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Innerlich hielt der Lähmungszustand auch am nächsten Tag an. Andrej fühlte sich wie von einem Lastwagen überfahren, als er aufstand. Er nahm schließlich den Bus zum Bahnhof und absolvierte seinen Arbeitstag. Er kam sich vor wie eine Frittenverkaufsmaschine, so gefühlsleer, wie er war.
Schließlich wurde es Feierabend und er fuhr wieder nach Hause. Als er im Bus saß, fingen seine Gedanken wieder an zu rasen. Sie verhedderten sich und bildeten ein Knäul aus Wut, Sorge und Selbstvorwürfen.
Wut, weil Timo sich nicht einmal ertappt gefühlt hatte, als er ihn auf das Sex-Date angesprochen hatte. Am Traunsee hatte sich alles zumindest ein klein wenig so angefühlt, als wären sie ein Paar, auch wenn sie es nicht offen ausgesprochen hatten. Timo hielt es jedoch für etwas völlig Normales, sich nur ein paar Tage später vom nächsten Random-Kerl durchvögeln zu lassen. Wer sollte das denn bitte verstehen? Er selbst war, seitdem die Sache mit Timo ins Laufen gekommen war, nicht auf die Idee gekommen, diese Scheiß-App auch nur anzuwerfen.
Dazu mischte sich die Sorge. Timos Sturz! Dieses grässliche Geräusch! Timo war danach normal ansprechbar gewesen – zum Glück. Aber sie hatten für ihn den Rettungsdienst rufen müssen. Wie ging es seinem Fuß jetzt? Befand sich Timo gar noch im Krankenhaus? Hatte er sich schwer verletzt? Nichts war für einen Trampolinspringer wichtiger als seine Füße. Ihm wurde übel, wenn er daran dachte.
Am schlimmsten waren die Selbstvorwürfe. Der Sturz war ja unmittelbar nach ihrer Auseinandersetzung passiert. Ihn traf also eine Mitschuld, keine Frage. Wieso, verdammt, hatte er mit dem Gespräch nicht warten können, bis sie bei Timo zu Hause waren, wie er es sich ja vorgenommen hatte? Oder wäre es nicht überhaupt besser gewesen, wenn er – wie immer – gar nichts gesagt und seinen Ärger einfach runtergeschluckt hätte. Dann wäre alles nicht passiert!
Er schämte sich dafür, dass er die ganze Zeit über nur nutzlos im Flur herumgestanden war und alle bloß angeglotzt hatte, anstatt zu helfen. Er hatte sich nicht einmal erkundigt, ob es Timo gutging – war das nicht schäbig? Schlimmer noch. Seit dem Unfall waren inzwischen fast vierundzwanzig Stunden vergangen und bis jetzt hatte er es nicht geschafft, ihn anzurufen – oder zumindest eine Message zu schreiben.
Nun erreichte der Bus die Haltestelle. Andrej fühlte sich wie ferngesteuert, als er ihn verließ und sich durch den Heckendurchgang bewegte. Ob die dunklen Gestalten im nächsten Moment wieder über ihn herfallen und ihm möglicherweise sein ganzes Geld abnehmen würden, war ihm egal. Er hatte aber Glück, es passierte nicht. Immerhin war es ja noch hell. Er erreichte den Wohnturm und fuhr mit dem Aufzug hoch.
Ablenkung! Er brauchte Ablenkung! Nach der Dusche holte er also eine Pulle Bier aus dem Kühlschrank und ging nach oben. Er setzte sich zu seiner Mutter an den Küchentisch.
In der Wohnung war es erstaunlich ruhig. Leonie und Lilly befanden sich noch in der Nachmittagsbetreuung und auch Cynthia war nicht da, sondern bloß Mandy, die sich aber handyscrollend in eine Ecke verzogen hatte und keinen Mucks von sich gab. Es gab offenbar spannende Fotos auf Instagram zu sehen.
Sabine wirkte ungewöhnlich entspannt und ihre Augen strahlten sogar. „Stell dir vor, sie werden Cynthia im Nagelstudio wahrscheinlich übernehmen“, verkündete sie begeistert.
„Wie? Die Probezeit ist aber doch noch nicht vorüber, oder?“
„Nein, das nicht“, räumte sie ein. „Aber sie kommt sehr gut mit ihrer Chefin klar. Die ist angeblich echt begeistert und will Cynthia unbedingt behalten. Sie sind ein Herz und eine Seele. Es ist unglaublich, Cynthia geht gerne in die Arbeit, ganz ohne Rummotzen. So habe ich sie noch nie erlebt!“
„Aha. Toll.“
Sabine guckte ihn ernst an. „Aber Andrej, was ist denn los? Freust du dich gar nicht? – Das sind doch großartige Neuigkeiten!“
„Jaja, doch, doch.“
So leid es ihm auch tat, im Moment konnte er sich beim besten Willen nicht mit Cynthia und ihrer leidigen Suche nach einem Ausbildungsplatz befassen. Sein Kopf war vollgepumpt mit den Ereignissen des Vortages. Ach, wieso war er überhaupt heraufgekommen? Er konnte sich ohnehin auf nichts anderes konzentrieren. Es brachte nicht die erhoffte Ablenkung, sondern bewirkte das Gegenteil. Er wurde nur noch unruhiger.
„Sorry, Mum“, sagte er also, „ich gehe lieber wieder hinunter.“
„Schon?“ Irritiert schüttelte sie den Kopf. „Du hast dein Bier ja noch gar nicht ausgetrunken.“
„Egal. Ich nehme es einfach wieder mit.“
„Aha. – Sag, ist wirklich alles in Ordnung?“
„Jaja.“
Er erhob sich vom Küchenstuhl, schnappte sich die Flasche und trottete aus der Wohnung. Unten angekommen ließ er sich auf seinem Bett nieder, trank sie in einem langen Zug leer und sank in sich zusammen. Hundeelend! Einen anderen Ausdruck gab es für seinen aktuellen Zustand nicht. Bei Timo hatte er sich noch immer nicht gemeldet – wie erbärmlich!
Er musste es jetzt tun. Andernfalls würden ihn die Sorgen noch zerfressen. Also fing er an, eine WhatsApp-Nachricht zu schreiben.
Hallo Timo …
Oder sollte er doch lieber anrufen?
Er überlegte und entschied sich schließlich für das Mittelding: eine Sprachnachricht. Nur, was wollte er ihm eigentlich sagen? Wollte er sich entschuldigen, dass das Gespräch so eskaliert war? Es tat ihm ja wirklich leid. Gleichzeitig war er aber auch immer noch sauer. Meine Güte! Bevor sein Kopf vor lauter Gedanken explodierte, drückte er den Aufnahmebutton und fing einfach zu sprechen an.
„Äh, hey Timo … ich wollte nur mal nachfragen, wie es dir so geht … du weißt schon … wegen gestern … dein Fuß … ähm, alles wieder in Ordnung?“
Aufnahme beendet – und zack, abgeschickt.
Im nächsten Augenblick schämte er sich für das Stammeln, das er gerade fabriziert hatte. Überraschenderweise traf nicht einmal eine Minute später schon eine Antwort ein, allerdings keine Sprachnachricht. Timo hatte sich für die schriftliche Variante entschieden.
Timo: Leider nicht so gut. Kapselriss im Sprunggelenk.
Er schluckte. Mit dem Wort wusste er nichts anzufangen, aber es hörte sich übel an. Er googelte es und auf dem Handydisplay erschienen Artikel von Dr. Gumpert und anderen Medizinseiten im Netz. So viel Info auf einmal überforderte ihn. Er war nicht in der Lage, das alles durchzulesen, also schrieb er Timo zurück und seine Finger zitterten dabei.
Andrej: Was bedeutet das? Du wirst doch wieder springen können, oder?
Timo: Ja, das schon, aber nicht so bald. Könnte vier Wochen dauern oder noch länger, bis ich wieder mit dem Training anfangen kann.
Andrej: Der Turnerpokal ist Anfang Dezember …
Timo: Da werde ich definitiv nicht dabeisein können.
Ach, du Scheiße! Kalt lief es ihm über den Rücken. Timo war nur deshalb gestürzt, weil sie gestritten hatten und er sich deshalb aufgeregt hatte. Nur deshalb konnte er jetzt nicht am Turnerpokal teilnehmen.
Ihm wurde kotzübel. Er pfefferte das Handy ins Kissen, schlug sich die Hände vors Gesicht und stöhnte. Stiche fuhren durch seine Eingeweide. Tränen drückten gegen seine Augen. Verbissen kämpfte er um seine Beherrschung. Wieso war dieser Scheiß nur passiert? Die Gaumeisterschaften waren gerade erst drei Tage her. Damals war das Leben noch so schön gewesen.
Erneut nahm er das Handy an sich und schrieb eine weitere Nachricht.
Andrej: Es tut mir leid, dass wir gestritten haben. Ich wollte nicht, dass du dich aufregst. Ist der Sturz deshalb passiert?
Timo: Schon gut.
Es waren nur zwei Worte, aus denen Timos letzte Message bestand. Von ihnen ging eine Kälte aus, die ihn erschaudern ließ. Er traute sich nicht, noch etwas zu schreiben.
Schließlich wurde es Mittwoch und eigentlich wäre an diesem Abend ja wieder ein Training angesetzt gewesen. Er schaffte es aber nicht, sich auf den Weg in die Halle zu machen. Zu schwer war die Last, die auf seiner Seele lag und ihn beinahe zerquetschte.
Die einzige Lösung, die ihm einfiel, war eine Notlüge. Er schrieb Rainer eine Message und behauptete, die Grippe hätte ihn erwischt. Inzwischen war es ja November geworden und viele Leute waren gerade krank. Es war also eine gute Ausrede. Rainer wünschte ihm gute Besserung.
Auch am Samstag schaffte er es nicht, sich zum Training aufzuraffen. Selbiges galt für die komplette darauffolgende Woche. Dies war ihm noch nie passiert. Die Abende in der Turnhalle waren stets die Farbkleckse in seiner sonst oft so eintönigen Woche gewesen. Nun konnte er sich aber nicht mehr darauf freuen. Das Trampolingefühl, das er normalerweise so liebte, gab es plötzlich nicht mehr.
Er wusste zwar, dass der Turnerpokal näherrückte und mit jedem Training, das er ausließ, wertvolle Zeit verstrich. Lieber hätte er jede Trainingsminute, die er nur kriegen konnte, nutzen sollen. Es ging aber schlichtweg nicht. Er fühlte sich wie betäubt. In diesem Zustand konnte und wollte er nicht auf das Trampolin steigen.
Rainer fing anscheinend an, sich Sorgen um ihn zu machen. Er fragte immer detaillierter nach. Tja, es war eben ein hartnäckiger Infekt, an dem er laborierte. So lautete zumindest die Ausrede.
Auch Lars rief immer wieder an. Andrej hob aber nicht ab. Er wollte mit niemandem sprechen. Er befand sich in einem dunklen Loch und fand den Weg ans Licht nicht mehr.
Nur mit einer Person hätte er sehr gerne gesprochen. Über alles. Zwischen ihnen war ja so viel ungeklärt geblieben. – Doch derjenige meldete sich nicht mehr.
An einem Donnerstag Ende November herrschte Schmuddelwetter und Andrej arbeitete. Bis zum Turnerpokal waren es bloß noch zehn Tage. Er hatte das Turnier längst abgeschrieben. Seit Wochen war er nicht mehr auf dem Trampolin gestanden. Dazu kam, dass Timo ja ebenfalls nicht antreten konnte – wegen ihm und ihres dummen Streits. Allein deshalb kam es nicht infrage, nach München zu fahren. Sein Gewissen erlaubte es ihm nicht.
Wenn es kalt war, hasste er den Job in der Frittenbude noch mehr als an anderen Tagen. Befand er sich an der Fritteuse, schlug ihm der heiße Dampf ins Gesicht, sodass er ins Schwitzen kam. Trat er aber nur einen Schritt zur Seite, pfiff ihm kalter Wind um die Ohren. Es war ekelhaft.
Jetzt setzten auch noch Graupelschauer ein, Es war diesig und die Autos, die vorne an der Straße vorbeifuhren, erzeugten zischelnde Geräusche auf dem Asphalt. Dick vermummte Leute stiegen aus den Bussen und eilten ins Bahnhofsgebäude. Natürlich lief das Geschäft schlecht. Wer hatte bei einem solchen Wetter schon Lust, im Freien eine Portion Fritten zu verspeisen?
Plötzlich erschien aber doch ein Kunde. Andrej warf ihm einen fragenden Blick zu. „Bitte, was darf’s sein?“
„Hey, du bist ja gar nicht krank!“, schallte es ihm entgegen.
Er stutzte. „Wie bitte? Oh, ähm … heey!“
In der dicken Jacke und mit der Pudelmütze hatte er Lars auf den ersten Blick gar nicht erkannt.
„Andrej, was ist los mit dir?“, fragte dieser nun. „Warum kommst du seit Wochen nicht mehr zum Training? Warum hebst du nicht ab, wenn ich dich anrufe?“
„Ähm, na ja.“ Auf die Schnelle fiel Andrej keine Ausrede ein. Seine Arme fuhren durch die Luft. „Ich will derzeit einfach nicht, okay?“
„Wie bitte? Äh … warum?“
Er zuckte nur mit den Schultern.
Lars musterte ihn und sein Blick sagte, dass er genau wusste, was mit Andrej los war. „Es ist wegen Timo, richtig?“, sprach er es schließlich aus.
Ihre Freundschaft war zwar einerseits so locker, dass auch sie nun wochenlang keinen Kontakt miteinander gehabt hatten, trotzdem schaffte Lars es immer wieder, ihm an der Nasenspitze anzusehen, was ihn bedrückte.
„Mag sein“, gab er jetzt zu.
Lars schnappte empört nach Luft. „Also im Ernst, Andrej? Du hast dich für den Süddeutschen Turnerpokal qualifiziert und jetzt schwänzt du seit Wochen das Training. Sag mal, spinnst du?“
„Aber versteh doch: Ich kann nicht!“
„Nee, verstehe ich nicht.“ Irritiert schüttelte Lars den Kopf. Im nächsten Moment rieb er sich die Hände. „Sag, hast du etwas Heißes? Einen Tee oder so?“
Hart stieß Andrej Luft aus. „Ich bin kein Teesalon! Bei mir gibt‘s nur Bier, Wasser und Softdrinks.“
„Na gut, dann gib mir ein Bier – und dann erzählst du mir, was los ist, okay?“
Andrej seufzte. Er holte eine Dose und stellte sie vor Lars auf den Tresen. „Fritten dazu?“
„Nee.“ Zischend öffnete Lars die Dose. „So, jetzt bist du dran. Ich bin ganz Ohr.“
„Na, du hast ja bestimmt von Timos Sturz mitbekommen“, fing Andrej an und Lars nickte. „Weißt du, an dem Abend hatten wir – wie soll ich sagen – eine kleine Auseinandersetzung.“
Lars nickte. Obwohl dieser eine Hete war, hatten sie schon oft genug über schwule Sachen geredet, sodass er beispielsweise sehr genau wusste, was Grindr ist. Ohne lange Erklärungen konnte Andrej ihm also die Geschichte erzählen, vom Wochenende am See und schließlich auch von dem Date, das er beobachtet hatte. Schließlich schilderte er, was an dem verhängnisvollen Abend in der Turnhalle passiert war.
Lars zuckte mit den Achseln. „Dass Timo Kohnen jemand ist, der sexuell gerne die Abwechslung sucht, habe ich auch schon gehört“, meinte er und Andrej wusste, worauf er anspielte. Das Gespräch mit Theo hatte er ja belauscht. „Aber Andrej, wieso kommst du nicht mehr zum Training?“, fragte Lars nun noch einmal.
„Weil ich nicht kann!“, erwiderte er. „Solange die Sache mit Timo nicht geklärt ist, kann ich nicht mehr aufs Trampolin steigen, verstehst du?“
„Na, dann klär sie!“, rief Lars ungehalten.
„Ja, aber …“
„Habt ihr etwa seit Timos Sturz nicht mehr miteinander gesprochen?“
„Doch, wir haben einmal getextet.“
„Texten zählt nicht. Redet miteinander! Mein Gott, Andrej, dass es dir kacke geht, wenn ihr die Sache nicht ausredet, wundert mich ehrlich gesagt nicht. Also, red mit ihm und bring die Sache ins Reine! Und dann kommst du wieder zum Training! Mensch, der Turnerpokal wartet. Du hast dich für den Süddeutschen Turnerpokal qualifiziert.“ Ehrfürchtig sprach er den Namen des Turniers aus. „Hast du das etwa schon vergessen?“
„Nein, natürlich nicht! Aber wie soll ich bitte mit ihm reden? Er meldet sich ja nicht mehr.“
Lars warf verzweifelt die Arme in die Luft. „Schon auf die Idee gekommen, dass ja auch du dich bei ihm melden könntest? Mensch, du hast doch seine Nummer! – Und du weißt sogar, wo er wohnt, wenn ich das vorhin richtig verstanden habe.“
„Schon richtig, aber …“
„Kein Aber. Ruf ihn an! Fahr zu ihm! Am besten heute noch!“ Lars Blick sagte, dass er keinen Widerspruch duldete.
Andrej seufzte. „Na gut, ich überleg’s mir.“