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Der Lärm verursachte pochende Schmerzen im Kopf des Schotten.
So nannten ihn alle. Mit seinen riesigen Händen fuhr er sich über die roten Haarstoppeln auf seinem Schädel. Er hasste den Lärm und war ihn auch nicht mehr gewohnt: Hier ging es normalerweise ruhig und für ein Gefängnis relativ gesittet zu. Dafür sorgten schon die Wärter. Und diejenigen unter den Insassen, die das Sagen hatten. Doch seit ein paar Tagen war hier nichts mehr normal. Als die Lampen zum ersten Mal ausgegangen waren, waren bei einigen Gefangenen die Sicherungen durchgebrannt, und es war von Tag zu Tag schlimmer geworden. Ein elektrisches System nach dem anderen hatte den Geist aufgegeben. Erst das Licht, dann die Lüftung, die Heizung, schließlich das warme Wasser. Für jemanden wie ihn kein Problem, aber die ganzen anderen Pussys hier drin krakeelten sofort nach ihren Anwälten, klagten über die miesen Haftbedingungen, forderten eine Verlegung und solche Scherze. Doch es passierte genau das Gegenteil: Eine Vergünstigung nach der anderen wurde ihnen gestrichen, Extras wurden eingeschränkt. Aus »sicherheitstechnischen Gründen«. Wie es immer hieß, wenn hier etwas geändert wurde. Was so viel bedeutete wie: Was wir machen, geht euch einen Scheißdreck an.
Und jetzt auch noch das: Der fette Gefängnisleiter hatte eben vor den versammelten Insassen vermeldet, dass eine Einzelunterbringung nicht mehr möglich sei. Um den Betrieb aufrechtzuerhalten, müsse man die Notstromversorgung auf einen kleinen Teil des Gefängnisses beschränken, was bedeute, dass sich vorübergehend bis zu fünf Mann eine Zelle teilen müssten.
Das Geschrei, das nach dem Verkünden dieser Nachricht im Essenssaal, in dem sie alle zusammengetrieben worden waren, losbrach, war ohrenbetäubend. Geschirr und Essen wurden durch die Gegend geworfen. Und der Tumult steigerte sich noch, als der Fettsack meinte, sie sollten mit den Mahlzeiten besser sparsam umgehen, denn die Portionen müssten von nun an rationiert werden. Dabei gab es sowieso nur noch kalten Fraß.
Nun packte auch den Schotten die Wut. Mit allem konnte er leben, alles hatte er schon gesehen, hatte in Erdlöchern gehaust, auf Bäumen, in Wüsten. Aber wenn das Essen knapp wurde, fingen seine Nerven an zu flattern. Dabei war es nicht so, dass es einem bei dem Zeug, das sie einem hier vorsetzten, nach mehr verlangte. Aber seine einhundertzwanzig Kilo – früher reine Muskelmasse, die sich immerhin noch erahnen ließ – brauchten entsprechend viel Brennstoff. Für die meisten der Insassen waren die Essenstermine außerdem die Höhepunkte ihres tristen Alltags. Wobei es einem in Deutschland ja noch gut ging, fand er. Er hatte schon in ganz anderen Rattenlöchern gesteckt, die sich Gefängnis schimpften. Dagegen war das hier eine Nobelunterkunft.
Wie auch immer: Kleinere Rationen in Verbindung mit größeren Zellenbelegungen – das war ein Pulverfass. Das musste doch auch den Wärtern klar sein. Der Schotte ließ seinen Blick schweifen: Die meisten der Justizvollzugsbeamten, wie sie sich hier nannten, waren Extremsituationen nicht gewachsen. Sie wirkten träge, hatten graue, teigige Gesichter oder waren picklige Kids. Ihnen allen stand die Furcht, dass sie die Kontrolle verlieren könnten, ins Gesicht geschrieben.
Immerhin hörte jetzt dieser beschissene Lärm auf, weil der Fettsack – offenbar aus Angst – versprach, dass es zumindest heute noch die normale Portion geben würde. Morgen müsse man dann weitersehen. Aber die Laune des Schotten war schon im Keller, und wenn seine Laune schlecht war, brauchte er noch mehr Essen als sonst. Bevor er sich also seine eigene Ration holte, griff er sich im Vorbeigehen das Tablett eines Mithäftlings. Als dem seine Mahlzeit vor der Nase weggezogen wurde, sprang er auf, hob den Kopf und holte gerade Luft für eine Schimpftirade, als er erkannte, wer den Mundraub begangen hatte. Sofort nahm sein Gesicht einen versöhnlichen Ausdruck an. »Lass es dir schmecken, Tom«, sagte er noch, doch der Rothaarige war bereits weitergegangen.
Einigermaßen satt, aber noch immer schlechter Laune, trottete der Schotte eine halbe Stunde später mit ein paar Mithäftlingen zu dem einzigen Zellentrakt, der noch mit Strom versorgt wurde. Die Wärter waren nervös, schon beim kleinsten Regelverstoß, der unter normalen Umständen nur ein Schulterzucken hervorgerufen hätte, begannen sie zu schreien und mit ihren Schlagstöcken herumzufuchteln. Er sah ihnen interessiert zu. Beeindrucken konnten sie ihn mit ihrem Gebrüll nicht, er roch förmlich die Angst unter ihrem martialischen Gehabe. Aber vielleicht würde die Sache mit dem Stromausfall doch noch interessant werden. In welche Richtung sich in den nächsten Tagen alles entwickeln würde, war kaum abzusehen. Und wenn es ihnen jetzt schon solche Mühe bereitete, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wie würde das dann erst in einer Woche aussehen?
Etwas besser aufgelegt betrat er die Zelle, die sie für ihn vorgesehen hatten. Zwei Stockbetten und ein Einzelbett waren in die paar Quadratmeter gezwängt worden, dazu ein Waschbecken und eine Toilette. Als der mächtige Rothaarige eintrat, verstummten die anderen vier, die schon in der Zelle warteten. Drei davon kannte er, der Letzte musste neu sein, er hatte ihn noch nie gesehen. Sie hatten viele Neue gebracht in den letzten beiden Tagen. Anscheinend war auch draußen ganz schön was los, ohne Strom. Die, die ihn kannten, warteten, welchen Schlafplatz der Rothaarige sich aussuchen würde. Als er sich auf das Einzelbett setzte, wählten auch sie sich jeweils eines aus und verkrochen sich wortlos darin. Nur der Neue schien mit der Situation nicht zufrieden. Er stellte sich vor den Schotten und streckte die Hand aus. »Hallo, ich bin Klaus, aber die meisten nennen mich Rock«, begann er leutselig. »Nicht wie das Kleidungsstück, sondern wie Dwayne The Rock Johnson.
Aus den Filmen, kennst du bestimmt.«
Der Schotte schwieg. Die anderen drei rollten sich noch weiter in ihren Decken zusammen. »Schon klar, du denkst jetzt: The Rock
, das is doch ’n Neger. Ich natürlich nicht. Aber der hatte als Wrestler so ’nen krassen linken Haken drauf wie ich eben«, plapperte der Neue weiter und baute sich breitbeinig vor dem Rothaarigen auf. Das Schweigen seines Gegenübers schien ihn nicht zu stören. »Okay, bist nicht von der gesprächigen Sorte, verstehe. Respektier ich auch, keine Frage. Bist eher so wie Drago
. Aus Rocky
, weißt schon, auch ’n Film. Kennste? Der blonde Russe. Nur, dass du ja rothaarig bist. Ire?«
Seine Kiefermuskeln begannen zu mahlen. Er war Schotte, reinrassiger Schotte, kein verfickter Irenarsch. Sorgfältig krempelte er die Ärmel seines Hemds hoch.
»Egal. Cooles Branding übrigens. Selber gemacht?« Er zeigte auf die Narben auf dem kräftigen Oberarm des Briten, die eine Granate mit sieben Flammen bildeten. Der verzog keine Miene. »Was anderes«, fuhr Klaus schließlich fort, »ich weiß nicht, wie ihr das hier für gewöhnlich so handhabt. Mit den Betten, mein ich. Aber ich hätt auch gern das einzelne. Krieg sonst schnell Platzangst. Sollen wir losen oder so?«
Die Augen des Schotten verengten sich, doch er antwortete nicht.
Jetzt wurde der Typ doch ein wenig unruhig. »Na ja, können wir ja noch überlegen. Hab jetzt erst mal Wichtigeres zu tun.« Klaus knöpfte sich die Hose auf und setzte sich auf die Toilette.
»Was machst du da?« Es war das erste Mal an diesem Tag, dass der Schotte sprach, weswegen sein Bass rau und belegt klang. Die anderen zogen die Köpfe ein. Sie wussten, dass es selten ein gutes Zeichen war, wenn er zum Reden gezwungen wurde.
»Ah, es spricht«, sagte Klaus grinsend. »Sorry, aber ich muss schon seit ’ner Stunde tierisch einen abseilen.« Dann verzerrte sich sein Gesicht, und kurz darauf hörte man ein Platschen in der Schüssel.
Der Schotte erhob sich, ging langsam auf den Mann auf dem Klo zu, packte ihn dann mit einer blitzschnellen Bewegung vorn am Hals und zog ihn mit einer Hand hoch. Klaus ruderte mit den Armen, seine Augen vor Überraschung weit aufgerissen, die Hose in den Kniekehlen. Als der Schotte ihn losließ, begann er zu fluchen: »Geht’s noch? Verdammt, kann man nicht mal in Ruhe scheißen?« Weiter kam er nicht, denn wieder griff der Rothaarige zu, diesmal von hinten. Er packte Klaus mit seiner Pranke im Nacken, drückte ihn mit einer schwungvollen Bewegung nach unten und tauchte seinen Kopf in die Kloschüssel. Der Neue kreischte, als er ihn wieder losließ und auf den Boden warf.
»Hast du sie noch alle, du Arschloch?«, geiferte er, da traf ihn ein Fußtritt so heftig in den Bauch, dass ihm die Luft wegblieb. Ein weiterer knallte gegen seinen Brustkorb. Wäre sein Gesicht nicht voller Scheiße gewesen, hätte ihn der Schotte auch noch in seine geschwätzige Fresse getreten. Bevor er sich eine weitere Stelle für einen Tritt suchen konnte, kamen die Wärter.
»McMillan, hör auf damit«, rief einer in die Zelle.
Der Schotte warf ihm einen müden Blick zu, ging zurück zu seinem Bett, legte sich hin und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
Die Tür wurde aufgeschlossen, drei Wärter kamen mit gezückten Schlagstöcken herein. »Willst du uns Ärger machen, McMillan?«, fragte einer von ihnen, ein junger Mann, der höchstens halb so viel wog wie der Angesprochene. Der sagte nichts, starrte nur weiter an die Decke.
»Sieht nicht so aus«, befand ein anderer und steckte seinen Schlagstock weg. Er schien erleichtert. Dann wandte er sich an Klaus. »Und du wasch dir die Scheiße aus dem Gesicht, ist ja ekelhaft.« Mit diesen Worten verließen sie die Zelle wieder.
Konsterniert blickte Klaus ihnen nach. »Du bist McMillan?«, fragte er ungläubig, als sie außer Hörweite waren. Da der Schotte nicht reagierte, schob er nach: »Ich hab eine Nachricht für dich.«