21
Stephan riss die Augen auf. Schon seit Jahren hatte er diesen leichten Schlaf, jedes Geräusch ließ ihn hochfahren. Und er war sich sicher, dass er eben etwas gehört hatte. Etwas, das ihn geweckt hatte. Reglos lag er in seiner Hängematte, lauschte mit angehaltenem Atem. Die Kinder waren nicht wach geworden. Sie verließen sich auf ihn. Da! Jetzt
war er sich sicher, dass eben irgendwo ein Schuss gefallen war. Nicht direkt neben ihnen, aber dennoch nah dran. Zu nah.
Eigentlich war es nichts Ungewöhnliches, dass Jäger nachts unterwegs waren. Aber hier im Dickicht des Urwalds war das unwahrscheinlich – und außerdem verboten. Hatten sie
sie aufgespürt? Aber warum hätte ein Angreifer einen Warnschuss abgeben sollen? Er horchte weiter. Wartete auf näher kommende Schritte, einen weiteren Knall, knackende Äste. Doch stattdessen hörte er etwas anderes. Etwas, das nicht minder bedrohlich klang. Sofort sprang er auf.
»Cayenne, Jo, aufwachen, wir müssen uns in Sicherheit bringen. Schnell!«, zischte er und rüttelte an ihren Hängematten. Doch sie rekelten sich nur müde in ihren Schlafsäcken. Das hatte er nun von seinem harten Training. »Los, sofort raus hier, rauf auf den Felsen!«
Allmählich öffneten sie die Augen. Es war fast vollständig dunkel, den Mond konnte man nur schemenhaft hinter den Wolken erkennen. Doch als Cayenne in Stephans Gesicht blickte, war sie schlagartig wach. Er zog sein Messer.
Aus dem Gegrummel und Geraschel war nun ein Tosen geworden, das sich direkt auf sie zubewegte.
»Scheiße, was ist das?«, stieß Joshua einen unterdrückten Schrei aus. Auch er war nun hellwach.
Stephan hielt sich nicht mit Erklärungen auf. »Schnell, den Felsen hoch.«
Joshua schaute zu seiner Schwester. »Schaffst du das überhaupt?«
Das Mädchen sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Aus dem Dunkel hörte man Äste knacken. Und ein lautes Keuchen. »Wildschweine«, entfuhr es dem Mädchen atemlos.
Stephan nickte fahrig. Dem Lärm nach zu urteilen, mussten es einige kapitale Tiere sein, die da durch den Wald brachen. »Ich kümmere mich um deine Schwester, Jo, sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst!«
Unentschieden lief Joshua zur Felswand, in dessen Schutz die Hängematten angebracht waren, und zog sich in einen Spalt hoch. Am Abend hatte es angefangen, wie aus Kübeln zu regnen. Nun hatte es zwar fast aufgehört, aber der Fels war noch immer glitschig.
»Höher, mindestens zwei Meter! Die Großen können sich am Fels aufrichten«, schrie Stephan jetzt. Überleben war wichtiger, als nicht gehört zu werden. Dann bugsierte er Cayenne zur Wand. Sie stöhnte auf, als sie sich hochziehen wollte. Von oben streckte Jo, der auf einem kleinen Vorsprung stand, ihr seine Hand entgegen. Als seine Schwester sie ergriff, hievte er sie mit aller Kraft nach oben, während Stephan von unten schob.
Um selbst auch noch den rettenden Fels zu erklimmen, war es zu spät. Er konnte die Tiere bereits riechen. Entschlossen umfasste er sein großes Messer, drehte sich schnell herum und erschrak, obwohl er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte. Es waren viele, mehr als er auf die Schnelle zählen konnte, und sie hielten mit voller Wucht auf ihn
zu. Irgendetwas musste sie schrecklich wütend gemacht haben.
Von seinen Kursen wusste Stephan, dass die Viecher bis zu sechzig Stundenkilometer schnell werden konnten. Wenn ein ausgewachsenes Exemplar jemanden mit dem Kopfpanzer rammte oder ihm seine Fangzähne ins Fleisch schlug, kam nicht selten jede Hilfe zu spät. Aber wegrennen war unmöglich, er stand buchstäblich mit dem Rücken zur Wand. Er ahnte, dass er nur einen Ausweg hatte.
»Komm rauf, sie sind gleich da«, schrie Joshua mit sich überschlagender Stimme, doch Stephan ignorierte ihn. Fixierte mit den Augen das Tier, das als Erstes auf ihn zukam. Versuchte seine Bewegungen vorauszusehen. Es war keine zwanzig Meter mehr von ihm entfernt. Er drückte den Rücken fest gegen die Felswand, das Messer in der rechten Hand, die Linke nach oben ausgestreckt. Sein Herz pochte bis zum Hals.
»Komm endlich hoch!«, gellte Cayennes Schrei durch die Nacht.
Dazu war es zu spät. Der Koloss, der jetzt im Halbdunkel Kontur bekam und auf ihn zuhielt, wog gut und gern hundert Kilo. Stephan schluckte. Gegen Menschen zu kämpfen hatte er gelernt, das machte ihm keine Angst mehr. Aber die kalten Augen des Tieres ließen ihn erschaudern.
Als der mächtige Eber nur noch fünf Meter von ihm entfernt war, sprang Stephan zur Seite. Dann ging alles ganz schnell – das musste es auch, wenn sein Plan funktionieren sollte. Der Schädel des Tiers krachte gegen den Fels, während Stephan sein Messer oberhalb des linken Vorderfußes ins Fleisch des Wildschweins rammte. Sofort zog er es wieder heraus und hieb ein Stückchen über der Stelle die massive Klinge noch einmal in die Flanke, bis er das heiße Blut spürte. Weil man Schulter und Stirn eines Wildschweins nicht durchstoßen konnte, war die einzige Chance, die Achsellymphknoten zu treffen. Auch wenn er es noch nie gemacht hatte, zahlte sich sein theoretisches Wissen aus: Benommen vom Aufprall ging das Tier zu Boden, aus beiden Wunden strömte Blut.
Doch Stephan hatte keine Zeit zu verlieren, denn inzwischen waren auch die anderen Schweine bedrohlich nahe. Blitzschnell ergriff er mit seiner Linken einen Felsvorsprung, benutzte das halbtote Tier als Steighilfe und zog sich zu den Kindern hoch. In letzter Sekunde brachte er seinen Fuß vor den Hauern eines weiteren Ebers in Sicherheit. Während sich das durch seine Stiche schwer verletzte Tier unter Schmerzen krümmte und lautstark brüllte, scharrten die anderen mit den Füßen, schnaubten und grunzten, versuchten sich in rasender Wut an der Felswand aufzurichten. Stephan wartete ein paar Sekunden, dann atmete er durch. Gerade noch mal gut gegangen.
»Hat dich das Vieh erwischt?«, fragte Cayenne und zeigte auf seine blutverschmierte Hand, doch er winkte ab.
»Nein. Aber noch ist die Gefahr nicht vorbei«, erklärte er. Der Felsvorsprung, auf dem sie standen, war zu schmal und glitschig, um lange ausharren zu können. Sie mussten sich festhalten, um nicht abzurutschen.
»Warum sind die so aggro? Meinst du, die haben Tollwut?«, wollte Joshua wissen, der den Blick nicht von den Tieren wenden konnte.
»Ich denke nicht. Irgendwas hat sie aufgeschreckt. Wahrscheinlich der Schuss.«
»Welcher Schuss?«
»Der, von dem ich aufgewacht bin.«
»Und du bist dir sicher, dass es ein Schuss war?«, fragte Cayenne. »Das hätten wir doch alle gehört.«
Ihr Bruder nickte.
»Ganz sicher sogar«, murmelte Stephan.
Die Wildschweine waren mittlerweile ein wenig ruhiger geworden. Neben erwachsenen Tieren waren auch kleinere dabei. Der verletzte Eber gab keinen Laut mehr von sich, er zuckte nur noch ab und zu. Auch das würde bald vorbei sein. Die Frage war nur: wann. Die Muskeln des Arms, mit dem Stephan sich in den Fels krallte, brannten, und auch die Kinder würden sich bestimmt nicht mehr lange halten können. Da schien wieder Bewegung in die Rotte zu kommen. Ein großes Tier hatte sich abgewandt und schien irgendeine Witterung aufzunehmen. Es begann zu traben, dann folgten ihm die anderen.
»Sieht so aus, als hätten wir Schwein gehabt«, keuchte Stephan. »Trotzdem, wir müssen noch eine Weile hier oben bleiben, nicht dass sie zurückkommen. Schafft ihr das?«
Die Kinder nickten gequält.
Da knallte ein weiterer Schuss. Joshua erschrak und geriet ins Wanken. Nur ein beherzter Griff von Stephan verhinderte, dass er von dem Vorsprung fiel.
»Scheiße!«, hallte es durch den Wald zu ihnen herüber.
»Fuck, da ist einer!«, entfuhr es Jo.
Stephan versuchte verzweifelt, in der Schwärze vor ihnen irgendetwas zu erkennen. Sie mussten hier weg, gefangen in der Felswand waren sie ein zu leichtes Ziel.
»Hilfe! Ist da noch wer?«, brüllte die fremde Stimme aus der Dunkelheit. »Hilfe, diese Viecher …« Dann folgte ein schriller Schrei.
Die Geschwister blickten sich entsetzt an. »Da wird einer von den Wildschweinen angegriffen. Wir müssen ihm helfen!« Cayenne machte sich daran, den Felsen hinunterzuklettern.
»Einen Scheiß müssen wir«, zischte Stephan und hielt das Mädchen am Arm fest.
»Hey, waren das nicht immer unsere Prinzipien? Einander helfen? Das hast du uns beigebracht«, beharrte das Mädchen.
Joshua nickte zaghaft. »Ich glaub auch, dass wir besser …« Ein weiterer Schrei.
Stephan schnaubte. »Habt ihr euch nicht gefragt, was der nachts mit einer Waffe hier im tiefsten Wald treibt? Und selbst wenn er nicht wegen uns da ist: Ich wär beinahe draufgegangen. Wenn die Lage aussichtslos ist, heißt die Maxime: Jeder für sich.
Das hab ich euch auch beigebracht.«
Wieder war das Brüllen des Mannes zu vernehmen, die Wildschweine quiekten Angst einflößend. Und wieder fiel ein Schuss.
»Ich geh ihm helfen«, erklärte Cayenne und machte sich an den Abstieg.
»Cayenne, warte, du bist doch noch verletzt …« Joshua blickte Stephan flehend an.
Eine Weile sagte keiner etwas, erst als ein weiterer Schrei erklang, leiser diesmal, verzweifelter, brummte Stephan: »Verdammte Scheiße! Nehmt eure Messer. Jo, du weißt, wo die Viecher am verletzlichsten sind?«
Im Hinunterklettern zählte der Junge auf: »Zwischen den Schulterblättern, am Bauch und in den Achselhöhlen.«
»Trotzdem: unbedingt vorsichtig sein. Und du hältst dich hinter uns, Cayenne, klar?«
Unten angekommen, rannten sie los. Es dauerte nicht lange, dann sahen sie die Furcht einflößenden Tiere wieder. Sie attackierten einen am Boden liegenden Mann, der sich verzweifelt zu wehren versuchte.
Stephan brüllte aus Leibeskräften. Die Tiere wandten sich sofort um, ließen von dem wimmernden Bündel am Boden ab und rannten auf sie zu.
»Los! Macht Lärm und lenkt sie von ihm ab«, rief Stephan. Er selbst sprintete den Tieren entgegen. Joshua und Cayenne grölten in die Nacht und sahen gebannt zu, wie ihr Beschützer sich kurz vor dem Zusammenprall mit dem ersten Tier auf den Boden fallen ließ und ihm, während es an ihm vorbeipreschte, das Messer in den Bauch stieß. Die Wildsau schleifte ihn einige Meter mit, dann knickten ihr die Vorderläufe ein und sie sackte schnaubend zu Boden. Das schien die anderen Tiere zu irritieren, sie hielten inne und glotzten sich an. Schließlich trollte sich eines nach dem anderen.
Nur ein kleiner Eber war so in Rage, dass er sich nicht bremsen ließ und nun wutschnaubend auf Joshua zugaloppierte. Cayenne kletterte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Baum, balancierte auf dem ersten dicken Ast und zog ihr Messer. Als das Schwein unter ihr vorbeipreschte, warf sie es – genau zwischen die Schulterblätter des Tieres. Das Wildschwein taumelte, ging jedoch nicht zu Boden. Anders als Cayenne, die ihre Kräfte überschätzt hatte und sich jetzt nicht mehr auf dem Ast halten konnte. Sie glitt nach unten, hielt sich aber fest und ließ sich schließlich keuchend ins Moos fallen.
»Pass auf«, schrie Stephan, als er sah, dass das verwundete Tier auf das Mädchen zutorkelte. Doch kurz bevor es Cayenne erreicht hatte, brach es zusammen. Als es umkippte, erblickte er dahinter Joshua, der dem Schwein den finalen Stoß mit seinem Messer versetzt hatte. Stephan schnellte hoch und rannte zu ihnen. Der Geruch von warmem Blut stieg ihm in die Nase. Ein archaischer Geruch, metallisch und erdig zugleich. Aber auch ein Geruch, der Erinnerungen wachrief. Es roch nach Tod.
»Alles in Ordnung?«, fragte er das Mädchen.
»Jaja, geht schon.« Sie rappelte sich auf und zog ihr Messer aus dem Tier. »Wir müssen nach ihm sehen!«, sagte sie und wies auf den Verletzten.
Der Mann lag wimmernd am Boden. Vorsichtig bewegten sich die drei auf ihn zu. Ein Stück neben ihm lag außer einer eingeschalteten Taschenlampe eine Pistole. »Kleinkaliber«, sagte Stephan verächtlich. »Das Ding ist garantiert nicht geeignet, den Kopfpanzer eines ausgewachsenen Wildschweins zu durchschlagen. Das hat sie nur noch wilder gemacht.« Er gab Joshua ein Zeichen, woraufhin der die Waffe an sich nahm. Dann stellte er sich neben den Mann, jedoch ohne sich zu ihm hinunterzubeugen. »Wer bist du? Was willst du hier im Wald?«, fragte er barsch.
Cayenne ging neben dem Kopf des Verwundeten in die Hocke. Sie legte ihm eine Hand unter den Nacken. Mit sanfter Stimme sprach sie ihn an. »Sie sind jetzt in Sicherheit. Können Sie reden? Wo genau sind Sie verletzt?«
»Ich bin … sie haben mein Bein erwischt.« Jetzt drehte der Verletzte sein mit Dreck verschmiertes Gesicht in ihre Richtung. »Ich wollt die Viecher erschießen, aber es ging nicht.«
Der Mann war dünn, fast dürr, mindestens Mitte sechzig.
»Mein Name ist Deutz. Horst Deutz. Und ihr, was macht ihr hier im Wald? Haben sie euch auch erwischt?«
»Wer?«, fragte Stephan scharf.
Deutz stöhnte und rieb sich das rechte Bein. »Na, die Schweine. Ihr seid denen doch gerade noch entkommen, oder?«
Stephan zuckte die Schultern. Hinter dem Rücken hielt er sein Messer fest umklammert. »Mag sein. Du hast sie aufgeschreckt.«
»Wollte nur ein paar Schießübungen im Wald machen. Das muss sie gestört haben. Hatte ich noch nie bisher. Ich wollte nur mein neues Nachtsichtgerät testen. Weißte, ich versuche, vorbereitet zu sein, wenn mal was ist.«
Diese Parole kam Stephan bekannt vor. Prepper
oder Bushcrafter
, vermutete er. Auch wenn der Typ für dieses Hobby schon ziemlich alt schien.
Cayenne reichte Deutz die Hand, an der er sich stöhnend hochzog. »Danke, junge Frau, geht schon.« Er setzte sich auf, sein rechtes Bein ausgestreckt. Die schmutzige Cordhose darüber war zerfetzt und von Blut durchtränkt. »Vielen Dank jedenfalls. Ohne euch wär ich jetzt hinüber. Seid ihr Paramilitärs?«
Stephan kniff die Augen zusammen. Die vielen Fragen gefielen ihm nicht.
»Ist es so weit? Kommt endlich der Umsturz?«
Stephan war drauf und dran, ihn zu fragen, für wie auskunftsfreudig er im Verborgenen agierende Guerillatruppen hielt. Stattdessen zischte er: »So oder so, kein Wort darüber, dass du uns hier getroffen hast, sonst müssen unsere Eliminierungszellen dich aufsuchen. Klar?«
Deutz riss die Augen auf. »Elimi… Zellen. Klar, das ist … logisch«, stammelte er. »Bin ja auf eurer Seite. Ich warte doch nur, dass es endlich losgeht. Wenn ihr mal was braucht oder so, ich hab bei mir zu Hause jede Menge Ausrüstung. Und gute Kontakte zu Gleichgesinnten. Ich helf gern. Wir müssen uns doch wehren gegen den Bockmist, den die da oben jeden Tag veranstalten. Meine Unterstützung habt ihr.«
Stephan nickte nur. Dieser Deutz war ein noch größerer Idiot, als er gedacht hatte.
»Mannomann, die Geschichte wird mir niemand glauben«, sprudelte es aus ihm heraus. »Ich dachte mir schon, dass ihr bereits im Geheimen agiert. Aber die Lügenpresse unterwandert ja alles und wäscht den Leuten das Gehirn. Jetzt weiß ich endlich Bescheid. Und dass ihr Kinder dabeihabt zur Tarnung – Wahnsinn!«
»Niemand wird diese Geschichte zu hören bekommen, kapiert?«, erklärte Stephan eindringlich.
»Kapiert, kapiert. Wann wird es so weit sein?«, fragte der Alte eifrig.
»Wann wird was
so weit sein?«
»Na, die Machtübernahme. Bald?«
Im Augenwinkel sah Stephan, dass Joshua zu grinsen begann.
»Wir sind es nicht gewohnt, dass uns so viele Fragen gestellt werden.«
»Klar. Klar. Keine Sorge. Ich kann vertrauliche Informationen für mich behalten. War schon bei der NVA Geheimnisträger. Alles sicher aufgehoben bei mir.«
»Umso besser. Dann weißt du ja auch, was im Ernstfall mit Verrätern passiert.«
Erst jetzt sah Stephan eine Schaufel neben Deutz liegen. Frische Erde klebte daran. »Was hast du damit gemacht?«
Deutz grinste unsicher, seine Mundwinkel zuckten. »Nur was … versteckt. Material. Für den Notfall. Wie gesagt, wenn ihr mal was braucht …«
»Hau endlich ab und lass dich nie wieder hier blicken, klar?«, beendete Stephan die Unterredung. Deutz erhob sich ächzend und humpelte davon. Als er ein paar Meter entfernt war, ging Stephan ihm noch einmal nach. Er legte ihm die Hand auf die Schulter, krallte seine Finger hinein und sagte so leise, dass es die Kinder nicht hören konnten: »Ein Wort zu irgendjemandem, und dir ergeht es wie der Wildsau.«
Schon früh am nächsten Morgen hatten Stephan und Jo eines der erlegten Tiere abgezogen und ausgenommen, über dem Feuer kochte sein Fleisch. Cayenne schnitt Zwiebeln und Kartoffeln in den Topf.
»Wie geil, jetzt kriegen wir richtig gutes Wildschweingulasch, weil wir dem Typ geholfen haben«, freute sich Joshua. Und auch seine Schwester war erstaunlich gut gelaunt. »Ja, und einen Menschen haben wir auch gerettet. Den hätten die Schweine sonst totgetrampelt, ganz sicher …«
»Wir müssen zusehen, dass wir das Zeug kühlen, trocknen oder räuchern, sonst kommt es um. So ein Festmahl werden wir so schnell nicht wieder kriegen«, mahnte Stephan.
»Mann, wie wir die Viecher gemetzelt haben, bloß mit dem Messer – krass! Könnten wir doch öfter machen, oder? Noch dazu haben wir die Pistole von dem Typen.«
»Bloß leider keine Munition«, fügte seine Schwester an.
Stephan spannte die Kiefermuskeln an. Er hatte bisher nichts zu Cayennes eigenmächtiger Rettungsaktion gesagt. Jetzt war es an der Zeit. »Hört zu: Was gestern vorgefallen ist, war menschlich gesehen zwar verständlich. Aber es war gleichzeitig unglaublich dumm und leichtsinnig. Wir haben Code Red
, da können wir uns kein Mitleid leisten. Damit haben wir uns in große Gefahr gebracht.«
Er hatte das »Wir« bewusst verwendet, um sich nicht in einem Scharmützel mit Cayenne zu verlieren. Jetzt ging es um die Sache, darum, dass die Kinder endlich kapierten, wie ernst die Lage war.
»Sorry, aber hast nicht du uns immer gepredigt, dass es menschliche Prinzipien gibt, bei denen man keine Ausnahme macht?«, wandte Cayenne ein. »Wir können doch nicht zuschauen, wie einer im Wald krepiert.«
»Es gibt Prinzipien, da hast du recht. Aber unser eigenes Leben geht vor.«
»Ist ja zum Glück alles noch mal gut gegangen«, versuchte Joshua zu vermitteln.
»Nichts ist gut gegangen«, entgegnete Stephan scharf. »Wir sind in Gefahr. Dieser Deutz weiß, wo wir sind. Er kann jederzeit mit irgendwem wiederkommen.«
Cayenne protestierte. »Bitte, Stephan, nicht schon wieder weiterziehen. Wir müssen uns doch bloß noch besser tarnen, dann findet uns keiner. Tarnen und täuschen zwei Punkt null, okay?«
Stephan musste unwillkürlich grinsen. Zwei Punkt null. Wie bescheuert sich das anhörte. Klar, auch ihm stand nicht der Sinn danach, schon wieder alle Zelte hier abzubrechen.
»Der sagt bestimmt nix. Er wird eisern schweigen«, bekräftigte Joshua.
Stephan blickte die beiden lange an, dann nickte er. Nein, das würde er nicht.