4
Es folgte ein Montag mit einem Training, das ganz und gar nicht nach Wunsch verlief. Entweder lag es schlicht daran, dass es ein Montag war, oder Andrej wollte zu viel, nachdem er letztens die Perfektion miterleben durfte, mit der Timo durch die Luft sauste.
Sie hatten sich Saltos vorgenommen. Zuerst machten sie allerdings Bodenübungen, bei denen es darum ging, die Schnellkraft zu trainieren. Mit ausgestreckten Armen gingen sie tief in die Knie.
„Eins, zwei, drei“, rief Rainer und klatschte in die Hände.
Da sprangen sie explosionsartig los.
Dies klappte noch recht gut, als es aber zum Saltoschlagen aufs Trampolin ging, wollte Andrej nichts mehr gelingen. Simple Vorwärtssaltos beherrschte er eigentlich aus dem Effeff, selbst die brachte er aber nicht ohne heftiges Wackeln aufs Trampolin. Rückwärts war es noch viel schlimmer. Während Jonas, Lars, Theo und Basti jede Übung, die Rainer ansagte, normal ausführten, musste er immer wieder aussetzen. Er sprang bloß mit gestrecktem Körper hoch, anstatt einen Salto zu schlagen. Er wollte lieber nichts riskieren, denn er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man mit dem Gesicht voran in das Sprungtuch knallte. Er hatte es ja schon einige Male erlebt. Das Trampolingefühl, das er normalerweise so liebte, wollte sich an diesem Montag schlichtweg nicht einstellen.
Rainer war kein Trainer, der schimpfte. Eher einer, der besorgt dreinschaute. Genau das tat er jetzt. „Andrej, bis zu den Gaumeisterschaften muss das noch viel besser werden“, meinte er. „Junge, du musst mehr Sprungkraft einsetzen, hörst du! Du musst viel höher rauf!“ Er untermalte es mit deutlichen Gesten. „Dann klappt‘s auch mit dem Salto!“
Andrej nickte und nahm sich vor, es beim nächsten Übungsdurchgang besser zu machen. Vergebens. Als die anderen Doppelsaltos schlugen, schaffte er mit Müh und Not einen einfachen.
Verdammt, was war denn nur los? Es war ein Training zum in die Tonne treten. Besser, er machte sich keinen Kopf. Am Mittwoch würde die Welt wieder eine andere sein, redete er sich ein. Dann würde er wieder so durch die Luft wirbeln, wie er es liebte.
Rainer sagte nichts mehr dazu. Dass er unzufrieden war, konnte man ihm aber ansehen. Noch schlimmer waren Jonas‘ Blicke, die so viel sagten wie: Was will denn dieser Unterschichtenjunge hier? Der soll mir nicht die Luft wegatmen.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Jonas tatsächlich solche Sprüche von sich gegeben. Er hatte zum Glück damit aufgehört, nachdem Rainer ein ernstes Wort mit ihm geredet hatte. Seither dachte er sich solche Sachen nur.
Die verkorkste Trainingseinheit endete jetzt. Jonas schwang sich von seinem Trampolin und eilte superwichtig zu Rainer.
„Trainer, es geht um die Einzelstunde“, rief er so laut, dass es ja alle hören konnten, und bewegte sich mit Rainer aus der Halle, während Lars, Basti und Theo noch ein paar Dehnübungen machten, ehe sie ebenfalls die Tür ansteuerten.
Andrej blieb noch auf dem Trampolin sitzen. Erschöpft fuhr er sich durchs Haar. Dass er sich so viele Patzer geleistet hatte, nervte ihn tierisch. Verdammt noch mal, er konnte doch Saltos springen, das wusste er doch. Also richtete er sich noch einmal auf und stieß sich in die Höhe.
Es war zwar nicht erlaubt, das Trampolin zu nutzen, wenn niemand anderer anwesend war. Im Moment war es ihm jedoch egal. Er wollte sich beweisen, dass er das Saltoschlagen noch beherrschte. Vorher würde er keine Ruhe finden.
Als er eine gute Sprunghöhe erreicht hatte, versuchte er sich an einem Überschlag.
Na, bitte! Klappte doch!
Er kam auf dem Sprungtuch auf und schnellte wieder in die Luft. Ging es auch rückwärts?
O ja!
Plötzlich war es so, als hätte sich in ihm ein Knoten gelöst. Leichtigkeit erfüllte ihn. Befreit stieg er in luftige Höhen und drehte wilde Schrauben. Begeistert sprang er weiter. Schließlich schnellte er ein letztes Mal hoch und landete. Na gut, er wackelte zwar wieder, aber nur minimal. Wow, hatte das gutgetan! Zufrieden streckte er seinen Körper durch und kletterte vom Trampolin.
Plötzlich ertönte ein Händeklatschen.
Andrej erschrak und ein ungutes Gefühl schoss in ihm hoch. Bestimmt war es Rainer, der aus irgendeinem Grund zurückgekommen war. Gleich würde er also einen Anpfiff bekommen, weil er ohne Aufsicht gesprungen war. Wenn es um Sicherheitsfragen ging, kannte selbst der normalerweise so gutmütige Trainer kein Pardon.
Vorsichtig guckte er zum Halleneingang und sein Herz machte einen Satz.
Es war nicht Rainer, sondern Timo Kohnen.
Nun setzte er sich in Bewegung und steuerte auf die Sprossenwand zu, vor der er seine Sporttasche abstellte. Er bückte sich und holte seine Wasserflasche heraus. Es hatte den Effekt, dass sich der Knackarsch in der engen Turnerhose nur so präsentierte. Die Backen sahen aus wie frische Sommeräpfel, in die man am liebsten reinbeißen würde.
Andrejs Kehle wurde trocken. Er schluckte.
Timo richtete sich wieder auf und drehte sich zu ihm. „Große Klasse!“, rief er und näherte sich dem Trampolin.
Andrej war perplex. Nervös knetete er seine Finger. Grundsätzlich war es schon unglaublich, dass ein Star wie Timo Kohnen überhaupt Notiz von ihm nahm. Mehr noch! Er hatte ihm gerade beim Springen zugeschaut. Hatte er wirklich gerade „Große Klasse“ gesagt – oder hatte er es sich bloß eingebildet? Timo Kohnen hatte ihm ein Kompliment gemacht? Das war doch verrückt!
Seine Knie wurden butterweich. Mehr als ein heiseres „Danke“ brachte er nicht heraus.
Timo nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. „Darf ich dir einen Tipp geben?“, fragte er.
Andrej nickte aufgeregt.
„Du streckst dich beim Rückwärtssalto zu spät durch. Deshalb kommst du manchmal ins Wackeln. Bleib nur so lange in der Hocke, bis du das Trampolin wieder siehst. Wenn es soweit ist …“ Er klatschte. Es knallte so laut, dass Andrej erschrak. „… dann streckst du dich und machst den Abgang.“
Andrej gab ein paar komische Laute von sich. Es waren keine richtigen Wörter. Blitzartig riss er sich zusammen und sammelte sich. „Ehrlich gesagt mache ich beim Saltoschlagen meistens die Augen zu“, gestand er.
„Na, probier‘s mal mit offenen.“
„Ja, okay … kann ich versuchen.“ Das hatte ihm noch nie jemand gesagt. Beim Saltoschlagen – vor allem rückwärts – war es echt nicht leicht, genau den richtigen Moment zu treffen, um den Körper wieder durchzustrecken.
„Komm, probier es doch noch einmal“, ermutigte Timo ihn.
„Ja, ja … okay.“ Aufgeregt nickend begab er sich wieder in Position und fing an zu springen. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er Höhe gewann. Meine Güte, ob er es jetzt überhaupt zusammenbringen würde, einen Salto zu schlagen? In Anwesenheit von Timo Kohnen! Passierte das alles wirklich oder war er gerade mit dem Kopf voran abgestürzt und
befand sich nun im Delirium?
Wie auch immer. Fest stand, dass er scheißnervös war. Der Sprung würde eine Blamage werden, befürchtete er.
Hoch in der Luft setzte er zum Rückwärtssalto an. Er zog die Beine an und drehte sich um die eigene Achse. Er konzentrierte sich darauf, den richtigen Moment zu treffen, streckte sich dann aber doch etwas zu früh. Das kostete ihn Schwung. Schief kam er auf dem Sprungtuch auf, trudelnd ging es noch einmal hoch, wackelnd landete er. Tja, zumindest war er nicht auf die Nase gefallen.
Timo klatschte wieder. „Super“, behauptete er. „Ich bin mir aber sicher, du kannst das noch besser.“
„Ja?“ Andrej lächelte verlegen. Ohne Zeit zu verlieren, kletterte er nun vom Trampolin. „Ich will dich aber nicht länger aufhalten. Tut mir leid. Es ist ja jetzt deine Halle. Danke nochmal, vielen Dank.“ Er entfernte sich im Rückwärtsgang und deutete eine Verbeugung an.
„Ach was, kein Grund zur Hektik“, meinte Timo und untermalte es mit einer coolen Geste. „Ich habe die Halle für zwei Stunden. So lange trainiere ich aber normalerweise nicht. Eineinhalb Stunden reichen völlig, finde ich.“ Er lachte niedlich. „Es ist also reichlich Zeit. Kein Stress.“
Er bewegte sich auf Andrej zu. Das süße Gesicht aus nächster Nähe zu sehen, löste ein warmes Gefühl aus, das nun über seinen Rücken rieselte. Timo war so hübsch. Die feinen Gesichtszüge, die langen Wimpern, die Löckchen. Der geile Duft umwehte ihn. Überall kribbelte es. O Mann!
„Hey, ich finde, du hast echt Talent“, sagte Timo und seine Stimme klang weich und sexy.
Der nächste heißer Schauer rann über Andrejs Haut. „Ja?“, japste er.
„Ja! Und wenn du den Moment zum Durchstrecken noch exakter triffst, wird der Salto perfekt. Präzision ist wichtig, vor allem bei Doppel- und Dreifachsaltos. – Komm, mach mal die Arme hoch, streck dich mal durch!“
Andrej wusste nicht, wie ihm geschah. Er tat es einfach und Timos Hände legten sich nun seitlich an seinen Oberkörper. Sie glitten vom Brustkorb über die Flanken bis zu den Hüften. Hitzestöße durchfuhren ihn.
„Ja, das ist wunderbar“, raunte er.
Andrejs Körper war angespannt und hart. Dies traf jetzt wirklich auf jedes
Körperteil zu. Ein Glück, dass er das Suspensorium trug. Es leistete einigen Widerstand und verhinderte
eine peinliche Situation.
Timos Hände lösten sich, dafür trafen sich ihre Blicke und Andrejs Atem ging nur noch stoßweise. Er biss sich auf die Lippe. Es war ein intensiver Moment. Kaum auszuhalten.
„Dein Trainer?“, schoss es plötzlich aus ihm heraus und er blickte sich hektisch um. „Wo ist denn dein Trainer?“
Timo winkte ab. „Ich trainiere allein“, erklärte er. „Du weißt ja wahrscheinlich, dass ich eigentlich aus Bayern komme, hm?“
„Ja, ja, natürlich.“
„Mein Verein befindet sich in Ingolstadt“, fuhr er fort. „Ich werde aber nun eine Zeitlang hier in Röttingen leben. Weißt du, ich starte in diesem Semester mein Masterstudium. Hier an der Uni, an der psychologischen Fakultät.“
Verwirrt sah Andrej ihn an. Semester, Masterstudium, Fakultät. Das waren Worte aus einer fremden Welt. „Ach so, ja, echt?“, stammelte er.
„Letztens waren zwei meiner Trainer aus Ingolstadt hier, ab jetzt trainiere ich aber allein. Es sollte aber noch jemand aus deinem Verein in die Halle kommen. Aus Sicherheitsgründen. Damit jemand hier ist. Du weißt ja, man soll nicht allein auf dem Trampolin …“ Suchend blickte er sich um. „Dieser Herr Höppke sollte kommen.“
„Du meinst Rainer“, erwiderte Andrej. „Rainer ist mein Trainer. Gerade war er noch hier. Weit kann er nicht sein.“
„Na, es besteht ja keine Eile.“ Timo lächelte und dabei bildeten sich – o Gott, wie süß – klitzekleine Grübchen in seinen Wangen. „Ach ja“, fiel es ihm nun ein, „Herr Höppke hat letztens erwähnt, dass er etwas später kommen wird, weil er davor zwei Stunden lang ein Training leitet und danach eine Pause braucht. Ist ja auch verständlich!“
Ein paar Momente verstrichen. Plötzlich ging ein Ruck durch Andrejs Körper. Himmel, warum stand er denn noch immer hier und glotzte Timo an? Wie lange wollte er ihn denn noch belästigen?
„Vielen Dank nochmal“, murmelte er schüchtern und wandte sich zum Gehen.
„Aber hey“, rief Timo ihn noch einmal zurück. „Wenn ich hier stets ein paar Minuten Wartezeit habe, kann ich dir gern jedes Mal ein paar Kniffe zeigen. Natürlich nur, wenn du möchtest. Ihr trainiert doch immer vor mir, richtig?“
Andrejs Mund klappte auf. Im Zeitlupentempo schloss er ihn wieder. „Echt?“, stieß er aus. „Das würdest du tun?“
„Ja, klar.“
„Aber das wär ja … Bombe.“
„Ach was! Das würde ich total gerne tun, echt.“ Ein entzückendes Lächeln umspielte seinen hübsch geschwungenen Mund. „Weil, hey – wie gesagt – ich finde, du hast Mega-Talent.“
Er legte seine Hand auf Andrejs Schulter. Ein Flirren zog sich von dieser Stelle ausgehend nun durch seinen Körper und erreichte jeden auch noch so versteckten Winkel. Sein Herz fing zu trommeln an.
„Absolut Bombe. Danke.“
Da näherten sich Schritte und Andrej wandte sich um. Rainer kam auf sie zu.
„Danke nochmal“, sagte er hastig zu Timo. „Wir sehen uns also am Mittwoch, also übermorgen?“
Timo nickte und lächelte smart.
„Bis dann“, stieß er aus und lief an Rainer vorbei aus der Halle und weiter in die Umkleide. Unglaublich, was gerade passiert war!