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Mit einem dicken Kloß im Bauch Trampolin zu springen, war keine gute Idee. Trotzdem stand das Montagstraining an. Was blieb Andrej also schon anderes übrig? Natürlich passierte ihm ein Fehler nach dem anderen. Kein Sprung sah so aus, wie man es von einem Teilnehmer des Süddeutschen Turnerpokals erwartete. Über jedes Wackeln ärgerte er sich maßlos. Der Kloß vergrößerte sich und schnürte ihm die Kehle zu.
„Alles gut bei dir?“, fragte Rainer besorgt, als das Training zu Ende war.
„Ja, Trainer“, versicherte er. „Am Mittwoch klappt‘s wieder besser, ganz bestimmt.“
„Spring so wie am Samstag in Hollenburg, dann ist alles gut“, meinte Rainer.
„Ja, Trainer. Ich hatte heute nur einen schlechten Tag.“
Es war die Untertreibung des Jahres gewesen. Andrej hatte nicht bloß einen schlechten Tag. Er war rasend eifersüchtig und wütend, sodass er an nichts anderes denken konnte.
Nur weil er gestern keine Zeit für Timo gehabt hatte, hatte dieser also nichts Besseres zu tun gehabt, als mit dem nächstbesten Grindr-Kerl zu vögeln. Das Schlimmste war, dass er deshalb nicht einmal sauer sein durfte. Sie waren ja kein Paar, nicht einmal exklusiv , wie manche es nannten, wenn sie für eine Beziehung noch nicht bereit waren.
Er hatte kein Recht, angepisst zu sein. Genau wegen dieses Umstands war er es aber erst recht. Seine Zunge fühlte sich pelzig an. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und ließ sich einfach nicht runterschlucken.
Während Rainer und die anderen aus der Halle strömten, kam Timo herein. Er zog sein typisches Lächeln auf und beschleunigte seinen Schritt.
„Na, wie geht’s meinem Superhelden heute?“, rief er Andrej fröhlich entgegen, als er die letzten Meter zu ihm überwand. „Den Triumph gestern schön gefeiert, hm?“ Sein Lächeln wurde breiter. Andrej fand es diesmal aber nicht süß, sondern total affig.
„Jaja, alles gut“, antwortete er knapp. Als würde er vor Timo flüchten, stieg er hastig wieder auf das Trampolin. Er hatte keinen Bock auf eine Umarmung oder irgendeine andere körperliche Form der Begrüßung. Als er auf dem Sprungtuch stand, verschränkte er die Arme und sah ihn herausfordernd an. „Na, was machen wir heute?“
Timo zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Ist alles okay?“
„Ja. Fangen wir nun bitte mit dem Training an?“
„Mit dir stimmt etwas nicht. Das sehe ich doch.“
Eigentlich hatte Andrej sich vorgenommen, das Training normal durchzuziehen. Erst nachher, wenn sie bei ihm zu Hause waren, wollte er Timo darauf ansprechen, sofern er den Mut dafür fand.
Es brodelte aber in ihm. So sehr, dass sogar seine Knie zitterten. Eigentlich war es eine saudumme Idee, in diesem Zustand Trampolinsprünge zu wagen. Er könnte sich ernsthaft wehtun.
Zischend stieß er Luft aus und stieg wieder vom Trampolin. Er trat nahe an Timo heran. Es brannte in seiner Seele. Er konnte sich jetzt nicht mehr zurückhalten. Es musste raus.
„Ich weiß, dass ich kein Recht habe, dir irgendetwas vorzuschreiben“, fing er an. „Wir führen ja keine Beziehung oder Affäre oder wie auch immer du es nennen willst. Aber tu mir bitte einen Gefallen: Wenn du dir schon unbedingt ein Sex-Date auf Grindr checken musst, verabrede dich bitte nicht direkt vor meiner Frittenbude, okay?“
„Äh, was?“ Timo riss empört den Mund auf. Im nächsten Moment schien er zu kapieren, also klappte er diesen wieder zu und schwieg.
„Ich habe gestern gearbeitet“, erklärte Andrej verärgert. „Die Frittenbude befindet sich ja direkt auf dem Bahnhofsvorplatz. Da hab ich dich gesehen. Mit dem Blonden von Grindr. Diesem Typen, der in seinem Profil behauptet, versatile zu sein, obwohl er in Wirklichkeit ein passives Stück ist. – Oder hat er bei dir etwa den geilen Ficker gemimt?“
„Andrej, bitte“, zischte Timo.
„Na, war er gut, hä?“ Andrej wurde immer lauter. „War er besser als ich?“
„Andrej!“ Besorgt blickte sich Timo um und vergewisserte sich, ob sie wohl allein waren. „Bitte beruhig dich“, sagte er eindringlich.
„Was, wenn ich mich nicht beruhigen will?“ Es rumpelte in seinem Inneren. So, als würden in seinem Magen gerade ein paar Explosionen stattfinden. Er geriet richtig in Rage. Lange hatte er immer alles nur in sich reingefressen. Damit war jetzt Schluss. Die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund. „Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man von einem Typen Messages voller Scheiß-Herzchen bekommt und man nur zwei Stunden später dabei zusehen muss, wie sich exakt dieser Typ mit einem anderen zum Ficken trifft? Ich sag’s dir: Verdammt scheiße fühlt es sich an. Verdammt scheiße! Verstehst du das?“ Wütend schnaubte er auf.
Timo wusste offenbar nicht, was er antworten sollte. Unruhig blickte er umher. Schließlich hob er abwehrend die Hände. „Sorry, das wollte ich nicht.“
„Danke jedenfalls, dass du dir immer Zeit für mein Training genommen hast. Ab sofort werde ich darauf verzichten. Ich hab keinen Bock mehr. Alles Gute. Tschüss.“ Schwungvoll wandte er sich ab und entfernte sich mit großen Schritten.
„Aber hey, ich habe doch nichts Falsches getan“, rief Timo ihm nach.
Andrej fuhr herum. „Du kapierst es nicht, gell?“
Timo holte japsend Luft. „Na, wie du richtigerweise gesagt hast: Wir führen keine Beziehung, Mann! Dass ich eine Verabredung hatte, ist also kein Verbrechen. Zugegeben, es war idiotisch, ihn am Bahnhof zu treffen, wenn du doch dort arbeitest. Aber, hey, ich habe eben nicht gewusst, dass du Dienst hast. – Sorry, Mann.“
Hätte das etwa der Versuch einer Entschuldigung sein sollen? Timos Worte fühlten sich an wie feine Nadeln, die sich tief in Andrejs Eingeweide bohrten. Der Schmerz, der dadurch entstand, machte ihn nur noch wütender. „Sag lieber kein Wort mehr! Du kapierst es nicht!“
„Aber woher hätte ich denn wissen sollen …“
„Was?“
Timo schluckte. Er sammelte sich und fuhr leiser fort: „Na, du hast nie ein Sterbenswörtchen gesagt, dass du dir wünschen würdest, dass das hier …“ Er machte eine Geste, die sie beide umfasste. „… exklusiv sein soll.“
„Ja, ganz richtig!“, konterte er scharf. Zornig schnappte er nach Luft. Es war ein Zorn, der sich gegen ihn selbst richtete, denn Timo hatte leider vollkommen recht. Ja, er hatte nichts gesagt, weil er nie etwas sagte – grundsätzlich nicht! Weil er ein Idiot war, der sein verdammtes Maul nicht aufkriegte, wenn es darauf ankam. Nur deshalb passierten solche Sachen, die sich am Ende so anfühlten, als würde jemand sein Herz zerfleischen.
Traurig seufzte er. „Na, ich denke, es hätte ohnehin nichts gebracht.“
„Aha. Und warum meinst du das, wenn ich fragen darf?“
„Ich denke nicht, dass du mit einem wie mir … ach, weißt du was, vergiss es einfach!“ Er hatte keinen Bock mehr auf dieses Gespräch, also wandte er sich ab und marschierte aus der Halle.
Timo rief ihm noch etwas nach. Er hörte es aber nicht, weil das Blut in seinen Adern so laut rauschte.
Zackigen Schrittes bewegte er sich durch die Tür. Im Flur fand er neben einem ausrangierten Pauschenpferd einen Platz, wo er sich an die Mauer lehnen konnte, um sich zu sammeln. Er biss die Lippen aufeinander. Das Sammeln funktionierte nicht. Heiße Tränen rannen ihm über die Wangen. Er wischte sie mit dem Handrücken ab.
Scheiße, verdammt!
Er wollte nicht heulen und jetzt kam auch noch Rainer, der zurück in die Halle marschierte. Andrej spannte sein Gesicht an. Mit versteinerter Miene nickte er Rainer zu, der zum Glück nicht bemerkte, in welchem Zustand er sich befand, und einfach weiterging.
Andrej verharrte noch im Flur. Er musste sich beruhigen, ehe er zu den anderen in die Umkleide gehen konnte. In der Halle fing Timo unterdessen mit dem Training an. In gleichmäßigen Abständen drang das typische Geräusch der Trampolinfedern in den Flur und Andrej schniefte.
Plötzlich krachte es. Ein grässliches Geräusch. Es folgte ein gellender Schrei.
„Um Himmels willen!“, rief Rainer.
Andrej schreckte auf und blickte durch die offene Hallentür.
Timo saß auf dem Sprungtuch und hielt sich den Fuß. Sein Gesicht war schmerzerfüllt. Rainer lief auf ihn zu. Im selben Augenblick ging die Tür zum Trainerzimmer auf, das sich neben der Umkleide befand. Die Frau, die die Mädchengruppe trainierte, und zwei weitere Trainer steckten ihre Köpfe heraus und warfen einen Blick in die Halle. Als sie Timo und Rainer sahen, liefen sie zu ihnen.
Timo hielt sich immer noch den Fuß. Rainer redete mit ihm und nun auch die anderen Trainer. Jemand trat einen Schritt zur Seite und telefonierte.
Diese Szenen zogen an Andrej vorüber wie ein Film. Er fühlte sich wie gelähmt und war unfähig, auch nur irgendetwas zu tun. Auch als später zwei Sanitäter mit einer Trage erschienen, auf Timo zusteuerten und ihn abtransportierten, stand er nur stumm da und verfolgte das Geschehen mit leeren Blicken.