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Wütend riss Wagner die Angelhaken aus seiner Wange. Die drei Waldbewohner kämpften offenbar mit primitivsten Hilfsmitteln. Er wusste nicht, was ihn zorniger machte: dass es höllisch wehtat, als das Metall sich in sein Gesicht schnitt, oder dass er so dumm gewesen war, in diese Falle zu tappen. Früher wäre ihm das nicht passiert. Er war wohl doch etwas aus der Übung. Schließlich hatte er in den letzten Jahren Leute gehabt, die direkte Konflikte für ihn ausgetragen hatten – in erster Linie Chu. Das Fädenziehen im Hintergrund lag ihm mehr, und wenn er sich die versehrten Gesichter seiner Handlanger anschaute, war das auch besser so.
Seine Komfortzone hatte er schon länger nicht mehr verlassen müssen. Aber mit dem Kämpfen war es wie mit dem Fahrradfahren, sagte er sich: Man verlernte es nicht. Jedenfalls würde er seinen Gegnern keine weitere Gelegenheit geben, ihm oder Chu gefährlich zu werden.
Wo war der überhaupt? Hatte ihn der Baumstamm so hart erwischt?
Wagner konnte ihn weder sehen noch hören. Er wischte sich übers Gesicht. Als er die Hand zurückzog, war sie rot von seinem Blut. Ungläubig starrte er darauf. Viele Jahre hatte ihn niemand mehr körperlich verletzt. Seine Fassungslosigkeit war genauso groß wie sein Zorn. Gleich würde er die drei umbringen, einen nach dem anderen. Auch dafür. Und Giger dazu. Durch das Dickicht sah er, dass der Schweizer noch immer am Lagerfeuer saß. Da er schlief, wäre er auf jeden Fall die leichteste Beute. Ein beherzter Schlag in den Nacken und …
In diesem Moment hörte er ein Flirren in der Luft und blickte auf. Gerade noch rechtzeitig, um den Speer zu sehen, der haarscharf an seinem Kopf vorbeizischte.
Verdammt. Schon wieder hatte er eine Gefahr nicht vorausgeahnt. Wenn diese Dilettanten zielen könnten, würde das Ding jetzt in seiner Brust stecken. Glück gehabt.
Mit beiden Händen umfasste er seine Waffe und streckte sie nach vorn. Atemlos stand er da. Jetzt würde er sich nicht mehr überrumpeln lassen.
Da traf ihn der Pfeil.
Wagner jaulte auf. Sein rechter Arm brannte wie Feuer, er konnte die Waffe nicht mehr halten. Bestürzt starrte er auf die Wunde: ein Pfeil! In seinem Arm! Es kam ihm unwirklich vor, wie in einem Robin-Hood-Film. Er öffnete und schloss die Faust, was zwar höllisch wehtat, aber funktionierte. Kurzerhand brach er den Pfeil direkt über der Eintrittsstelle ab. Das Geschoss würde die Wunde erst einmal verschließen. Die Schmerzen allerdings blieben. Unfassbare Schmerzen – auch so etwas hatte er lange nicht mehr gespürt.
Wagner ging hinter einem Baum in Deckung, um ein wenig durchzuatmen, seine Gedanken zu ordnen. Da sah er seine Waffe. Sie lag nur zwei Meter von ihm entfernt. So tief wie möglich robbte er über den Waldboden, holte sich die Automatikpistole und kroch weiter, hinter einen anderen Baum, wo er ein paar Sekunden verschnaufte, um dann ganz langsam den Kopf zu heben. In dieser Stellung verharrte er wie ein Tier auf Beutezug, die Augen unbewegt geradeaus gerichtet, um jede noch so kleine Veränderung wahrnehmen zu können. Und er wurde nicht enttäuscht: Vielleicht zwanzig Meter vor ihm bewegte sich das Gestrüpp. Langsam hob er die Pistole, zielte auf die Bewegung, wartete ab, welche Richtung sie einschlug, versuchte abzuschätzen, wo sie im nächsten Moment sein würde – und drückte ab.
Der Schuss zerriss die Stille des Waldes mit ohrenbetäubendem Lärm. Er war sich sicher, dass er getroffen hatte. Nur was? Oder … wen? Da erklangen die Schreie. Das musste der Junge sein! Aber er war nicht tot, schrie nur wie am Spieß. Verdammt! Konnte nicht irgendetwas hier mal nach Plan laufen?
Wagner erhob sich vorsichtig, um den Burschen endgültig zum Schweigen zu bringen, da erschallte ein weiterer Schrei, diesmal rechts von ihm. Er fuhr herum, als eine Gestalt mit wildem Gebrüll und verzerrtem Gesicht aus dem Unterholz brach. Das Mädchen.
»Cayenne, nicht!«, tönte es hinter ihr, und jetzt sah Wagner zum ersten Mal den Vernarbten, von dem Chu gesprochen hatte. Er war kurz irritiert von dem Anblick, wusste nicht, wen er zuerst erledigen sollte. Dieses Zögern rächte sich sofort. Mit einem Satz, den er dem Mädchen nicht zugetraut hatte, warf es sich auf ihn.
Verdammt, was hatte diese Göre vor? Noch ehe Jürgen Wagner wusste, wie ihm geschah, warf ihn die Wucht des Aufpralls zu Boden. Sofort drosch sie mit aller Gewalt auf ihn ein, hatte es besonders auf die Wunde abgesehen, in der noch die Hälfte des Pfeils steckte. Wagner schrie auf und ließ erneut die Waffe fallen. Jeder Schlag schmerzte noch mehr als der eigentliche Treffer. Als er im Augenwinkel sah, wie nun auch der Mann mit der Narbe auf ihn zustürmte, bekam er Panik.
Doch genau in diesem Moment tauchte Chu hinter dem Angreifer auf, sprang ihm auf den Rücken, schlang einen Arm um seinen Hals und hob das Messer, bereit, zuzustechen.
Gott sei Dank, Chu, die Kampfmaschine. Nun würde alles gut werden.
Er fühlte die Euphorie über das plötzliche Auftauchen des Vietnamesen, als ihn ein Stein am Kopf traf. Es tat kaum weh, er war nur benommen, verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wo oben und unten war.
Instinktiv rollte er sich herum und schüttelte das Mädchen ab. So schnell es sein Zustand zuließ, kroch er davon, irgendwohin, ins Unterholz, Hauptsache weg. Er sah sich nicht mehr um, scherte sich nicht um die Äste, die ihm Gesicht und Unterarme zerschnitten, wollte nur weg, musste wieder zu Atem kommen, neue Kraft sammeln. Die Kontrolle zurückgewinnen.
»Halt!« Der Schrei des Mädchens gellte durch die Nacht. Es war die selbstsichere Stimme eines Menschen, der um seine Stärke wusste, der … die Waffe! Sie musste seine Waffe haben. Verdammt, er hatte völlig den Überblick verloren. Was war nur aus ihm geworden? Langsam stand er auf und drehte sich um, und tatsächlich: Das Mädchen stand ihm gegenüber, breitbeinig, die Pistole im Anschlag, den hasserfüllten Blick auf ihn gerichtet. Und noch etwas sah Jürgen Wagner: ihren Beschützer, der mit seinen kräftigen Oberschenkeln Chus Arme auf den Waldboden presste.
Giger hingegen saß immer noch reglos am Feuer. Was lief hier nur schief? Sie mussten diesen seltsamen Waldläufern doch haushoch überlegen sein. Aber nun lag Chu am Boden und das Mädchen hatte ihn selbst im Visier, den Finger am Abzug.
»Drück ab«, rief der Vernarbte ihr zu.
Dann wurde ihm alles klar. Es war unfassbar, ungeheuerlich, aber endlich ergab alles einen Sinn. Er kannte den Mann. Erkannte seine Stimme. Doch ein Geräusch ließ ihn herumfahren und brachte auch das Mädchen aus dem Takt. Ein Geräusch irgendwo im Unterholz. Der Junge! Er hatte ihn ganz vergessen, nachdem seine Schreie verklungen waren. Er lebte also noch. Bewegte sich auf sie zu.
In der Miene des Mädchens spiegelte sich nun kein Hass mehr, sondern Angst. Angst um ihren Bruder. Ein Umstand, den Wagner eiskalt ausnutzte. Er wusste, dass er gegen sie keine Chance haben würde, solange sie die Waffe in den Händen hielt. Aber des Jungen würde er schon noch Herr werden, vor allem in diesem Zustand. Schnell hechtete er zu ihm hinüber. Noch im Sprung zog er sein Messer, das er dem Kleinen an die Kehle presste.
Wagner atmete tief durch. Kontrolle. Er hatte wieder die Kontrolle, das konnte er an den entsetzten Gesichtern seiner Kontrahenten ablesen. »Lass die Scheiß-Pistole fallen«, schrie er das Mädchen an. Seine Stimme klang schrill, aber er spürte, dass er jetzt die Oberhand hatte, rappelte sich auf und zog dabei den Jungen mit hoch. Der leistete keine Gegenwehr. Ob er zu geschockt war oder ob es seine Verletzung verhinderte, vermochte Wagner nicht zu sagen. Dann standen sie da und fixierten einander. Das war der richtige Moment, fand er. »Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal wiederzusehen, Stephan Schmidt.«
Schmidt? Cayenne war verwirrt. Warum zum Teufel nannte er ihn Stephan Schmidt? Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hörte sie Stephan sagen: »Ich dagegen war mir immer sicher, dass wir uns noch einmal begegnen würden, Jürgen Wagner.«
Wagner? Cayenne spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Das war Wagner? Das war – er? Der Kopf des Ganzen? Der Mann, von dem Giger erzählt hatte, bevor er gestorben war? Natürlich, wer sonst! Sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen, aber so ergab alles einen Sinn. Wie lange hatte sie dieser Begegnung entgegengefiebert! Und nun – konnte sie nichts ausrichten. Sie suchte den Blick ihres Bruders, doch seine Augen waren glasig. Er war schwer verletzt, das war offensichtlich. Wenn er nicht schnell Hilfe bekam, sah es nicht gut aus. Sie schaute zu Stephan, der noch immer auf dem kleinen Asiaten hockte.
»Lass ihn frei, Stephan«, rief Wagner, und es war keine Bitte. Seine Stimme klang nicht mehr schrill. Offenbar gewann er seine Selbstsicherheit zurück. Was sollte sie nur tun? Da war er, der Mann, den sie mehr hasste als jeden anderen Menschen auf der Welt. Und da war ihr Bruder, den sie mehr liebte als alles andere. Sie hatte keine Wahl. Also warf sie die Waffe zu Boden – allerdings nur zwei Schritte weit. So konnte ihr Gegner sie nicht erreichen.
»Und jetzt lass unseren kleinen asiatischen Freund frei, Arschloch«, rief Wagner Stephan zu.
Der zögerte, worauf Cayenne zischte: »Er hat Joshua, verdammt noch mal.«
»Joshua?«, wiederholte Wagner breit grinsend. »So heißt der Kleine? Also, steig mal lieber von Chu runter, sonst ist Joshuas Akne sein kleinstes Problem …«
Cayenne sah wieder zu Stephan. »Jetzt mach schon, was er sagt«, drängte sie ihn.
Erst zögerte er noch, aber als ihm Cayenne einen vernichtenden Blick zuwarf, erhob er sich langsam. Sobald der Druck auf Chus Beine nachgelassen hatte, wand der Vietnamese sich unter ihm heraus und richtete sich taumelnd auf. Chus Oberschenkel war voller Blut und seine linke Gesichtshälfte stark angeschwollen, wahrscheinlich von dem Baumstamm. Der kleine Mann schleppte sich mühsam zu seinem Begleiter, der ruhig abwartete, bis er hinter ihm in Deckung gegangen war. »Und jetzt heb die Waffe auf und bring sie mir, Kleine.«
»Nein«, rief Stephan aufgeregt. »Wenn du sie ihm gibst, sind wir alle tot.«
»Ach, das sagt ausgerechnet der, der seinen alten Freund Klamm kaltblütig umgebracht hat?«, erwiderte Wagner.
Cayenne wurde hellhörig. Stephan sollte jemanden umgebracht haben?
»Ich musste es tun. Er war hinter uns … hinter ihr her.«
Jetzt verstand sie. Klamm war der Mann gewesen, der sie angegriffen hatte.
»Gib ihm die Waffe nicht! Glaub mir, ich kenne ihn«, riss Stephan sie aus ihren Gedanken.
Cayenne blickte hilflos zwischen den beiden Männern hin und her.
»Du kennst mich?«, blaffte der andere. »Das dachte ich von dir auch einmal! Also, her mit der Waffe, sonst …«
Wagner schien nervös zu werden. Er drehte sich um. Chu zuckte die Achseln. »Verdammte Scheiße. Gehen wir eben ohne«, presste Wagner hervor. »Aber ein Mucks, dann war’s das für ihn.« Dann setzte sich die makabre Prozession in Bewegung: Wagner mit Joshua im Schwitzkasten, Chu, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, ein Stück hinter ihnen, alle drei im Rückwärtsgang.
Stephan wollte ebenfalls loslaufen, doch Cayenne gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er das besser bleiben ließ. Sie würden abwarten, bis die drei weiter weg waren, und dann … Da sackte Chu in sich zusammen, wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte, und prallte gegen Wagners Rücken. »Scheiße …«, entfuhr es dem, dann stolperte er nach vorn, fiel auf die Knie und riss Joshua mit.
Cayenne wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder ob die Situation nun endgültig eskalieren würde. Angespannt beobachtete sie, wie Wagner sich und ihren Bruder wieder hochwuchtete. Dann erst schaute Cayenne genauer hin. Als er gestolpert war, hatte sich Wagners Messer tief in den Hals ihres Bruders geschnitten. Wie paralysiert starrte sie auf Jo, der selbst nicht zu begreifen schien, was mit ihm geschah. Er hob die Hände an seinen Hals, aus dem unaufhörlich Blut quoll. Blutblasen erschienen auf seinen Lippen, aus seinem Mund drangen gurgelnde Laute, dann kippte er langsam vornüber.
»Neiiiin!« Cayennes schriller Schrei ließ die Trommelfelle erzittern. Dann stürmte sie los. Nichts konnte sie jetzt mehr aufhalten. Wagner sah sie erschrocken an. Panisch blickte er zu Chu, der bleich auf dem Boden lag. Wagner schien abzuwägen, ob ihm die Flucht mit seinem Begleiter gelingen würde. Kurz zögerte er, dann floh er allein ins dunkle Dickicht des Waldes.
Cayenne ließ ihn ziehen, stürzte zu ihrem Bruder, sah das Blut, die Wunde, verstand, dass sie nichts mehr tun konnte, versprach Joshua verzweifelt, alles werde gut werden, sie würden seine Wunde verarzten und dann raus aus diesem gottverdammten Wald.
Gleichzeitig packte Stephan den am Boden liegenden Chu mit einer Hand und zog ihn hoch. Rasend vor Wut brüllte er ihn an: »Warum Wagner, Chu? Du bist doch für ihn nur ein weiterer Fußsoldat, den er zum Sterben zurücklässt.«
»Wie …?«
»Ja, mich hast du nicht erwartet, hm?«
Cayenne streichelte ihrem Bruder über den Kopf, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
»Wo will er hin?«, hörte sie Stephan fragen, die Hand wie ein Schraubstock um Chus Hals. Es sah aus, als habe der große, muskelbepackte Mann eine Bauchrednerpuppe an seinem Arm. »Was hat er vor? Sag’s mir, oder ich schwöre dir, ich mach dich alle. Hier und jetzt.«
Chu schüttelte den Kopf und verzog das geschwollene Gesicht zu einem Grinsen. »Ich unwichtig. Er holen McMillan aus Gefängnis. Wird töten dich. Zweites Mal.«
Da sah Cayenne, wie Stephan seine Hand mit aller Kraft zudrückte und Chus Kehlkopf unter dem Druck seiner Finger nachgab.