25
»Da hat einer aber gar keine Lust auf Besuch.« Beat Giger und Luong Chu näherten sich der Adresse, die sie bei ihrer Recherche im Preppercamp herausgefunden hatten. Horst Deutz’ Haus sah eher aus wie eine Festung – allerdings eine, die aus billigen Baumarktmaterialien zusammengezimmert worden war. Das Gehöft lag abseits der kleinen Ortschaft Gutnitz, die von der Welt vergessen schien. Hier draußen, inmitten brachliegender Felder, war die Einsamkeit geradezu körperlich spürbar. Das trübe Wetter und die sich drohend aufbauenden Regenwolken taten ihr Übriges. Windböen rasten immer wieder über das flache Gelände. Sicher kein Zufall, dass sich Deutz ausgerechnet diesen gottverlassenen Flecken Erde als Zufluchtsort gewählt hatte. Trotzdem hielt er es anscheinend für nötig, sich zusätzlich zu verbarrikadieren: Das heruntergekommene Anwesen war von einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben, der fast durchgehend mit Brettern, Paletten und Planen verkleidet war, sodass nur ab und zu ein Blick auf den dahinterliegenden Hof möglich war. Dort rosteten die Überbleibsel eines einstigen landwirtschaftlichen Betriebs vor sich hin. Stehlen wollte hier sicher niemand etwas, dennoch war auf dem Zaun zusätzlich eine Lage Stacheldraht angebracht.
Giger blieb vor einem selbst gemalten Blechschild stehen und deutete mit dem Finger darauf. Auch Chu musste grinsen: Privatgrund, kein Zutritt. Staatsgrenze! Gebrauch von Schusswaffen ohne weitere Warnung. Achtung, Minen!
»Minen, sicher!« Beat Giger schüttelte den Kopf.
Dutzende solcher Schilder hatte Deutz um den Zaun herum angebracht. Auf einigen Pfählen waren Überwachungskameras befestigt, wobei Giger sich ziemlich sicher war, dass es sich dabei nur um Attrappen handelte. Das alles sah doch eher vorsintflutlich aus, nicht nach modernster Sicherheitstechnik.
Eines jedoch war klar: Hier hatte jemand die Welt ausgesperrt und den Schlüssel weggeworfen.
Giger und Chu konnte das nur recht sein. Sie legten keinen Wert auf Zeugen bei dem, was sie vorhatten. Die beiden zuckten die Achseln, dann traten sie vor den Eingang zum Hof – ein umfunktioniertes Garagentor. Nach einigem Suchen fanden sie tatsächlich einen Klingelknopf samt Namensschild, was seltsam deplatziert wirkte, hier inmitten all der Einrichtungen, die zum Ziel hatten, die Menschen um jeden Preis außerhalb der Grundstücksgrenzen zu halten. Giger drückte auf den Knopf und wartete. Erst tat sich nichts, dann ertönte ein leises Surren über ihnen. Sie hoben den Kopf und sahen einen rot leuchtenden Punkt in einem Vogelhäuschen, das ganz oben am Tor angebracht worden war. Mindestens eine der Kameras funktionierte offenbar. Rechts von ihnen ertönte ein Knacken, dann schepperte eine Ansage aus einem Lautsprecher: »Verlassen Sie umgehend das Gelände. Sie befinden sich auf exterritorialem Gebiet. Hier gelten nicht die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland, sondern die des Deutschen Reiches, dessen hochrangiger Repräsentant ich bin. Ich werde das Reichsterritorium mit allen Mitteln verteidigen. Es besteht ausdrücklicher Schießbefehl gegen alle Grenzverletzer.« Wieder ein Knacken, und der Lautsprecher verstummte.
Giger verzog das Gesicht. »Hätte es nicht auch ein pensionierter Lehrer sein können, der Tomaten züchtet? Aber nein, wir müssen bei so einem irren Nazi landen.«
Chu zuckte die Achseln und drückte noch einmal auf den Klingelknopf. Es knackte erneut, doch diesmal ertönte nicht die Ansage, sondern lautes Hundegebell. Giger grinste. »Ist schon putzig, dass er uns mit Wachhunden vom Band vertreiben will, oder? Was kommt als Nächstes? Muhende Kühe? Walgesänge?«
Chu verzog die Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln.
»Grüß Gott, Herr Deutz, wir wollen nur mit Ihnen reden!«, schrie der Schweizer in Richtung Kamera. Als sich nichts tat, schob er noch nach: »Wir sind unbewaffnet. Und wir haben das hier für Sie dabei.« Er zog ein Bündel Geldscheine aus der Innentasche seiner Jacke und wedelte damit herum.
Noch einmal erklang eine Ansage, die sich von der vorherigen nur dadurch unterschied, dass sie mit den Worten schloss: »Dies ist die letzte Aufforderung.«
Giger verlor langsam die Geduld. Er hatte von diesen paranoiden deutschen Reichsbürgern im Radio gehört und keine Lust darauf, mit einem von ihnen Räuber und Gendarm zu spielen. Früher hatte er es mit ganz anderen Kalibern zu tun gehabt. Er gab Chu ein Zeichen, und sie verschwanden um die Ecke des Zauns, als wollten sie der Anweisung aus dem Lautsprecher Folge leisten. Als sie aus dem Sichtfeld der Kamera verschwunden waren, zischte Giger seinem Begleiter zu: »Glaubst du, der Typ ist wirklich bewaffnet?«
»Kann sein, so wie hier aussieht.«
Der Schweizer nickte. Niemals einen Gegner unterschätzen, das hatte er lernen müssen. Auf die harte Tour. »Also gut, dann kümmern wir uns erst mal um sein drittes Auge.« Er bückte sich und kratzte eine Handvoll Matsch vom Boden. Dann sprang er hinter der Ecke hervor, zielte und warf in Richtung Kamera. Mit einem Schmatzen landete der Dreck auf dem Objektiv. »So, jetzt ist er schon mal blind«, stellte er zufrieden fest. Dann traten sie wieder vor das Tor. »Kommen wir da rein?«
Der Vietnamese schaute sich um, ging ein paar Schritte am Zaun entlang und kam mit einem rostigen Stück Draht zurück. Fasziniert beobachtete Giger, wie der kleine Mann eine Seite davon zu einem Haken bog, dann flink ein Stückchen am Zaun nach oben kletterte, sich mit einer Hand festhielt und mit der anderen den Draht in den Spalt zwischen der Oberseite des Tors und dem äußeren Rahmen schob. Mit konzentrierter Miene fischte er nun mit dem Haken auf der anderen Seite des Tors, bis er einen Widerstand spürte, anzog und sich das Tor öffnete. Chu musste die Not-Entriegelung erwischt haben.
»Nicht schlecht, little man«, sagte Giger anerkennend. Dann betraten sie den Hof.
Auch wenn es inzwischen fast dunkel war, nahmen sie sofort die Bewegung am anderen Ende des Grundstücks wahr, wo ein Mann seinen Rucksack schulterte und in geduckter Haltung in Richtung Zaun verschwinden wollte. Sie blieben stehen, da entdeckte auch er seine ungebetenen Gäste. Bevor sie etwas tun konnten, warf er sein Gepäck von sich und verschwand im Haus.
Giger fluchte. »Jetzt müssen wir ihn drinnen suchen, da sind wir im Hintertreff…« Er wurde unterbrochen von einem Geräusch in seinem Rücken, als das Hoftor sich wieder schloss. Mit allem hatten die Eindringlinge gerechnet, Fluchtversuchen, Angriff aus Verzweiflung – aber nicht damit, dass Deutz sie einschließen würde. Ein diffuses Gefühl breitete sich in Gigers Magen aus. Es war keine Angst, vielmehr die Erkenntnis, dass das hier kein Spaziergang werden würde. »Scheiße«, schimpfte er und zog seine Pistole aus dem Gürtel.
Chu tat es ihm gleich. Langsam bewegten sie sich vorwärts, wobei sie sich routiniert gegenseitig nach allen Seiten absicherten. Ihr Ziel war ein Schrotthaufen auf halbem Weg zwischen Eingang und Haupthaus. Dort wären sie geschützt und könnten sich ihre weiteren Schritte überlegen. Sie hatten ihn noch nicht erreicht, als Giger plötzlich eine Hand hob und anhielt. Er blickte zu Chu. Der hatte es auch gehört.
»Hunde!«, schrie der Schweizer, doch da hatten die beiden massigen Tiere sie schon fast erreicht. Giger schaffte es gerade noch, seine Waffe zwischen sich und den Hund zu bringen, bevor er zähnefletschend an ihm hochsprang. Dreimal drückte er ab, dann sank das Tier mit einem letzten Wimmern in sich zusammen. Doch neben ihm schien es nicht so glatt zu laufen. Im funzeligen Licht der wenigen Außenlaternen, die auf dem Anwesen verteilt waren, erkannte der Schweizer, dass Chu nicht mehr genügend Zeit gehabt hatte, zu schießen. Seine Pistole lag auf dem Boden, während der Vietnamese versuchte, das Maul des Hundes, der größer war als er selbst, von seinem Hals fernzuhalten. Giger zielte, doch dann ließ er die Waffe wieder sinken. Das Risiko, seinen Begleiter zu treffen, war zu groß. Er kam nicht dazu, weitere Alternativen abzuwägen, denn in diesem Moment packte Chu den Hund am Hals, schmetterte ihn mit einer geschmeidig wirkenden Bewegung zu Boden und brach ihm, noch ehe das Vieh wusste, wie ihm geschah, das Genick.
Schwer atmend standen die Männer da und blickten auf die leblosen Körper vor sich, als die Lichter um sie herum erloschen und völlige Schwärze sie umfing.
»Verdammt, was hat der denn noch alles im Köcher?«, presste Giger hervor, da knallte der erste Schuss.
Der Schweizer hörte das Surren der Kugel, als sie an ihm vorbeiflog. Deutz hatte ihn nur um Haaresbreite verfehlt. Viele Jahre hatte niemand mehr auf Giger geschossen, und er schwor sich, sich an diesem Penner zu rächen, der die damit einhergehenden Gefühle – Wut, Aufregung und Angst – wieder heraufbeschworen hatte. »Nachtsicht«, zischte er und ging in die Hocke. Es gab keine andere Erklärung, niemand konnte im Dunkeln so gut zielen. Deutz war viel besser ausgerüstet, als sie erwartet hatten.
Geduckt pirschten sich Chu und Giger in Richtung Haus vor, immer darauf bedacht, hinter irgendwelchen herumstehenden Gerätschaften Deckung zu suchen. »Ich hab gesehen, woher der Schuss kam«, flüsterte Giger, als sie hinter einem Stapel Traktorenreifen anhielten. »Das war vorne im Haus, zweites Fenster von …«
Wieder knallte es, doch diesmal nicht vom Fenster, sondern weiter rechts und deutlich weiter oben. Sie warfen sich auf den Boden.
»Mehr Leute?«, fragte Chu.
Giger schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht. Aber vielleicht will er, dass wir das denken. Da rein!« Er zeigte auf das Tor eines Nebengebäudes, das weit offen stand. Selbst in der Dunkelheit zeichnete es sich deutlich ab.
»Lauf«, zischte Giger, dann rannten sie darauf zu. Der Schweizer hatte erwartet, dass ihnen dabei die Kugeln um die Ohren fliegen würden, doch es blieb ruhig. »Seltsam«, raunte er, als sie den Eingang erreicht hatten. Vorsichtig tasteten sie sich weiter ins Innere des Gebäudes vor. Auf dem Boden lag zertretenes Stroh, über ihnen prasselten Regentropfen auf eine Dachluke. Sie mussten in der ehemaligen Tenne gelandet sein.
Giger atmete tief durch. Hier waren sie erst einmal in Sicherheit, konnten sich sortieren und überlegen, wie sie weiter vorgehen würden. Er drehte sich zu Chu um, der ebenfalls etwas beruhigt schien. Da spürte er den Luftzug. Hörte das Rauschen von oben, zog unwillkürlich den Kopf ein, dann krachte etwas mit ohrenbetäubendem Lärm auf den Boden. Irgendein massiver Gegenstand war herabgefallen, doch er hatte sie verfehlt. Erleichtert atmete Giger den Dreck und den Staub ein, den dieses Etwas aufgewirbelt hatte. Der Lärm war verklungen, aber in seinen Ohren klingelte es immer noch. Verdammt, sie hatten es mit einem ausgefuchsten Gegner zu tun. Ex-Militär, vermutete er.
Was für Überraschungen hatte Deutz noch auf Lager? Giger spielte mit dem Gedanken, ihr Vorhaben abzubrechen. Aber dazu mussten sie erst einmal heil wieder herauskommen. Atemlos lauschten sie in die Stille. Waren das Schritte? Sie hielten ihre Waffen in die undurchdringliche Schwärze. Dann hallte eine Stimme durch den Raum: »Weg mit den Knarren.«
»Von wo kam das?«, flüsterte Giger.
»Weg, sag ich, sonst …« Ein Schuss knallte, Dreck spritzte vor ihnen auf, als die Kugel den Boden traf.
Sie hatten keine Wahl. Ihr Gegner war ihnen momentan überlegen. Giger legte seine Pistole auf den Boden und hob langsam die Arme. »Los, mach, was er sagt«, rief er Chu zu.
»Kickt die Waffen raus!«, dröhnte die Stimme.
Raus?
Giger verstand nicht.
»Wird’s bald?«
Er versetzte seiner Pistole einen Stoß mit dem Fuß, Chu tat es ihm gleich. Ein paar Sekunden standen sie mit erhobenen Händen in der Dunkelheit, darauf gefasst, dass Deutz sie jetzt abknallen würde, doch dann schalteten sich flackernd die Neonröhren an der Decke ein. Geblendet hielten sich Chu und Giger die Hände vor die Augen. Sie schauten durch Metallstäbe, bis Deutz in ihr Blickfeld kam, ein ausgemergeltes Männlein mit verfilzten Haaren und fiebrigem Blick, Gewehr im Anschlag, das Nachtsichtgerät auf die Stirn geschoben.
Jetzt erst wurde ihnen klar, was passiert war. Sie waren umgeben von einem mächtigen eisernen Käfig, der an einem Seil hing. Giger folgte dem Seil mit den Augen bis zur Decke, wo es an der Gabel eines alten Heukrans befestigt war, die wie ein riesiges Insekt über ihrer Beute schwebte.
Der Schweizer konnte es nicht fassen. Sie hatten sich von diesem alten Zausel überlisten lassen.
Sie saßen in der Falle.