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»Wir von der Outdoorschule Camouflage
begrüßen euch alle ganz herzlich zu unserem Bushcraft- und Survival-Tag für Fortgeschrittene. Gleich mal zu Beginn: Hat jemand was dagegen, dass wir uns alle duzen? Gehört bei uns eigentlich dazu. Und einige von euch waren ja auch schon ein paarmal dabei, die können bestätigen, dass es immer recht freundschaftlich zugeht, oder?«
Giger und Chu sahen sich an und rollten mit den Augen. Der Schweizer blickte auf die gut zwei Handvoll Leute, die sich im Halbkreis um die Übungsleiterin und ihren jungen Kollegen versammelt hatten. Es war ein bunt gemischter Haufen, der da im Moos zwischen den mächtigen Bäumen hockte.
Leonie, wie sich die Trainerin vorgestellt hatte, lächelte freundlich unter ihrer Schildmütze hervor. »Schön, wenn wir uns da alle einig sind, dann können wir gleich anfangen. Es ist ja unser letzter Kurs diesen Herbst, leider ist die Witterung nicht so, wie wir es uns gewünscht hätten. Trotzdem hoffen mein Kollege Max und ich, dass es euch gefällt und ihr viele Infos mitnehmen könnt. Beim Prepping kann man sich das Wetter nicht aussuchen, stimmt’s? Fängst du gleich mal mit den Ponchos an?«
»Klar, Bombenidee«, trällerte Max, der wie Leonie komplett in Flecktarnklamotten mit dem Logo der Outdoorschule – einem Adler auf einem Buschmesser – gekleidet war. Er bestand darauf, dass sein Name englisch, also Mäx
ausgesprochen wurde. Aus einer Alukiste zog er für jeden Teilnehmer einen olivgrünen Regenumhang.
»Chu, ich sag’s dir: Wenn ihr mit dem ganzen Prepperkram falschlagt und wir umsonst bei den Knalltüten hier rumhängen, dann gnade euch Gott«, flüsterte Giger, als er wie geheißen in den Umhang schlüpfte. Wie alles hier draußen war das Kleidungsstück feucht, schließlich regnete es seit Stunden, und auch wenn der Wald hier sehr dicht war, tropfte es immer wieder auf die kleine Gruppe herab.
»Weiß auch. Ist Kindergarten. Aber machst du keine Sorgen, wird schon klappen. Wenn Jürgen sagt, stimmt immer. Fast«, gab Chu leise zurück.
Denn das war Jürgen Wagners Plan für sie gewesen: sich in dem Preppercamp umzuhören, dessen Logo auch auf dem Foto mit den Teenagern zu sehen war, um so vielleicht ihren Aufenthaltsort zu erfahren.
Bis hierhin war es eine leichte Übung für Chu und Giger gewesen. Sie hatten sich am Morgen mit falschen Namen vorgestellt: Beat als Urs, Chu als Kim. Nicht besonders einfallsreich für einen Schweizer und einen Vietnamesen, aber egal.
»Keine Privatgespräche, ihr beiden, wir sind nicht beim Kaffeekränzchen, sondern in der Wildnis«, rief Max ihnen mit dämlichem Grinsen zu.
»Wildnis, dass ich nicht lache«, brummte Giger unter seinem Poncho. »Hätte gute Lust, dem Westentaschen-Rambo die Fresse zu polieren.« Als er seinen Kopf unter der Kapuze herausstreckte, sah Max ihn herausfordernd an. Chu schüttelte den Kopf. Wagner hatte sie extra gebeten, sich unauffällig zu verhalten.
»So«, tönte Leonie, »jetzt sind alle vor dem Regen geschützt. Aber was ist, wenn es kalt wird? Kein Problem, wenn wir – und jetzt hört und staunt – eine Kerze haben.«
Unter den Teilnehmern wurde getuschelt, als Max jedem von ihnen ein Teelicht und ein Päckchen Streichhölzer in die Hand drückte.
»So, jetzt geht mal alle schön in die Hocke und seht zu, dass keine Luft mehr unter den Poncho zieht.«
»Sollen wir unsere Fürze anzünden, oder wie?«, flüsterte Giger Chu grinsend zu.
Wieder bedachte ihn Max mit einem abfälligen Blick.
»Zieht den Kopf in den Poncho zurück und zündet die Kerze an. Kauert euch darüber, aber passt auf, dass eure Kleidung nicht Feuer fängt. In ein paar Minuten werdet ihr die Wärme spüren.«
Giger und Chu gelang es trotz allem, während der nächsten Stunde Ruhe zu bewahren, selbst als sie beigebracht bekamen, wie man mit dem Poncho Holz holen, ein Tarp bauen oder eine provisorische Vorrichtung zum Sammeln von Regen basteln konnte. Auch beim Entzünden des Lagerfeuers, wobei sich einige Teilnehmer ziemlich dämlich anstellten, hielten sie sich zurück und beobachteten nur. Dummerweise jedoch bot sich kaum Gelegenheit, mit den Teilnehmern ins Gespräch zu kommen, da ununterbrochen einer der beiden Guides redete und dabei Stillschweigen der Teilnehmer verlangte.
Dann verkündete Max, es sei nun Zeit für eine kleine Lektion in Selbstverteidigung. »Überlegt euch mal, was ist, wenn jemand uns angreifen will, vielleicht weil Stromausfall ist und die Nahrungsmittel knapp werden – da ist unsereins ja fein raus, weil wir vorgesorgt haben. Aber dadurch werden wir auch zur Zielscheibe für die Normalbürger, die nicht vorbereitet sind. Was also tun wir, um uns zu schützen? Genau: Wir trainieren.«
»Sehr erhellend«, murmelte Beat Giger.
»Ich bräuchte zur Demonstration mal einen Freiwilligen. Hmm, vielleicht unseren Schweizer Freund, Urs?«
Giger machte keine Anstalten, Max’ Wunsch nachzukommen.
»Magst du mal zu mir kommen?«
»Geht nicht«, sagte Giger lapidar.
»Oh, warum denn?«, wollte der Trainer wissen. Wieder lag für den Schweizer ein Hauch zu viel Provokation in seiner Stimme.
»Ist doch klar: Wenn du sagst, ich soll es machen, bin ich kein Freiwilliger mehr.«
Die anderen lachten, was Max in Rage brachte. »Ah, so meinst du das. Dachte schon, weil die Schweizer ja von Natur aus immer neutral sind und es nicht so mit Kämpfen haben.« Beifall heischend sah er in die Runde. »Aber wenn dein Alter oder auch körperliche Defizite dagegen sprechen …«
Chu wollte seinen Begleiter zurückhalten, doch der erwiderte: »Okay, ich mach’s.«
»Schön, das freut mich aber.«
Die anderen gruppierten sich interessiert um sie.
»Also, nehmen wir mal an, mein Gegenüber will mich attackieren, auch wenn er, sagen wir, Schweizer ist und keinen besonders flinken Eindruck macht …«
Starr sah Giger Max in die Augen, der verzog keine Miene.
»So, dann greif doch mal an, und ich werde deinen Vorstoß mit einem wirksamen Trick aus dem Wing-Tsun abwehren, okay? Keine Angst, tut nicht allzu sehr weh. Die anderen sehen bitte genau hin, ihr sollt ja was lernen.«
Giger bewegte sich nicht.
»Na, dauert vielleicht ein wenig länger, bis es in der Schweiz angekommen ist … Urs, magst du mich bitte angreifen, versuchen, mir ein Schlägli zu versetzen?« Max sprach übertrieben langsam.
Dann ging es ganz schnell: Giger machte zwei Schritte auf den Trainer zu, der ihn in Habtachtstellung erwartete. Dann täuschte der Angreifer einen Tritt an, drehte sich dabei, hob seinen Arm auf Kopfhöhe, winkelte ihn an und ließ seinen Ellenbogen gegen Max’ Schläfe krachen, während er ihm von hinten in die Kniekehlen kickte und ihn so von den Beinen holte. Dumpf krachend landete Max auf dem Waldboden.
Ein erschrockenes Raunen wurde laut. Leonie ließ die Kiste Gemüse fürs gemeinsame Essen fallen und rannte auf ihren Kollegen zu. Der lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken und schnappte nach Luft, als Beat ihm seinen rechten Stiefel an die Kehle setzte.
»Was geht denn hier vor, gibt’s Ärger, Max?«, rief Leonie aufgeregt.
»Ich …«, presste Max benommen hervor.
Giger verlagerte sein Gewicht noch ein wenig mehr auf das Bein am Hals des Trainers. »Fresse, Kleiner. Sonst kommt zur Schweizer Infanterie auch noch die Kavallerie, kapiert?«
Chu seufzte. Die anderen begannen leise zu kichern. Giger kannte diese verlegenen, gepressten Lacher genau. Er wusste, dass sie fürchteten, es könnte ihnen genauso ergehen wie Max, wenn sie es sich mit ihm verscherzten.
»Mensch, Urs, jetzt lass doch den Max mal, der kriegt ja gar keine Luft mehr«, bat Leonie aufgeregt. »Es soll sich doch niemand wehtun, wir wollen alles spielerisch lernen.«
Giger nickte. »Max wollt ja nur wissen, wie wir Schweizer es schaffen, dass wir mit allen auf der Welt gut auskommen. Stimmt’s, Max?«
»Jaja, das … war für alle eine gute Demonstration.« Er umklammerte mit beiden Händen Gigers Stiefel und riss ungehalten daran.
»He, nicht bös werden. Alles nur ein Spiel, oder?« Damit zog der Schweizer sein Bein vom Hals des jungen Mannes und reihte sich gelassen bei den restlichen Teilnehmern ein, die alle einen Schritt zur Seite traten. »Ach so: Bei Fragen zur Selbstverteidigung wendet ihr euch lieber an meinen Freund Kim. Dann habt ihr auch Überlebenschancen, wenn euch wirklich jemand angreift«, schob er mit einem Zwinkern in Chus Richtung hinterher.
Max schien kein allzu schlechter Verlierer zu sein. Er zog mit Leonie sein Programm durch, allerdings mit etwas weniger überschäumendem Selbstbewusstsein als vorher und darauf bedacht, Beat Giger und seinen Begleiter nicht mehr einzubeziehen. Der Schweizer hielt sich ebenfalls zurück, immerhin waren die Fronten jetzt geklärt. Durch seine kleine Demonstration von Stärke hatte er nun leichteres Spiel bei den anderen Teilnehmern: Beim gemeinsamen Essen am Lagerfeuer – Gemüseeintopf aus dem großen Kessel – suchten einige sogar seine Nähe. Sie setzten sich um ihn herum auf die Baumstämme und wollten wissen, wo er so zu kämpfen gelernt hatte. Er tischte ihnen eine weit harmlosere Version auf als die echte. Es ging sie schließlich einen Scheiß an, was ihn irgendwann dazu bewogen hatte, sein Schicksal in die Hand zu nehmen, um sich am eigenen Schopf aus dem Dreck zu ziehen.
»Aber wenn du doch selber Kampfsportlehrer in der Schweiz bist, wieso kommst du dann hierher zum Seminar?«, ließ eine Mittvierzigerin in grellen Outdoorklamotten nicht locker.
»Immer gut zu wissen, wie andere es machen. Und es geht ja nicht vorwiegend ums Kämpfen hier. Dieses ganze … andere Zeug interessiert mich schon länger.«
»Gibt da auch gute Bücher drüber«, erklärte Klaus, ein grauhaariger, hagerer Typ, während er ein Stück Brot in seinen Henkelbecher mit der Suppe tunkte.
»Bücher? Ja … weiß ich. Hab da auch schon einiges gelesen. Auch über Sachen, die nicht alle wissen. Kennt ihr zum Beispiel diesen Andreas Klamm?« Giger entging nicht, dass sich einige ein paar wissende Blicke zuwarfen.
Ein junger Mann, höchstens zwanzig, der sich während des Kurses besonders motiviert gezeigt hatte, erklärte eifrig: »Klar, der war sogar bei zwei Kursen von mir schon dabei. Hat sich echt interessiert für die ganzen Sachen. Aber der ist tot, den haben sie umgebracht.«
Chu und Giger blickten sich an. Na also, sie waren auf dem richtigen Weg.
»Echt? Hör auf!«, tat der Schweizer überrascht.
»Niemand weiß genau, was mit dem Klamm passiert ist«, erklärte Klaus wissend. Dann kniff er die Augen zusammen. »Ihr seid aber nicht vom Staatsschutz oder so? Undercover?«
»Nein, sicher nicht«, lachte Giger. »Schauen wir zwei aus wie Agenten?«
Das genügte Klaus. Er blickte sich kurz über beide Schultern um, dann fuhr er leise fort: »Ich hab fast alle Artikel und Blogs von Klamm gelesen. Der war einer von uns. Einer, der sich getraut hat, die Wahrheit zu sagen. Der wusste, was wirklich los ist hier im Land. Kennt ihr Kreise im Stroh
? Ein langer Artikel über Außerirdische. Darüber, wie sie immer wieder Leute entführen und dabei mit unserer Regierung zusammenarbeiten.«
Klaus erntete skeptische Blicke. Mit Mühe bekam Giger eine einigermaßen interessierte Miene zusammen.
Klaus jedoch ließ sich nicht beirren. »Selbst schuld, wenn ihr mir nicht glaubt. Hat wenigstens jemand das Ding über neosozialistische Guerillakämpfer gelesen? Die kommen aus Zentralamerika, Cuba, Venezuela, Nicaragua, all so was. Und die planen die Machtübernahme. In ganz Europa. Putsch, sag ich bloß.«
»Faszinierend«, presste Giger hervor.
Leonie hatte sich mit einer Blechtasse dampfenden Kaffees zu ihnen gesellt und steckte sich eine Zigarette an. »Redet ihr über den Klamm? Die Polizei hat neulich bei uns Befragungen durchgeführt, wegen seinem Tod«, erklärte sie. »Hat wohl für irgendwas recherchiert und deshalb mal einen Kurs bei uns gemacht.«
Doch Klaus war noch nicht fertig: »Vielleicht waren es nicht die Lateinamerikaner, die ihn gekillt haben, und es lag an was anderem. Ist sicher vielen Leuten auf die Füße getreten. Auch in Berlin, in Regierungskreisen. Kein einfacher Typ, munkelt man.«
»Bei uns war er okay«, meldete sich Leonie wieder zu Wort. »Er wollte alles Mögliche über die Outdoorschule wissen und über Prepping und so. Hat versprochen, er würde uns in einem Artikel groß rausbringen, und hat sich ganz viele Fotos geben lassen.«
Fotos, Bingo!
, schoss es Giger durch den Kopf. Vielleicht hatte Klamm das Bild, wegen dem sie hier waren, aus genau dieser Quelle.
»Wäre supergute kostenlose Werbung gewesen, meint mein Chef.«
»Wer ist denn Chef?«, fragte Chu.
»Na, der Martin, bei dem ihr ja sicher auch gebucht habt.«
»Klar.« Giger sah die Zeit gekommen, das Foto zu präsentieren und seine Frage zu stellen. Er zog es aus seiner Tasche und gab es Leonie. »War das auch bei einem von Martins Kursen?«
Leonie schnippte ihre Kippe weg und schaute den Schweizer misstrauisch an. »Woher hast’n das?«
»Der Klamm war so was wie ein Freund von mir. Weil ich alle seine Bücher hatte und oft mit ihm in Kontakt stand deswegen«, erwiderte Giger, ohne nachzudenken.
»Ach Mensch, tut mir ja leid«, sagte sie. Sie beugte sich über das Bild, dann zog sie die Schultern hoch. »Hm, keine Ahnung. Bin noch nicht sonderlich lange dabei. Warum willst du das eigentlich wissen?«
Giger sah zu Chu. In seinem Blick sah er, dass auch er sich keine Geschichte überlegt hatte, die er hätte präsentieren können. »Na ja, also … die beiden Teenies, die da drauf sind, das sind … die Kinder von einem Kumpel von uns beiden. Stimmt’s, Kim? Leben bei der Mutter, und sie will nicht, dass er sie sieht. Also, unser Kumpel. Er meint, sie ist vielleicht mit ihnen untergetaucht. Blöde Sache, das alles. Dabei hat er eigentlich das Recht, sie zu besuchen. Und jetzt weiß er nicht mal, wo er sie suchen soll und wie es ihnen geht. Dachte halt, wenn wir schon da sind, vielleicht kennt ihr den Jungen und das Mädel, die Survival-Szene ist ja nicht riesig, oder?«
»Stimmt auch wieder. Vielleicht weiß ja Max was.«
Da meldete sich Klaus zu Wort. »Hm, also, ich kenn die beiden nicht, aber vielleicht hat die Geschichte von neulich was damit zu tun.«
Beat Giger wurde hellhörig. »Welche Geschichte denn?«
»Ein Bekannter hat mir da was erzählt … er ist ziemlich hart drauf, was das Prepping angeht. Aber ihm ist vor Kurzem im Wald was Blödes passiert, und drei Fremde haben ihm dabei geholfen. Zwei davon Jugendliche. Ein Mädchen um die zwanzig und ein Junge, vielleicht fünfzehn. Ein älterer Typ war auch dabei.«
Chu schluckte, und auch Gigers Puls beschleunigte sich. »Was ist ihm denn passiert? Wo war das? Und wann?«
»Also, wie gesagt: Das war im Wald, nachts. Wo genau, weiß ich nicht. Dem ist eine Rotte Wildschweine nach, die hätten ihn fast gekillt.«
»Und dann?«
»Kamen die drei und haben stattdessen die Wildschweine plattgemacht.«
Giger nickte seinem vietnamesischen Begleiter zu. Das waren sie, kein Zweifel. »Wie heißt dein Freund?«
»Freund? Na ja … Freund ist das keiner. Nicht direkt. Wie gesagt, ein ziemlich krasser Typ. Schon älter. Horst Deutz heißt der. Vielleicht weiß er ja was.«
Giger ließ sich von Klaus die Adresse des Mannes geben, dann verschwanden sie, noch ehe die Mittagspause zu Ende war.