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Als Jürgen Wagner die zahlreichen Journalisten auf der gepflasterten Zufahrt des Innenministeriums sah, wurde ihm mit einem Mal klar, dass darin eine Chance lag. Eine Chance, die größer war als die Gefahr, die von dieser sensationshungrigen Meute ausging. Sie suchten einen Schuldigen, wollten den Menschen einen Verantwortlichen präsentieren, den man öffentlich kreuzigen konnte. Warum sollte er ihnen diesen Gefallen nicht tun? Als der Fahrer fragte, ob er lieber den Weg über die Tiefgarage nehmen solle, antwortete er deshalb: »Nein, mitten rein ins Getümmel.« Er hatte schon größere Schlachten geschlagen als diese.
Als er ausstieg, brach sofort ein Blitzlichtgewitter über ihn herein. Die hinter einer Absperrung zusammengedrängten Pressevertreter riefen ihre Fragen in seine Richtung. Er war offenbar einer der wenigen, die sich diesem Trubel aussetzten, so ausgehungert, wie die Journalisten waren. Dabei hatten sie momentan nicht einmal die Möglichkeit, ihre Fotos zu drucken oder ihre Filmchen auszustrahlen. Wagner lächelte. Eigentlich schätzte er es nicht, im Rampenlicht zu stehen, er zog lieber im Hintergrund die Fäden. Aber besondere Situationen verlangten eben besondere Flexibilität. Er sog die nasskalte Luft in seine Lungen, blickte in den düsteren Himmel, aus dem es jetzt wieder in Strömen regnete, dann auf den Behördenbau aus Beton und Glas, in dem der Krisenstab gleich tagen würde. Schließlich schlug er den Kragen hoch, vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und ging mit einem breiten Lächeln auf die Kameras und Mikrofone zu, die ihm entgegengereckt wurden.
Mit dem, was dann folgte, hätte man locker ein Seminar zum Thema »Professionelle PR-Arbeit« bestreiten können, auch wenn Jürgen Wagner nie ein solches besucht hatte, geschweige denn eine Universität. Er handelte aus dem Bauch heraus. Theorie hatte ihn schon immer gelangweilt. Was zählte, war die Praxis, und die beherrschte er wie kaum ein Zweiter. Auch heute. Mal antwortete er ausweichend, mal ungewohnt deutlich, machte Andeutungen, ließ hin und wieder ein paar Namen fallen, gab sich stets freundlich und geduldig. Am Ende dieser kleinen Inszenierung hatten die Journalisten genau das in ihren Aufzeichnungen, was Wagner und auch sie selbst so dringend benötigten: eine Geschichte, Namen, Schuldige.
Ganz offensichtlich kauften ihm die Medienvertreter ab, dass nicht etwa die Stromwirtschaft, sondern allein die Politik die Verantwortung trage, zu lange wichtige Investitionen zugunsten kurzfristiger Popularitätserfolge vernachlässigt hatte, »auf Verschleiß gefahren war« – eine Vokabel, die er erst kürzlich erfolgreich im Zusammenhang mit dem Chaos bei der Deutschen Bahn platziert hatte. Sie glaubten ihm, weil er im selben Atemzug mit den Schuldzuweisungen immer darauf hingewiesen hatte, dass es im Moment nicht um Schuldzuweisungen gehe, sondern um Zusammenhalt, den großen Schulterschluss.
»Wie werden denn dann überhaupt die Konfliktlinien verlaufen, im Krisenstab?«, wollte zum Schluss ein spitzbärtiges Bürschchen wissen. Großartig!
Irgendein Neuling, der ihm nun seinen Abgang versaute. Wagner zwang sich dennoch, freundlich zu bleiben, und erwiderte nichtssagend: »Es geht nicht um Konflikte, sondern darum, zusammen mit Einsatzkräften, Behörden und Politik alles daranzusetzen, die Normalität im Land möglichst schnell wiederherzustellen.« Sein Gegenüber notierte sich die Aussage Wort für Wort, nickte ihm dankbar zu und wollte sich abwenden, da rief Wagner ihn zurück. »Für welches Medium arbeiten Sie denn?«
»fmOne.«
Radio.
Wagner dachte kurz nach. Wieso eigentlich nicht? Es war ein populärer Sender, wenn auch nicht besonders seriös, und er würde sich in dem Fragesteller einen treuen Verbündeten schaffen, wenn er … »Kommen Sie doch mal eben her.«
Er gab den Sicherheitsleuten mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass es in Ordnung sei, und ließ den jungen Mann über die Absperrung klettern. »Wie heißen Sie?«
»Tim. Ich bin der Tim«, erwiderte der andere eifrig.
Wagner wartete noch ein bisschen, aber als Tim keinen Familiennamen nachreichte, zuckte er die Achseln. »Also: Ich bin der Herr Wagner«, sagte er, legte kumpelhaft den Arm um Tims Schulter und griff in die Innentasche seines Mantels. »Ich habe da etwas, das dich bestimmt interessiert …«
Wagners Laune war überraschend gut, als er den großen Konferenzraum betrat. Er würde selbst aus dieser Extremsituation noch gestärkt hervorgehen. Seine Stimmung unterschied sich damit wesentlich von der aller anderen Anwesenden, die sorgenvoll oder gehetzt dreinblickten. Er grüßte Bernhard Seibold mit einem Nicken, dann nahm er in der zweiten Reihe hinter ein paar Parlamentarischen Staatssekretären Platz, die sich hier gegenseitig auf die Füße traten. Das war gut. Wagner würde bei dieser Ansammlung von Geltungssucht und Inkompetenz kaum auffallen. Neben den erwarteten Gesichtern entdeckte er auch Vertreter von Bundespolizei, Bundeswehr und des THW.
Er verfolgte die Sitzung einigermaßen entspannt, da sich die Anwesenden mit Vorwürfen überboten, die alle darauf zielten, dem politischen Gegner die Schuld für die momentane Krise in die Schuhe zu schieben. Ihn als Vertreter der Stromerzeuger schienen sie vorerst nicht auf dem Zettel zu haben. Erst als einer der Experten aus dem Innenministerium, der Leiter der Abteilung KM, was für Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz
stand, das Wort ergriffen hatte, horchte Wagner auf. Der Mann verfügte über Informationen, die selbst er noch nicht hatte. »Meine Damen, meine Herren, was wir konstatieren müssen, ist, dass der in Nord- und Mitteldeutschland herrschende Ausfall der kompletten Stromversorgung nicht zeitnah zu beheben sein wird«, begann der Mann, der sich als Doktor Gernot Härtling vorgestellt hatte. Er kam unverblümt zur Sache, was zu einem Raunen im Konferenzraum führte. »Primärer Auslöser ist natürlich das Extremwetter, das zunächst zu vereinzelten Leitungsausfällen geführt hat, die in der Summe dann das allzu fragile Gleichgewicht unserer Stromnetze aus dem Takt gebracht haben bis zum völligen Kollaps der Systeme. Eine Notversorgung wird mit Technischem Hilfswerk und Kräften der Bundeswehr in Gang gesetzt, außerdem haben wir die Notfallpläne des BBK aktiviert.«
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
, dann war es wirklich ernst. Wagner passte innerlich seine Strategie an.
Nachdem Härtling mit seinem Lagebericht geendet und die Vertreter des THW seine Aussage bekräftigt hatten und beteuerten, auch sie würden alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu helfen, führte die Politik wieder das Wort: Eifrig meldete sich Anton Berger zu Wort, neben dem Wagners »Freundin« Gundula Meier-Knoll saß. Offensichtlich mied die Grünen-Vertreterin nach ihrem letzten Zusammentreffen die direkte Konfrontation mit ihm und seinen Auftraggebern – und ließ lieber ihren Lakaien für sie sprechen. »Meine Fraktion ist der Meinung«, begann Berger, »dass die Bevölkerung umgehend über das ganze Ausmaß der Katastrophe informiert werden muss.«
»Mit Verlaub, Herr Kollege, Katastrophe
ist ja nun wirklich ein großes Wort«, maßregelte ihn der parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums. Sein Dienstherr stapfte derweil sicher bereits öffentlichkeitswirksam in Gummistiefeln durch eine der Krisenregionen.
Die Leute von THW und Bundespolizei warfen sich erstaunte Blicke zu.
»Nur durch umfassende Information bewahren wir die Bevölkerung vor weiteren Schäden, die den Bürgerinnen und Bürgern durch das unverantwortliche Handeln der Stromversorger zugefügt wurden«, fuhr Berger unbeirrt fort.
»Bitte, wir sind doch heute nicht hier, um uns gegenseitig Vorwürfe zu machen«, entgegnete der Staatssekretär.
Darin sah Wagner seine Chance. »Wenn Sie erlauben, Herr Staatssekretär – sehr geehrte Damen und Herren«, ergriff er das Wort, »da wir hier direkt attackiert wurden, möchte ich im Namen der deutschen Stromversorger mein großes Bedauern über die momentane Lage zum Ausdruck bringen. Wir haben bereits einen Hilfsfonds von drei Millionen Euro aufgelegt, aus dem die unmittelbar Betroffenen schnell und unbürokratisch Mittel erhalten sollen.«
Der Hilfsfonds war Wagners Idee gewesen: Er würde zahlreiche Klagen verhindern und dadurch am Ende viel Geld sparen. Im besten Fall funktionierte er sogar als Imagewerbung für seine Auftraggeber.
Nun galt es allerdings, seinen Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen: »Einen zu offensiven Umgang mit sensiblen Informationen halten wir für nicht zielführend. Ihr geschätzter Dienstherr hat doch an anderer Stelle zu Recht bemerkt, dass Antworten auf manche Fragen die Bevölkerung auch verunsichern können. Wir sind zuversichtlich, dass innerhalb der nächsten zwölf bis vierzehn Stunden die Schäden behoben sein werden.« Zustimmendes Gemurmel war die Antwort auf diese optimistische Prognose, die durch nichts, was Wagner von der aktuellen Lage wusste, gedeckt wurde. Tatsächlich lagen die internen Vorhersagen um das Drei- bis Vierfache höher. Mindestens. Aber so würden sie erst einmal Zeit gewinnen.
»Eine sehr optimistische Vorhersage, die ich so nicht teilen kann«, widersprach Berger. Alle Augen waren nun auf Wagner gerichtet.
Der lächelte Berger herausfordernd an. »Wenn Sie sich die aktuelle Studie des Bundesamtes für Technikfolgenabschätzung einmal anschauen, werden Sie zum selben Ergebnis kommen wie ich.«
»Ach, meinen Sie die Studie, die Sie
im Innenausschuss auseinandergenommen haben?« Berger schien sich zu freuen, weil er Wagner in der Defensive vermutete.
»Bitte, meine Herren, das führt doch zu nichts«, schaltete sich jetzt wieder der Staatssekretär ein.
Wagner nickte ihm zu. »Eben. Lassen Sie uns doch lieber sehen, wie wir jetzt schnell Hilfe anbieten können. Ich darf Ihnen ein Angebot unterbreiten, bei dem wirklich alle großen Energieversorger an einem Strang ziehen: Ihnen werden sämtliche verfügbare Notaggregate, die nicht direkt von den Stromerzeugern benötigt werden, für humanitäre Zwecke zur Verfügung gestellt – zum Selbstkostenpreis.«
»Selbstkostenpreis? Wie soll der sich denn bitte berechnen? Es sieht doch vielmehr so aus, als wollten Sie jetzt auch noch Profit aus Ihren Versäumnissen schlagen«, blaffte Berger.
Verdammt
, der langhaarige Typ ging ihm allmählich auf den Sack. Wie lange brauchte denn dieser Grünschnabel von draußen noch, um in die Puschen zu kommen?
»Meine Auftraggeber sind privatwirtschaftliche Unternehmen und ihren Aktionären gegenüber zu profitablem Handeln verpflichtet. Dass hier alle großen Stromversorger derart unbürokratisch und selbstlos handeln, verdient Respekt und keine Polemik. Ich würde mich übrigens freuen, wenn wir gleich nach dieser Sitzung unser Vorgehen, was die mobilen Aggregate angeht, mit den Vertretern der Hilfswerke abstimmen könnten. Sie und Ihre Leute machen einen tollen Job und verfügen über ein Know-how, von dem wir alle nur lernen können.«
Die Angesprochenen nickten ihm dankbar zu. Sie fühlten sich gebauchpinselt – damit hatte er sie schon mal auf seiner Seite.
Da öffnete sich eine Seitentür. Eine Mittzwanzigerin kam herein und flüsterte Gundula Meier-Knoll etwas ins Ohr, worauf diese ihren Parteikollegen Berger aufgeregt am Arm zupfte. Sie sprachen leise miteinander, dann entschuldigte sich Meier-Knoll und eilte aus dem Sitzungsraum. In die Reihen der anderen Vertreter kam dadurch Bewegung, sie sahen der Politikerin nach und tuschelten kopfschüttelnd.
Bravo, Tim, gerade rechtzeitig
, dachte Wagner. Es hatte sich gelohnt, dem Grünschnabel die belastenden Infos über Meier-Knoll zukommen zu lassen. Das war ein Scoop, den sich dieses Medium nicht entgehen lassen konnte. Selbst in einer Zeit, in der eine Sensationsmeldung die andere jagte. Den Grünen war damit erst mal das Maul gestopft.
Jetzt galt es, die Unruhe auszunutzen. »Meine Damen und Herren, bitte, lassen Sie uns die Konzentration nicht verlieren. Das Angebot mit den Aggregaten steht. Nehmen Sie es an. Doch eines ist klar: Es wird nicht reichen, das Problem zu lösen. Wir appellieren an die Politik, sich mit Sofortmaßnahmen und großzügigen finanziellen Hilfen zu beteiligen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass die Wählerinnen und Wähler ihre Entscheidung im kommenden Herbst von Ihrem Verhalten auch in dieser Frage abhängig machen werden. Dies ist die Stunde, an der wir über unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder entscheiden.«
Das hatte gesessen. Er sah an den Gesichtern, dass es genau das war, was die Anwesenden hier wirklich umtrieb. Nicht die eigentliche Katastrophe, denn genau das war es, da hatte Berger recht. Nein, die Folgen, die sich daraus für sie ergeben würden, machten ihnen Angst. Die Unsicherheit über die richtige Strategie lähmte ihr Handeln. Sie wollten das Richtige tun. Und sie brauchten jemanden, der ihnen sagte, was das Richtige war: Sie brauchten ihn. »Was glauben Sie, wem die Wähler vertrauen: Jemandem, der mit dem Rechenschieber über die Ressourcen wacht? Oder jemandem, der Größe zeigt, wenn es darauf ankommt, der in der Not unbürokratisch hilft?«
Wagner wusste, wie die Antwort auf diese Fragen lauten würde.