemd an.
»Mais non«, beeilte sie sich zu sagen. »C’est … qu’il … ne veut pas payer.«
Giger schwankte zwischen Erleichterung und Verwunderung. Zechpreller gab es hier in Luzern so gut wie nie. »Will er nicht zahlen oder kann er nicht?«
»Il dit qu’il est invité.«
»Eingeladen soll er sein? Von wem?«
Sie zeigte auf ihn.
»Von mir?«
Seine Frau nickte.
»Der kriegt jetzt gleich die Rechnung präsentiert, aber anders, als er es sich vorstellt.« Er schleuderte den Schwamm so heftig ins Spülwasser, dass es spritzte. »Wo sitzt der arme Irre?« Offenbar kannte ihn der Mann nicht, sonst würde er sich nicht mit ihm anlegen.
»Table deux. L’Asiatique.«
Beat Giger hielt inne. Ein Asiate? Sofort schoss eine Ladung Adrenalin durch seine Adern. Von einigen befreundeten Gastronomen wusste er, dass die chinesische Mafia hier Fuß zu fassen versuchte, Wirte bedrohte und Schutzgeld erpresste. Aber zu ihm hatten sie sich noch nicht getraut. Sie würden ohnehin auf Granit beißen: Er hatte sich geschworen, nie mehr für jemand anderen als sich selbst zu arbeiten.
»Qu’est-ce que tu as?« Seine Frau blickte ihn ängstlich an.
Beat entspannte sich und versuchte zu lächeln. Wenn er sich in Gedanken verlor, blitzte manchmal etwas auf, das den Menschen Angst machte. Etwas, das er tief in sich begraben hatte. »Was ich habe? Nichts. Ich rede mit ihm«, antwortete er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann marschierte er in den Gastraum. Es waren nur noch zwei Tische belegt, einer von einem schwulen Pärchen, Banker, wie er wusste, weil auch sie regelmäßig hierherkamen. An Tisch Nummer zwei saß nur ein einzelner Gast mit dem Rücken zu ihm. Er war schmal und nicht sehr groß, was Gigers Wut noch befeuerte: Glaubte dieser lächerliche asiatische Zwerg, er könnte ihn einschüchtern? Hier, in seinem Laden? Er würde ihm eine Lektion erteilen, die er so schnell nicht vergessen würde. Diese Wut hatte er schon lange nicht mehr gespürt. Früher war die Aggression ein Teil von ihm gewesen. Wie die Kippen und die Flasche. Aber das war ein anderes Leben gewesen. Doch jetzt tat ihm dieser Zorn gut, dieses altvertraute Lodern, das ihn heiß durchströmte. Er gab sich diesem Gefühl hin, und als er hinter dem Tischchen stand, zischte er aus zusammengepressten Zähnen: »Ich kauf keinen von deinen scheiß Karpfen fürs Aquarium, du dreckiges Schlitzauge …«
Beat Giger verstummte augenblicklich, als der Mann sich umdrehte. Er spürte, wie alle Wut von ihm wich und grenzenloser Verzweiflung Platz machte. Er taumelte zum Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und ließ sich kraftlos darauf sinken.
»Du …?«, flüsterte er.
»Tu vas bien?«
Die Stimme seiner Frau drang wie aus weiter Ferne zu ihm. Sie stand neben ihm und hatte die Hand auf seine Schulter gelegt. Er sah auf, erkannte, wie besorgt sie war, und erkämpfte sich ein Stückchen Selbstkontrolle zurück. »Alles gut.«
Sie blickte zwischen ihm und dem Asiaten hin und her.
»Wir kennen uns«, sagte Giger schließlich. »Bring mir einen Schnaps«, forderte er sie auf, als sie nicht ging.
»Mais tu n’as pas bu depuis des années.«
Sie hatte recht. Er hatte schon Jahre keinen Tropfen mehr angerührt. »Hau endlich ab!«, blaffte er sie an. Sie zuckte zusammen und eilte verstört Richtung Küche.
Er sah ihr nach. Sein Ton tat ihm leid, aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Er holte noch einmal tief Luft, dann schaute er sein Gegenüber an. Sie fixierten sich, der kleine Mann hielt seinem Blick stand. Beat Giger öffnete den Mund, räusperte sich und flüsterte dann: »Ich habe immer befürchtet, dass dieser Tag einmal kommen wird.«
Sein Gegenüber starrte ausdruckslos zurück.
»Ist es so weit?«
Der Asiate nickte. Mit sorgsam gewählten Worten sagte er: »Dein Kommen wird verlangt.«