16
Es vergingen mehrere Tage, die Andrej zum Überlegen brauchte. Er musste Lars rechtgeben. Der Turnerpokal war immer schon ein großer Traum gewesen. War es nicht idiotisch, das Sportliche hinzuschmeißen, nur weil es ihm privat gerade schlecht ging? Ausgerechnet jetzt, so knapp vor diesem Ziel?
Er musste die Angelegenheit also nüchtern betrachten. Okay, er hatte sich also bis über beide Ohren in Timo verknallt. Das war dumm gewesen, da diese Gefühle ja offensichtlich nicht erwidert wurden. Für Timo war er bloß ein Typ gewesen, mit dem es Spaß machte, ein paar Mal zu ficken – mehr aber auch schon nicht. Es war bitter, aber eben leider Realität.
Er musste mit Timo reden, auch da hatte Lars recht, denn er brauchte eine Bestätigung, dass er die Sache wirklich so sah. Danach würde er mit der Sache abschließen und sich endlich wieder auf das Springen konzentrieren können, redete er sich ein.
Danach würde er Rainer anrufen und sich dafür entschuldigen, dass er dem Training so lange ferngeblieben war. Rainer war ein gutmütiger Kerl. Vielleicht würde dieser mit ihm ja ein paar Extraeinheiten einschieben, damit er nicht völlig unvorbereitet nach München fahren musste.
Zuerst war aber Timo dran. Wenn schon, denn schon, dachte er. Es kostete ihn Überwindung, aber er beschloss, das Gespräch nicht telefonisch zu erledigen, sondern Face-to-Face – es war besser so!
Nach seiner Schicht gab er sich also einen Ruck und stieg nicht in den Bus nach Hause, sondern in jene Linie, die nach Wimmerskirchen fuhr.
Es war dunkel und es regnete, als er den Ort erreichte. Zum Glück war Wimmerskirchen nicht groß. Von der Bushaltestelle an der Hauptstraße fand er problemlos in die Seitengasse mit der Reihenhaussiedlung. In jenem Vorgarten, der letztens noch mit Halloween-Kürbissen dekoriert war, befand sich mittlerweile eine bunt blinkende Weihnachtsbeleuchtung. Timo bewohnte das Haus daneben. Er steuerte auf die Tür zu und sein Puls ging heftig.
Keine Frage, es war die Nervosität. Ihm wurde bange, weil er ja nicht wusste, wie Timo auf sein unangekündigtes Auftauchen reagieren würde. – Was, wenn Timo gar nicht allein war?
Eilig verscheuchte er den Gedanken. Tief holte er Luft, und als er genügend Mut gesammelt hatte, trat er vor die Tür und klingelte.
Ein paar Augenblicke später zog Timo die Tür auf und sah ihn überrascht an. „Andrej?“
„Hallo Timo. Ich hoffe, ich störe nicht.“
Unmerklich schüttelte Timo den Kopf. „Nö, wie kommst du darauf?“
Jetzt fing er auch noch an zu schwitzen. Fahrig wischte er sich die Hände an den Hosenbeinen ab. „Na ja, ich wollte fragen, ob wir reden können?“
Timo zuckte mit den Schultern. „Sicher.“
Sie sahen sich an und schwiegen.
„Äh, kann ich reinkommen?“
„Sicher.“
Ein klitzekleines Gefühl der Erleichterung erfasste ihn. Der erste Schritt war also getan. Timo wendete sich nun um und ging zurück in die Wohnung. Andrej musste sich auf die Lippe beißen. Er sah extrem sexy aus. Daran hatte sich nichts geändert. Gerade trug er zwar keine Skinny-Jeans, sondern Joggingpants. Diese betonten seinen Arsch aber mindestens genauso gut. Der glänzende, schwarze Stoff der Adidas-Hose umspielte die knackigen Backen. Er zwang sich, den Blick abzuwenden. Er war ja nicht nach Wimmerskirchen gefahren, um Timos Arsch zu begaffen.
Als er hinter ihm in die Wohnung schritt, bemerkte er, dass Timo leicht hinkte. Scharf sog er Luft ein. Das beißende Gefühl in seinem Inneren, das er eigentlich loswerden wollte, verstärkte sich jetzt auch noch.
„Setz dich!“ Timo machte eine flapsige Geste in Richtung Esstisch.
„Okay, danke.“
Sie ließen sich nieder. Wieder guckten sie sich an und sagten nichts. Timos Lächeln sah schmaler aus als sonst, aber trotzdem unglaublich süß. Andrej hielt die Luft an. Es durfte jetzt nicht in seiner Brust poltern. Diese Zeiten waren vorbei. Er war ja gekommen, um mit der Sache abzuschließen.
„Also, du wolltest reden?“, fing Timo an.
„Ja“, sagte er und sammelte sich. „In erster Linie wollte ich mich entschuldigen. Weißt du, ich wollte nicht streiten, damals in der Halle. Dein Sturz …“ Er räusperte sich. Trotzdem hörte sich seine Stimme weiterhin brüchig an. „Es tut mir so entsetzlich leid.“
Timo zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Kannst du ja nichts dafür.“
„Ich finde schon“, widersprach er. „Hätten wir nicht gestritten, wäre es nicht passiert!“
„Woher willst du denn das wissen?“
„Na, weil …“
„Hör zu, Andrej! Ich bin dumm auf dem Sprungtuch aufgekommen. So, wie man eigentlich lernt, dass man es nicht tun soll. Und ja, jetzt habe ich den Salat.“ Er machte eine Geste in Richtung seiner Füße. „Es hat aber absolut nichts mit unserer Sache
zu tun.“
Andrejs Brust fühlte sich auf einmal ein klein wenig freier an. Schließlich traute er sich zu fragen: „Du bist mir also nicht böse?“
„Nein, wieso sollte ich? Habe ich dir ja auch schon auf WhatsApp geschrieben.“
„Ja, aber … na ja, ich dachte eben trotzdem, hm…“
„Trotzdem verstehe ich nicht“, fuhr Timo mit ungewöhnlich scharfer Stimme fort, „warum du so krass reagiert hast. – Ich habe ja nichts falsch gemacht!“
Andrej seufzte. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Während er überlegte, ging sein Blick an Timo vorbei und er guckte durch die großen Fenster, die den Tisch umgaben. Draußen blinkte die Weihnachtsbeleuchtung und im gegenüberliegenden Haus waren die Fenster hell erleuchtet. Eine Frau war zu sehen, die ein Baby aus dem Gitterbett hob und es in ihren Armen wiegte. Eine Szene, die eine heimelige Atmosphäre verströmte. In ihm kam aber ein bitteres Gefühl hoch. Er beobachtete die Frau und hing seinen Gedanken nach.
Es stimmte, er konnte Timo keine Vorwürfe machen. Trotzdem hatte es wehgetan. Mein Gott, es war so schwierig, es in Worte zu fassen. Trotzdem wollte er es zumindest versuchen.
„Weißt du, das Wochenende am See … es war so verdammt schön … also habe ich gedacht, dass du, na ja …“ Er kam ins Stottern. Am liebsten hätte er sich geohrfeigt. Warum, verdammt noch mal, gelang es ihm nicht, Timo einfach zu sagen, wie es in ihm aussah?
Ja, leider. Das Maul aufzukriegen, war eben nicht seine Stärke. Über Gefühle zu sprechen, erst recht nicht!
Schließlich sammelte er sich und fing von Neuem an: „Ich habe auch Grindr auf meinem Handy. Seitdem wir uns das erste Mal über den Weg gelaufen sind, hatte ich aber nie das Bedürfnis, jemanden anderen zu treffen.“
Timo ging darauf nicht ein, sondern erwiderte: „Das Wochenende am See war auch schön! Hey, ich hab’s auch schön gefunden. Total. Das kannst du mir glauben!“
„Ja? Echt?“ Ein zartes, wärmendes Gefühl kitzelte auf seiner Brust. Neugierig sah er Timo an und wartete darauf, was dieser als nächstes sagen würde.
„Na, aber an dem Sonntag war ich halt geil“, fuhr er fort. „Du hattest keine Zeit gehabt,
also hab ich mir einen anderen gesucht.“ Er schnippte mit dem Finger. „Sorry, wo ist bitte das Problem?“
Jetzt erlosch das wärmende Gefühl, denn Timos Worte fühlten sich so an wie Tritte in die Magengrube. Himmel, er verstand es schlichtweg nicht! Oder er wollte es nicht verstehen! Andrej seufzte schwer. Sein Herz war doch kein verdammtes Trampolin, auf dem man herumspringen konnte, wie man wollte! Zischend stieß er Luft aus und er biss die Lippen aufeinander – und sagte nichts.
„Hey, ich habe nichts Falsches getan“, betonte Timo abermals.
„Nein, hast du nicht“, murmelte Andrej.
Er war nicht hierhergekommen, um Timo Vorwürfe zu machen. Er war da, um mit der Sache abzuschließen. Um sich danach besser zu fühlen. Wie es aussah, ging dieser Plan aber nicht auf. Timos Worte taten weh und machten alles nur noch schlimmer.
„Nein, du hast nichts falsch gemacht“, antwortete er also und erhob sich. „Besser, ich gehe jetzt wieder.“
Überrascht sah Timo ihn an. „Ja, schon?“
„Ja!“
Er wendete sich ab und ging in die Diele, wo er in seine Sneakers schlüpfte und sich die Herbstjacke überzog.
Timo kam ihm humpelnd nach. „Also gut, na dann, hm“, druckste er herum.
Andrej war nicht viel wortgewandter. „Ja, hm … ich gehe dann jetzt …“
Auf einmal baute sich ein heftiges Druckgefühl in seiner Brust auf. Nein! Er konnte nicht durch diese Tür schreiten, ehe er Timo nicht gesagt hatte, was wirklich mit ihm los war. Timo musste es wissen. Andernfalls würde es ihn nachher zerreißen.
Auch wenn es ihm schwer fiel, er musste jetzt reden! Er holte Luft – und siehe da, es funktionierte. Er fasste Mut, straffte und räusperte sich.
„Du hast recht, du hast nichts falsch gemacht“, erklärte er. „Trotzdem war es verdammt scheiße für mich und es tat höllisch weh. Weißt du, es ist eben so, dass ich mich … dass ich mich in dich verliebt habe.“
Stille. Mehrere Sekunden vergingen, in denen niemand etwas sagte.
Timos Augen vergrößerten sich und sein Mund formte Worte. Es kamen jedoch keine Laute heraus.
Darüber war Andrej ehrlich gesagt recht froh. Er konnte sich ja denken, was Timo ihm
sagen wollte. Die bedauernde Erklärung, dass er diese Gefühle leider nicht erwidern konnte, musste er wirklich nicht hören.
Rasch zog er also die Tür auf, schritt hinaus und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen.
Einerseits war da jetzt Erleichterung, weil er ihm endlich gesagt hatte, was ihm auf dem Herzen gelegen war. Es schossen aber Tränen aus seinen Augen. Sie kamen aus Verzweiflung. Weil er eine brennende Sehnsucht in sich trug, die keine Erfüllung erfuhr. Das fühlte sich so an, als würde jemand sein Herz durch den Fleischwolf drehen.
Er entfernte sich von dem Haus. Die ersten Schritte ging er langsam, weil irgendwo tief in seinem Inneren doch die Hoffnung schlummerte, Timo würde ihm nachkommen, weil er ihm noch etwas Wichtiges zu sagen hätte. Dies geschah aber nicht. Die Haustür blieb verschlossen.
Also beschleunigte er seinen Schritt und es rannen immer mehr Tränen aus seinen Augen. Ständig musste er sich mit dem Handrücken über die Wangen wischen. Schließlich fing er an zu laufen. Er erreichte das Buswartehäuschen, setzte sich auf die Wartebank und vergrub seinen Kopf unter seinen Händen. Laut schluchzte er.