30
»Kuu-Witt! Kuu-Witt! Kuu-Witt!«
Cayenne stöhnte. Stephan war zurück – und ahmte wieder den doofen Vogel nach! Und sie war immer noch hier. Natürlich war sie noch hier. Weil sie niemals ohne ihren kleinen Bruder gehen würde. Es dämmerte bereits – und es goss wie aus Eimern. Sie lag in ihrer Hängematte – zum Glück im Trockenen. Von der Plane, die sie vor dem Felsen gespannt hatten, lief der Regen in Sturzbächen herunter, und auch am Findling selbst rann Wasser entlang, sodass sich unter ihnen schon mehrere kleine Pfützen gebildet hatten. Dennoch: Das Prasseln auf das Tarp hatte eine beruhigende Wirkung auf sie, wie früher, als sie noch ein Kind war und oft stundenlang diesem monotonen Konzert gelauscht hatte.
»La lune pleure parmi les rameaux et la nuit déserte«
, begann sie leise zu singen. Ihre Stimme war kaum hörbar, eher ein Hauchen. »En vain, mais nous t’avons appelé sur tous nos sentiers.«
Ausgerechnet dieses blöde alte Lied, das sie zusammen mit Stephan oft vor dem Einschlafen gesungen hatten, war ihr wieder in den Sinn gekommen.
Sie räusperte sich und schwang sich aus der Hängematte. Im Zwielicht sah sie, wie Stephan sich zwischen den Bäumen näherte.
»Cayenne, Joshua! Es ist so weit. Wir müssen los«, zischte er gehetzt, als er sie erreicht hatte.
Sie schaute zu ihrem Bruder, der sie verschlafen anblinzelte. »Los? Wie jetzt, hast du nix gefangen?«
»Nein. Aber darum geht es nicht. Ich habe … etwas gesehen. Wir müssen weg, vielleicht wissen sie, wo wir sind.«
»Dachte, du warst beim Angeln?«, erwiderte Cayenne herausfordernd.
»Ja … schon. Ich … hab jemanden gesehen. Glaubt mir, wir haben jetzt keine Zeit für große Erklärungen. Wir könnten bald entdeckt werden, wenn es schlecht läuft.«
Cayenne glaubte ihm nicht. Weder, dass er beim Angeln gewesen war, noch, dass er wirklich Anhaltspunkte hatte, die einen Aufbruch rechtfertigten. Zumindest nicht, bis er den Grund für seine Annahme genannt hatte.
»Wie kommst du denn darauf? Hast du beim … Angeln
jemanden getroffen?« Sie hatte »Angeln« bewusst ironisch klingen lassen. Ihr war klar, dass er sie anlog. Und das sollte er ruhig wissen.
»Ich hab … Was tut das denn jetzt zur Sache? Wir müssen!«
Nun baute sich das Mädchen vor ihm auf und funkelte ihn an. »Ich beweg mich keinen Meter, bevor du nicht aufhörst, uns Lügen aufzutischen. Ich will jetzt die Wahrheit wissen. Wo du warst, wen du getroffen hast und warum wir in diese verdammte Drecksgegend gekommen sind.«
Stephan musterte sie. Er wirkte ruhig. »Ich war beim Angeln, und ganz in der Nähe saßen zwei Typen in einem Auto, die mir ziemlich verdächtig vorgekommen sind. Reicht das fürs Erste? Kann ich dir alles Weitere später erklären?«
Joshua hatte bereits den Rucksack geholt und stopfte seinen Schlafsack in die Hülle.
»Wer waren die Typen, die du da gesehen hast? Und woher weißt du überhaupt, dass sie dir nicht gefolgt sind?«
Jetzt blaffte Stephan sie an: »Weil ich kein Idiot bin. Zwei von ihnen
sind in der Gegend. Wir werden jetzt abhauen. Noch ist es wenigstens nicht ganz hell. Kapiert?«
Er war ihr so nahe gekommen, dass sie seinen Atem auf dem Gesicht spüren konnte. Jetzt erst sah sie, dass seine Lippe aufgerissen war. »Und woher hast du die Verletzung?«
»Ich bin hingefallen und auf einem Stein gelandet. So, Fragestunde beendet?«
»Fertig, wir können von mir aus.« Joshua befestigte noch seine Flasche und sein Geschirr am Rucksack, dann schulterte er ihn. »Soll ich dir helfen, Cayenne?«
Stephan holte die Angelrute aus seinem Rucksack und begann, seine wichtigsten Habseligkeiten zusammenzusuchen.
»Jo, verdammt, fall mir doch jetzt nicht in den Rücken!«, schimpfte Cayenne.
»Ich fall dir in den Rücken? Dass ich nicht lache! Du wolltest doch selber weg vorhin, wieso ist dir auf einmal so danach, hierzubleiben?«
Stephan kniete vor seinem Rucksack und starrte sie entgeistert an. »Wie? Du wolltest weg? Wohin denn?« Er stand auf und kam mit fragendem Blick auf sie zu. Da sie nicht reagierte, wandte er sich noch einmal an ihren Bruder. »Jo, was war los? Wir sollten als Familie keine Geheimnisse voreinander haben.«
Ihr Bruder warf Cayenne einen entschuldigenden Blick zu, dann erzählte er alles haarklein.
Stephan war sprachlos. Offenbar aber weniger vor Wut oder Verärgerung als vor Enttäuschung. Er atmete tief durch, dann begann er: »Okay. Vermutlich habt ihr ein paar Antworten verdient. Und ihr kriegt sie. Denn wenn wir uns jetzt entzweien, war alles umsonst, all die Jahre des Umherziehens, all die Entbehrungen, all die Angst.« Er machte eine Pause, schien nachzudenken. Dann fuhr er fort: »Ich weiß, dass ihr ein Recht habt, das zu wissen, was ich weiß. Vielleicht hätte ich es euch schon längst sagen sollen, sagen müssen. Denn dann werdet ihr kapieren, warum wir jetzt keine Zeit mehr zu verlieren haben.«
»Bin gespannt«, brummte das Mädchen.
»Also, passt auf: Als ich gestern Abend losgegangen bin, wollte ich …«
Weiter kam er nicht. Seine Augen weiteten sich, sein Atem ging stoßweise.
»Was wolltest du?«, erwiderte Cayenne gelangweilt, die in seinem Verhalten nur einen weiteren Versuch vermutete, ihren Fragen auszuweichen.
Doch Stephan schwieg, hob einen Arm und fasste sich an die Schulter. Langsam drehte er sich um – und die beiden Jugendlichen sprangen mit einem Schrei auf. Knapp oberhalb von Stephans Schulterblatt steckte ein Messer. Blut tränkte sein Tarnhemd. Bevor sie reagieren konnten, ging er einen Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf die schwarz gekleidete Gestalt, die hinter ihm stand.