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Jürgen Wagners Kehle war trocken, sein Herz schlug bis zum Hals. McMillan lag nicht weit entfernt von ihm, der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Allein also. Kein Einziger seiner Verbündeten war ihm geblieben. Seine Gegner waren immerhin noch zu zweit. Und sie waren besser als er. Stärker. Schneller. Warum lief eigentlich seit Wochen überhaupt nichts mehr glatt in seinem Leben?
Vor dem Gefängnis gab es Tumult: Häftlinge grölten, Wärter brüllten hysterisch, Schüsse fielen. Wagner hörte den Lärm bis hierher. Anscheinend waren in der Anstalt sämtliche Dämme gebrochen. Die Männer rannten in ihre Freiheit und beglichen auf dem Weg ein paar Rechnungen mit den Wärtern.
Wie sollte das bloß alles weitergehen? Würde das Land tatsächlich im Chaos versinken? Nur weil ein paar Tage der Strom ausfiel? Wagner hatte das für unmöglich gehalten. Egal. Es hatte im Moment keinen Sinn, über die Zukunft nachzugrübeln. Denn sollte er diesen Kampf nicht für sich entscheiden, würde er sie nicht mehr erleben. Wagner spürte etwas, das er zuvor nicht in diesem Ausmaß gekannt hatte: Angst.
Dennoch wollte er die Sache beenden. Jetzt. Nur wusste er nicht, wo sich Stephan und das Mädchen gerade aufhielten. Das musste er ändern. Er zog seine Pistole, entsicherte sie und zielte vage auf den Rand des Flachdachs. Dann begann er zu schreien. »Komm raus, du feige Sau! Komm raus, wenn du ein Mann bist, und stell dich dem Kampf! Hast du in Castelnaudary nicht gelernt, wie man seinen Feinden begegnet? Los, zeig dich, du Memme! Machen wir endlich reinen Tisch.«
Keine Antwort.
»Bleib da, das ist eine Falle! Er will dich nur provozieren.«
Cayenne hielt Stephan an der Jacke fest. Er wollte losstürmen, zum Rand des Daches. Doch sie hatte sich nicht reizen lassen. Ihr war klar, was Wagner bezweckte: Stephan würde sich am Rand des Daches zeigen, Wagner würde ihn von unten abknallen, und sie stand ihm dann allein gegenüber.
»Dieses Schwein zieht alles in den Dreck, verkehrt alles ins Gegenteil«, zischte Stephan aufgebracht.
»Mag sein. Aber denk an das, was du uns beigebracht hast: immer einen kühlen Kopf behalten.« War das nicht auch Teil von diesem Ehrenkodex der Legionäre, den er immer beschworen hatte? »Im Kampf agierst du stets ohne Leidenschaft, ohne Hass« , zitierte Cayenne.
»Du hast gut aufgepasst. Und es stimmt. Wir müssen strategisch denken. Durch sein Gebrüll wollte er uns rauslocken – und hat uns dadurch seine Position verraten.«
Cayenne nickte. Zum Glück war Stephan wieder zur Vernunft gekommen.
»Er müsste ziemlich genau unter uns sein. Wir robben bis zur Kante vor, vielleicht können wir ihn von da aus sehen.«
Da ertönte wieder Wagners Stimme. »Hast du deiner kleinen Freundin eigentlich erzählt, was an dem Tag in Guyana passiert ist, an dem du krepieren solltest? Oder soll ich das machen, Arschloch?«
Cayenne blickte Stephan fragend an, doch der wich ihrem Blick aus.
»Du und deine bescheuerten Ideale«, brüllte Wagner hämisch. »Was haben sie aus dir gemacht? Los, sag schon!«
»Dieses Schwein«, keuchte Stephan.
Cayenne legte einen Finger auf ihre Lippen. Er durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Das wäre ihr Ende.
»Ich sag es dir: Ein entstelltes Monster haben sie aus dir gemacht! Einen gottverdammten Krüppel, der irgendwo im Wald haust, weil die Menschen ihn fürchten.«
Endlich waren die beiden am Rand des Daches. Cayenne schaute schnell über die kleine Mauer, zog ihren Kopf aber sofort wieder zurück. »Du hast recht, er ist direkt vor dem Dach«, flüsterte sie. »Nur ein paar Schritte links von uns. Mit seiner Waffe im Anschlag.«
Stephan holte tief Luft. »Okay. Er kann nicht gut sehen da unten. Wir müssen uns aber beeilen. Wir greifen beide gleichzeitig an, zwei schnelle Schüsse. Schnelligkeit vor Genauigkeit. Alles klar?«
»Klar.«
Stephan zählte mit den Fingern herunter: Drei, zwei, eins …
Cayenne schnellte hoch und gab zwei Schüsse ab, Stephan ebenso, dann duckten sie sich sofort wieder. Horchten in die Nacht. Keine Schreie, nichts. Ob Wagner tot war?
Da knallte es. Und noch einmal. In Bruchteilen von Sekunden zischten zwei Projektile über ihre Köpfe.
»Shit!«, schimpfte Cayenne. Noch so eine Aktion konnten sie sich nicht leisten. Wagner kannte nun ihre genaue Position, und sie hatten nicht genügend Munition, um sie einfach zu verballern.
Dann hörten sie, wie jemand wegrannte. Cayenne wartete noch einen Augenblick, blickte nach unten und sah Wagner auf das verlassene Hauptgebäude des Gefängnisses zulaufen.
»Hinterher!«, rief Stephan, als Cayenne bereits hastig die Feuerleiter hinunterkletterte.
Je weiter sie in das Gefängnis vordrangen, desto stiller wurde es. Gespenstisch still, wenn man bedachte, was für ein Inferno hier vor ein paar Minuten noch getobt haben musste. Anscheinend hatten alle Insassen die Gelegenheit genutzt und waren in die Freiheit geflohen. Sämtliche Geräusche waren verklungen, nur ganz vereinzelt drangen von draußen noch dumpfe Schreie durch die dicken Mauern der Anstalt. Die Spuren der Zerstörung waren hingegen überall zu sehen: Wie in einem Kriegsgebiet loderten hier und da ein paar kleine Feuer, vermutlich von den Gefangenen gelegt, um das verhasste Gebäude niederzubrennen. Dazwischen lagen auf dem Boden verstreut Bettwäsche, zerbrochene Schränke, aus der Wand gerissene Kabel, Kleidungsstücke, Papier … und hin und wieder auch ein lebloser Körper.
Das alles wirkte im flackernden Licht der Notbeleuchtung auf Cayenne furchtbar beklemmend. Sie brauchte all ihre Kraft, um die aufkeimende Panik niederzukämpfen. Mit beiden Händen umfasste sie die Waffe. Das kalte Metall vermittelte zumindest den Anschein von Sicherheit. Es war Chus Pistole, Wagners hatte sie nicht gewollt. Damit war ihr Bruder getötet worden. Damit würde Stephan Wagner richten, wenn sie ihn in diesem labyrinthischen Durcheinander endlich gefunden hatten. Es sei denn, sie bekam ihn zuerst in die Finger. Er hatte sich verkrochen, wie eine Ratte in der Kanalisation, aber da er die einzige Ratte in diesem Loch war, würden sie ihn finden.
Cayenne wandte sich zu Stephan um. Auch er schien nicht daran zu zweifeln. Die Lippen fest aufeinandergepresst und die Waffe im Anschlag, setzte er langsam einen Fuß vor den anderen. Ob sie sich diesmal auf ihn verlassen konnte? Sie war sich nicht sicher. Andererseits: Er kannte Wagner, wusste am besten, worauf sie achten mussten, um ihm nicht in die Falle zu gehen. Sicher hatte er diesen Moment schon unendliche Male in Gedanken durchgespielt. Den Moment der Abrechnung mit ihrem schlimmsten Feind.
Ihrem? Oder doch nur seinem? Das spielte nun keine Rolle mehr, Wagner hatte Joshua getötet.
Wortlos pirschten sie sich in dem endlos scheinenden Gang vorwärts. Rechts und links war ihr Weg gesäumt von den massiven Türen der Zellen, die alle offen standen. Sie passierten gerade eine davon, als es in dem Raum dahinter krachte. Schnell duckte sie sich. Stephan ließ sich zu Boden gleiten und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür. Cayenne tat es ihm auf der anderen Seite gleich. Der Eingang zur Zelle lag nun direkt zwischen ihnen. Sie blickten sich in die Augen. War Wagner da drin? Würde nun alles enden? Stephan legte seinen Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihr, sitzen zu bleiben. Auch er bewegte sich nicht. Es kostete Cayenne sehr viel Selbstbeherrschung, aber sie wollte jetzt nicht alles durch eine unbedachte Aktion gefährden. Also wartete sie. Die Sekunden zogen sich. In der Zelle rührte sich nichts. Hatten sie sich getäuscht?
Da ertönte von drinnen ein Ächzen. Er ist verletzt , schoss es ihr durch den Kopf. Das würde es ihnen leichter machen. Schleifende Geräusche näherten sich der Tür. Wagner schien sich zum Eingang zu schleppen. Dann schob sich eine Hand nach draußen, krallte sich in den Boden, wollte den Körper nachziehen, doch sie kam nicht dazu. Blitzschnell zückte Stephan sein Messer und nagelte damit die Hand auf den dicken Linoleumboden. Die Finger krümmten sich wie die Beine einer Spinne, die von einer Nadel aufgespießt wird, dann erklang ein markerschütternder Schrei. Stephan sprang auf und richtete die Waffe auf seinen Gegner, doch Cayenne hatte bereits an seinem Schrei erkannt, dass das unmöglich Wagner sein konnte. Langsam erhob sie sich, schaute ungerührt auf die Gestalt, die vor ihr auf dem Boden lag. Stephan bückte sich und zog das Messer wieder aus der Hand. Der Mann betrachtete ungläubig wimmernd das Loch darin. »Lasst mich gehen, bitte«, flehte er. »Ich bin heut erst hier reingekommen. Eigentlich gehör ich gar nicht hierher. Dieser Irre hat mich vorher ins Scheißhaus getunkt, dabei hab ich gar nichts …«
Sie hörten nicht weiter zu, ließen ihn liegen und setzten ihren Weg fort. Der Typ würde sich selbst helfen müssen.
»Da!« Stephans gezischter Laut ließ sie innehalten. Cayenne folgte seinem Blick – dann sah sie ihn auch. Jedenfalls seine Beine, die eine stählerne Treppe hinaufrannten. Sie legte an.
»Nicht«, sagte Stephan, doch es war zu spät, sie hatte schon abgedrückt. Ohrenbetäubend hallte der Schuss von den kahlen Wänden wider. Kurzzeitig hatte sie ein pelziges Gefühl in den Ohren, dann klärte sich ihre Wahrnehmung wieder.
»Es bringt nichts, wenn wir hier wild rumballern«, schimpfte Stephan. »Dann weiß er höchstens, wo wir sind.«
»Soll er doch«, erwiderte sie trotzig. Doch ihr war klar, dass Stephan recht hatte. Wenigstens konnten sie jetzt sicher sein, dass Wagner noch da war. Sie rannten also zur Treppe, spähten hinauf, versicherten sich, dass er nicht oben mit gezückter Waffe auf sie wartete, und liefen hinterher. Atemlos. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Cayenne so etwas wie Jagdfieber. Fieber auf der Jagd nach einem Menschen. So musste es Stephan früher ergangen sein, als er noch bei der Fremdenlegion war.
Der Gang, den sie erreichten, sah genauso aus wie der vorige. Nur dass sie sich jetzt ganz oben im Gebäude befanden. Wagner saß in der Falle. Sie hörten seine gehetzten Schritte. Cayenne meinte, Angst darin zu erkennen.
»Jürgen«, rief Stephan, doch die Schritte liefen einfach weiter. Da schrie er aus vollem Hals: »Georges!«
Augenblicklich blieb Wagner stehen.
Sie lauschten. Belauerten sich. Warteten darauf, dass der andere etwas tun würde.
»Was gibt es, Etienne?«, gellte es da zurück.
Cayenne blickte zu Stephan. Der wusste, wer damit gemeint war.
»Ich bin hier«, antwortete er.
Cayenne verstand nicht.
»Komm raus und zeig dich, mon Caporal «, rief Stephan. »Das bist du einem alten Kameraden schuldig.«
Wieder Stille. Dann tönte ein irres Lachen zurück.
Stephan schloss die Augen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Als er sie wieder öffnete und sie anblickte, wusste Cayenne, warum. Er wollte Wagners Position bestimmen und wusste nun offenbar, wo er war. Vor ihnen lag ein langer Gang, unterbrochen nur von einer verschlossenen Gittertür. In einer der Zellen dahinter musste er sein. Lautlos bedeutete Stephan ihr, dass sie den Gang zurückgehen und sich Wagner von hinten nähern sollte. Sie nickte und rannte los, getrieben von der Hoffnung, dass sie es sein würde, die ihn als Erstes zu fassen bekam.