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Den Sonntag hätte Andrej gerne damit verbracht, seinen Triumph zu genießen. Stattdessen stand er aber in der Bude und verkaufte Fritten. Karim hatte sich krankgemeldet, also hatte er am Vormittag einen Anruf vom Chef erhalten, der ihn mit Nachdruck aufgefordert hatte, die Nachmittagsschicht zu übernehmen. Ein solches Ansinnen abzulehnen, war nie eine gute Idee, also hatte er zugesagt und sich auf den Weg gemacht.
Als er im Bus saß, erreichte ihn eine weitere WhatsApp-Message von Timo.
Timo:
Hey Superman! Wie feierst du heute? Möchtest du zu mir kommen? Soll ich dich abholen? Ich hätte Lust auf einen chilligen Sonntag.
Auch diese Message war mit einer Kette aus Emojis verziert. Ein rotes Herz war dabei, aber auch Symbole, deren unterschwellige Bedeutung jeder kannte: eine Aubergine, Wassertropfen, ein Pfirsich. Es war nicht schwer zu erraten: Timo war gerade geil.
Andrej ging es ja nicht anders. Gegen eine Runde Nachmittagssex mit Timo hätte er absolut nichts einzuwenden gehabt. Doch daraus wurde nichts. Er musste ja arbeiten. Leider. Also schrieb er zurück:
Andrej:
Tut mir echt leid, aber ich habe heute keine Zeit. Wie wär’s denn morgen? Soll ich nach dem Training wieder auf dich warten?
Timo:
Hm, schade.
Er wartete noch ab, ob eine weitere Message eintraf, in der Timo auf seine Frage einging. Das passierte aber nicht. Sein Magen krampfte. Er wollte sich nicht wieder stundenlang einen Kopf machen müssen, also riss er sich am Riemen und beschloss, einfach nachzufragen.
Andrej:
Soll ich morgen nach dem Training auf dich warten?
Timo:
Ja, natürlich.
Na bitte, es gab also keinen Grund, sich verrückt zu machen. Er lächelte das Display an und scrollte sich durch den WhatsApp-Verlauf. Die Dichte an Emojis in Timos Messages – vor allem an Herzchen und Kussmündern – hatte mit der Zeit deutlich zugenommen. Das alles sollte also nur gespielt sein? Nein, dies konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Wenn es Timo tatsächlich bloß um Sex ging, würde er doch anders texten. Wer nur
ficken wollte, schickte doch nicht andauernd Herzchen. Der Typ aus Ulm hatte bloß Quatsch erzählt, ganz bestimmt.
Schließlich schritt der Sonntag voran. Es war drei am Nachmittag und Andrej hatte Luft, weil gerade keine Kunden da waren, die bedient werden wollten. Das Gute an Sonntagsschichten war, dass man sich nicht kaputtarbeiten musste. Der Bahnhof war an diesem Tag weniger frequentiert, sogar die Betrunkenen blieben oft fern. Offenbar hielten also sogar sie eine Art Sonntagsruhe ein.
Er stützte sich nun auf dem Tresen ab, ließ seinen Blick über den leeren Bahnhofsvorplatz schweifen und hing seinen Gedanken nach.
Leise plapperte er vor sich hin.
Ähm, nun ja, Timo, nachdem wir jetzt schon ein paar Mal … du weißt schon … wollte ich dich fragen, wie du, ähm, ob du ….
Nee, so nicht! Er schüttelte den Kopf.
Wenn er Timo wirklich fragen wollte, ob dieser in ihm nur eine Affäre sah, die bald wieder zu Ende sein würde, oder vielleicht doch mehr, war es nur klug, sich ein paar Sätze zurechtzulegen. Ansonsten würde er hilflos ins Stottern kommen und es würde peinlich enden.
Also versuchte er es anders.
Timo, ich habe mich in dich verknallt. Was sagst du dazu?
Das entsprach der Wahrheit, aber konnte er das so direkt sagen? Nachdenklich biss er sich auf die Lippe.
Jetzt kam doch ein Kunde, ein älterer Mann mit kugelrundem Bauch. Er versorgte ihn mit Bier und Fritten, dann richtete er seinen Blick wieder auf den Platz hinaus.
Von seiner Position aus befand sich das Bahnhofsgebäude rechterhand. Wenn er nach links guckte, sah er die Straße und die zahlreichen Buswartehäuschen. An Wochentagen herrschte da reger Betrieb, heute jedoch nur sonntägliche Leere.
Deshalb fiel ihm das Auto auf, das gerade in einer der Busbuchten anhielt. Es war ein schwarzer Renault, exakt dasselbe Modell, das auch Timo besaß. Neugierig beugte er sich aus der Bude, um einen besseren Blickwinkel zu erlangen. Jetzt konnte er auch das Kennzeichen sehen. IN. Ingolstadt.
Meine Güte, das war Timo!
Ihn selbst konnte er nicht erblicken, da sich das Fahrerfenster genau hinter den Stangen des Wartehäuschens befand. Es musste aber Timo sein. In Röttingen fuhren doch
nicht lauter schwarze Renaults mit Ingolstädter Kennzeichen herum.
Aber was machte er hier? Kam er, um ihn zu besuchen?
Da fiel es ihm wieder ein. Richtig, am Traunsee hatte Timo gemeint, dass er Fritten mochte, und er hatte angekündigt, ihn einmal in der Arbeit zu besuchen.
Allerdings konnte Timo doch gar nicht wissen, dass er heute arbeitete. Er hatte ihm ja bloß geschrieben, dass er keine Zeit hatte, aber nichts Näheres. Sicherheitshalber checkte er noch einmal den WhatsApp-Verlauf und bekam die Bestätigung. Ja, genauso hatte er es geschrieben.
Merkwürdig war auch, dass Timo sitzenblieb. Der Wagen parkte nun schon seit ein paar Minuten hier. Bislang war aber niemand ausgestiegen. Dafür kam jetzt ein Bus und fuhr in die Nebenhaltestelle ein. Drei Leute stiegen aus. Zwei steuerten geradewegs auf das Bahnhofsgebäude zu, der dritte blickte sich suchend um.
Jetzt ging die Autotür auf. Ja, es war wirklich Timo.
Er stieg aus und ging auf den Typen zu. Sie erkannten sich und machten entsprechende Gesten.
Ein leichtes Gefühl der Enttäuschung erfasste Andrej. Timo war also nicht gekommen, um ihn zu besuchen. Er war hier verabredet. Mit jemandem anderen. Na ja, hm …
Sie begrüßten sich zuerst mit einem Handschlag, dann zog Timo den anderen an sich heran und es wurde eine seiner Halbumarmungen draus.
Da fuhr ein Stich durch Andrejs Körper. Jetzt erkannte er nämlich auch den anderen Typen. Es war ein Blonder mit kurzgeschorenem Haar, länglichem Gesicht und strammem Körperbau.
Es war ein Typ von Grindr! Auch Andrej hatte sich einmal mit ihm getroffen. Es war aber schon mindestens ein Jahr her. In seinem Profil hatte sich der Typ damals als versatile
bezeichnet, dann aber doch vergnügt die ausschließlich passive Rolle übernommen. Daran konnte er sich interessanterweise erinnern, an seinen Namen jedoch nicht. Es war kein schlechtes Date gewesen, doch danach hatten sie sich nie wieder getroffen, wie es bei allen Typen auf Grindr eben der Fall war.
Timo war also mit jemandem von Grindr verabredet.
Die beiden unterhielten sich nun und Timo ließ einen eindeutigen Blick über den sportlichen Körper seines Gegenübers gleiten. Jetzt schritt der Blonde auf ihn zu und fasste ihm kurz an den Arsch. Timo grinste ihn an. Schließlich stiegen sie in seinen Wagen und fuhren los.
Andrej fühlte sich so, als hätte ihm jemand gerade ein Loch in den Bauch geschlagen. Es war nicht viel Fantasie nötig, um sich auszumalen, welchen Zweck dieses Treffen hatte. Jetzt fuhren sie also zu ihm nach Wimmerskirchen. Jetzt bekam Timo seinen chilligen Nachmittag …
Schmerzhaft pochte es in Andrejs Brust.
Timo und er waren kein Paar. Wenn Timo Bock auf Sex hatte, war es sein gutes Recht, Grindr anzuwerfen und sich mit jemandem zu verabreden. Das musste er ihm zugestehen. Trotzdem tat es höllisch weh.
Er wusste nicht, ob er vor Wut platzen oder lieber losheulen sollte. Unruhig marschierte er in der Bude auf und ab und kam sich vor wie ein Vogel im Käfig, denn er konnte nichts dagegen tun, dass Timo und der Blonde gerade … Zischend stieß er Luft aus. Lieber wollte er es sich nicht vorstellen.
Die Geschichte von Theo fiel ihm wieder ein. Sie könnte also doch stimmen. Ja, es passte ins Bild. Er musste es einsehen, so schmerzhaft es auch war.