17
Es vergingen weitere fünf Tage. An keinem einzigen war Andrej beim Training gewesen. Jetzt wusste er zwar, dass Timo ihm nicht böse war und er eigentlich die Fahrt nach München hätte antreten können. Ohne in den letzten Wochen auch nur ein einziges Mal trainiert zu haben, war dies jedoch eine saudumme Idee.
Trainieren konnte er nicht, weil seine Seele noch zu sehr schmerzte. Sie fühlte sich so an, als würde sie ständig mit feinen Nadeln traktiert werden. Dies machte es ihm unmöglich, sich auf das Springen zu konzentrieren.
Irgendwann würde es vergehen, redete er sich ein. Die Zeit heilt alle Wunden, sagte man doch. Wenn es soweit war, würde er das Training wieder aufnehmen. Noch war dies jedoch nicht der Fall.
Lars hatte noch einmal angerufen. Diesmal hatte Andrej das Gespräch entgegengenommen und seinem Kumpel erzählt, dass er mit Timo zwar gesprochen hatte, es ihm seither aber nur noch schlechter ging. Er hatte ihm erklärt, dass er sich endgültig dazu entschlossen hatte, den Turnerpokal sausen zu lassen. Lars war deshalb fuchsteufelswild geworden. Aber was hätte er denn tun sollen? Sorry, er konnte schlichtweg nicht anders.
Heute war Samstag, der dritte Dezember, also jener Tag, an dem in München der Turnerpokal begann. Dieses große Turnier erstreckte sich über das ganze Wochenende. Die Vorausscheidung im Trampolinspringen der Männer war für 18 Uhr angesetzt, das Finale für Sonntag, 13 Uhr. Diese Termine kannte er auswendig, auch wenn es nutzloses Wissen war. Um nicht allzu oft daran denken zu müssen, was er gerade verpasste, hatte er sich freiwillig zur Samstagsschicht einteilen lassen.
Frittengeruch umwehte ihn, gleichzeitig fröstelte er. Der Winter war nun endgültig eingebrochen. In der Früh hatte es bloß geregnet, inzwischen kamen dicke Flocken vom Himmel. Auf dem Bahnhofsvorplatz hatte sich eine weiße Schicht gebildet, die sich vorne an der Straße aber längst in braunen Matsch verwandelt hatte. Jedes Auto, das vorbeifuhr, spritzte etwas davon auf den Bürgersteig.
Wie es an solchen Tagen üblich war, kamen nur vereinzelt Kunden. Gerade näherte sich wieder ein Mann und trat an den Tresen.
„Einmal mit doppelt Mayo“, verlangte er.
Andrej nickte und schaufelte Fritten in die Pappbox, ehe er wie gewünscht zweimal auf
den Mayonnaise-Spender drückte, dem Mann den Snack übergab und das Geld kassierte.
Ein Teenager mit klobigen Kopfhörern war der nächste Kunde. Er kaufte bloß eine Fanta und eilte ins Bahnhofsgebäude.
Es ging Schlag auf Schlag, denn schon stand wieder jemand da. Ein Typ, eingepackt in eine dicke Daunenjacke, die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen.
Andrej setzte gerade an, um nach der Bestellung zu fragen, da setzte sein Herz für einen Schlag aus, denn die hellen Augen und das süße Lächeln des Kunden kannte er nur zu gut.
„Timo?“, stieß er aus.
Das Lächeln wurde schmaler. Ein verlegener Ausdruck trat in sein Gesicht. „Hallo Andrej“, erwiderte er leise.
Andrejs Kehle fühlte sich staubtrocken an. Er guckte Timo an, als wäre dieser eine Erscheinung. Auf diese Situation war er nicht vorbereitet gewesen.
Wenn es darum ging, mit jemandem abzuschließen, war es nicht gerade förderlich, wenn dieser jemand plötzlich vor ihm stand. Es setzte ein Fluchtreflex ein. Am liebsten wäre er weggelaufen, das ging aber natürlich nicht. Gleichzeitig sehnte sich jede Faser seines Körpers so sehr nach Timo, dass auf einmal heiße Gefühle durch seine Adern zischten. Er verharrte und starrte ihn an.
„Willst du Fritten?“, fragte er verwirrt.
Timo schüttelte den Kopf. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann sagte er leise: „Ich denke, ich hab doch etwas falsch gemacht.“
Nervös stieg Andrej von einem Bein auf das andere.
„Können wir reden?“, fragte Timo.
Er blickte sich um. „Ähm … ich arbeite gerade, aber ja, momentan ist ja niemand hier. Ja, reden wir.“
Reden klang gut. Er wusste zwar nicht, was es noch bringen sollte, aber seine brennende Seele verlangte nach allem, was mit Timo zu tun hatte, auch wenn es bloß reden war.
Das Gespräch wollte er aber nicht über den Kundentresen führen. Vielleicht ging es ihm auch nur darum, Timo näher zu sein. Jedenfalls zog er sich die Winterjacke an und verließ die Bude. Durch den Schneematsch stapfte er auf Timo zu.
„Du willst also nochmal reden?“
Timo nickte. Er sah gedrückt aus. „Ich habe viel nachgedacht in den letzten Tagen“, erklärte er. „Weißt du, wegen diesem Scheiß …“ Er wies auf seinen Fuß. „… habe ich ja momentan viel Zeit. Zeit zum Nachdenken. Und verdammt viel Zeit zum Vermissen“, fügte er hinzu.
Andrej sagte nichts. Angespannt wartete er darauf, was Timo als nächstes zu sagen hatte.
„Ich habe jetzt kapiert, dass es eine Scheiß-Aktion war“, fuhr dieser fort.
„Aha“, presste Andrej hervor und etwas flatterte in ihm. Waren das nicht genau die Worte, die er sich beim letzten Mal so heiß ersehnt, aber nicht zu hören bekommen hatte? Allerdings konnte er sich nicht erklären, woher der plötzliche Sinneswandel kam.
„Es war fies und dumm. – Andrej, es tut mir leid.“ Timo sah ihn aufrichtig an. „Weißt du, ich vermiss dich. Extrem.“ Seine Lippen bebten. Vielleicht wegen der Kälte. Oder es waren doch die Emotionen schuld.
Andrejs Nerven drehten sich. Jetzt war er total aufgewühlt. Timos Worte taten diesmal nicht weh, im Gegenteil. Sie waren schön.
Sein Verstand verlangte aber nach weiteren Erklärungen. „Vor ein paar Tagen hast du noch ganz andere Töne gespuckt“, wandte er ein.
Timo holte Luft. „Wie gesagt, ich hatte echt viel Zeit zum Nachdenken. Ich habe dir ja erzählt, dass ich bisher immer bloß lockere Geschichten hatte.“
„Du meinst Affären
?“
Er nickte. „Am Traunsee ist mit mir aber etwas passiert“, fuhr er leise fort. „Etwas, das so nicht geplant war. Etwas, das sich superschön angefühlt hat, mir aber gleichzeitig … na ja, Angst gemacht hat. Weil es so anders war als alles, was ich bisher erlebt habe. – Andrej, bitte glaub mir, ich weiß auch nicht, warum ich dann dieses Grindr-Date gemacht habe!“, rief er und warf verzweifelt die Arme in die Luft.
„Letztens hast du gemeint, dass es dein gutes Recht war, es zu tun. – Und das war es ja auch …“
„Ich hab mich am Traunsee in dich verliebt, Andrej!“
Ein Kribbeln zog sich durch Andrejs Oberschenkel. Seine Knie wurden butterweich.
Nach einer bedeutungsvollen Pause fuhr Timo fort: „So etwas ist mir noch nie passiert. Ich war überfordert und hab die Panik bekommen. Deshalb hab ich dort demonstrativ Grindr angeworfen. Tut mir leid, das war eine Arschloch-Aktion. Und ja, als wir zurück waren, habe
ich diesen Typen gedatet. Wohl um mir selbst zu beweisen, dass es eben nicht so ist. Dass ich mir alles nur einbilde. Dass ich mich in Wirklichkeit gar nicht verliebt habe. Es war idiotisch. Könnte ich es rückgängig machen, würde ich es tun, aber das geht leider nicht.“ Verschämt senkte er seinen Blick.
Andrej bekam keine Gelegenheit zu antworten, denn ein neuer Kunde tauchte auf. Er musste also in die Bude flitzen und den Mann bedienen. Als dieser frittenessend in Richtung Bahnhof marschierte, kam er wieder heraus.
„Dass du die Grindr-Sache mitbekommen hast und zu Recht völlig angepisst warst, hat alles nur noch schlimmer gemacht“, nahm Timo das Gespräch wieder auf. „Ich bin in eine Abwehrhaltung gegangen. Deshalb habe ich so getan, als würde ich das für völlig normal halten.“ Er seufzte und blickte Andrej in die Augen. „Sieht so aus, als hätte ich in letzter Zeit echt viel Mist gebaut. – Es tut mir sehr leid.“
Andrej hatte bislang nur wenig zu diesem Gespräch beigetragen. Auch jetzt kam er nicht dazu, denn es war gerade eins geworden und seine Schicht ging zu Ende. Karim, der zur Nachmittagsschicht eingeteilt war, tauchte überpünktlich auf und löste ihn ab.
„Warte einen Moment, ja?“, sagte er zu Timo und ging mit Karim in die Bude, wo er ihm die Kasse übergab. Als er zu Timo zurückkehrte, flatterten dessen Wimpern und die Mundwinkel zuckten nervös. Er hielt Andrej am Arm fest.
„Bitte, fahr jetzt nicht nach Hause. Lass uns noch weiterreden, ja?“
Andrej hatte gar nicht vorgehabt nach Hause zu fahren. Timos Worte kamen ihm aufrichtig vor und sie taten gut. Auch er wollte weiterreden.
„Okay, wo?“, fragte er.
„Ich parke hinter dem Bahnhof. Setzen wir uns in mein Auto, da ist es nicht ganz so kalt.“
„Ist gut.“
Sie marschierten in den Bahnhof und verließen diesen durch den Hinterausgang, der auf einen großen Parkplatz führte. Alle Autos waren angezuckert, auch Timos. Sie setzten sich hinein. Drinnen war es düster, weil der Schnee auch auf den Scheiben lag.
„Also, was sagst du dazu?“, fragte Timo unsicher.
Andrej biss die Lippen aufeinander. In seinem Inneren fand gerade ein heftiger Streit statt. Die Stimme der Vernunft betonte, dass es doch viel klüger war, sofort wieder aus dem Wagen zu steigen und mit dem Bus nach Hause zu fahren. Nur wenn er weiter daran arbeitete, mit Timo abzuschließen, war sichergestellt, dass es zu keinen weiteren Verletzungen kam.
Aber da war auch noch sein Herz, das danach schrie, das exakte Gegenteil zu tun. Er würde sich dadurch so verletzlich machen wie noch nie. – Ein Schritt, der Mut erforderte.
„Bekomme ich eine zweite Chance?“, fragte Timo mit belegter Stimme.
Andrej schwieg und die Luft im Auto lud sich mit einer Spannung auf, die ins Unermessliche stieg.
Schließlich nickte er schwach. „Du meinst jetzt also … so richtig?“
Die Lichtverhältnisse waren miserabel. Trotzdem war der feuchte Schimmer zu erkennen, der in Timos Augen lag. „Ja, natürlich … so richtig. Voll und ganz.“
„Das würde ich gerne“, stieß Andrej mit schwacher Stimme aus.
Timos Mundwinkel zuckten. Daraus entwickelte sich ein Lächeln. „Darf … bitte, darf ich dich jetzt küssen?“
„Aber ich stinke nach Fritten.“
Timos Lächeln wurde fester und breiter. „Du weißt doch, dass ich auf Fritten stehe.“
Im nächsten Moment legte sich Timos Hand auch schon sanft auf Andrejs Hinterkopf. Sie bewegten ihre Gesichter aufeinander zu und über der Mittelkonsole trafen sich ihre Münder.
Vielleicht war es der scheueste Kuss, den es je gegeben hatte. Dafür waren die Gefühle umso gewaltiger. Andrej zerriss es fast. Sein Puls fühlte sich so an, als würde er aus Paukenschlägen bestehen. Heiß und wild durchströmte es ihn.
Irgendwann lösten sie sich wieder voneinander und Timo sah ihn zärtlich an. „Fahren wir zu mir nach Hause?“
Andrej hob die Schultern. „Da ich den Turnerpokal ja habe sausen lassen, habe ich nichts vor – also ja, gerne.“
Timos Augenbrauen zogen sich ein Stück weit zusammen. „Wie meinst du das?“
„Na, ich war seit über einem Monat nicht beim Training“, erklärte er, „also trete ich nicht an. Heute wäre ja die Vorausscheidung.“
„Heute ist der dritte, richtig“, stieß Timo aus. „Wegen meinem Fuß hatte ich das ja gar nicht mehr auf dem Schirm.“ Er riss die Augen auf. „Wieso warst du seit einem Monat nicht mehr beim Training?“
„Na, ich konnte eben nicht.“
„Scheiße, Mann! Etwa wegen …“ Er machte eine Geste, die sie beide umfasste.
Andrej nickte.
„Das tut mir so leid.“ Er keuchte und biss sich in die Faust. Schließlich blickte er wieder hoch und meinte: „Aber hey, du könntest es trotzdem versuchen! Das Trampolinspringen wirst du in dem einen Monat doch nicht verlernt haben, oder?“
Andrej musste ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen. „Timo, das geht nicht! Das Turnier hat schon begonnen. In München. Und wir sind in Röttingen“, erinnerte er ihn.
„Wann findet die Vorausscheidung denn statt?“
„Um sechs.“
Ein hastiger Blick auf die Uhr. „Wir haben also noch fast fünf Stunden. Mit dem Auto brauchen wir nach München zwei, höchstens drei. Wir schaffen das!“
Andrej schüttelte den Kopf, in ihm schoss aber ein Mix aus Emotionen hoch. Die Vorstellung, doch noch beim Turnerpokal anzutreten, löste ein aufregendes Kribbeln aus, das in ihm hochwirbelte, sodass ihm heiß und schwindelig wurde. Es mischte sich jedoch auch Panik dazu. Unvorbereitet auf die besten Trampolinspringer Süddeutschlands zu treffen, würde zwangsläufig in einer riesengroßen Blamage enden. Wollte er sich das wirklich antun?
Jetzt musste er sich entscheiden – und Mut aufbringen, wenn er seinem Herzen folgen wollte.
Er tat es. Er nickte. „Ja!“, stieß er aus. „Ja, fahren wir nach München.“
Im nächsten Augenblick startete Timo den Wagen und betätigte den Hebel für die Scheibenwischer. Der Schnee wurde von der Windschutzscheibe geschoben. „Gut, fahren wir nach München“, sagte er und parkte aus.
„Aber ich habe nicht einmal mein Trikot dabei“, fiel es Andrej ein. „Schau mich an, ich trage meine Frittenklamotten!“
„Daran soll‘s nicht scheitern. Fahren wir eben schnell bei dir zu Hause vorbei und du holst deine Sachen.“
Das taten sie. Als sie die Kerschtürme erreichten, nahm Andrej Timo sogar mit hoch. Es war ihm nicht mehr peinlich, wie er wohnte. Warum auch? Er kam eben nicht aus privilegierten Verhältnissen und lebte im schäbigsten Hochhaus der Stadt, na und?
Er drehte den Schlüssel in der Wohnungstür und stieß sie auf. „Hier, meine Wohnung“, verkündete er selbstbewusst. „So klein, wie sie ist, brauche ich wohl keine Führung machen“, fügte er schmunzelnd hinzu. „Ich spring noch schnell unter die Dusche, ja?“
„Gerne.“ Timo blickte sich um. Verwegen grinsend beobachtete er den Striptease.
Natürlich ploppten jetzt ein paar geile Erinnerungen in Andrejs Kopf auf. Das Duschen
mit Timo nach dem Training, die Nummer nach ihrer Ankunft am Traunsee. O nein! Auch wenn es höllisch schwer war, er konnte ihn jetzt nicht mit unter die Dusche nehmen. Dafür hatten sie keine Zeit. Schnell erledigte er es also allein. In frischen Klamotten suchte er seine Sportsachen zusammen, die im Kleiderschrank schon etwas Staub angesetzt hatten, und stopfte sie in die Tasche.
„Wir können los.“
„Super!“
Auf der Fahrt nach München kamen sie zwar zweimal in den Stau, zum Glück dauerte es aber nie besonders lange, bis sich dieser wieder aufgelöst hatte. Gerade war es dunkel geworden und es fing wieder kräftiger zu schneien an, als sie um kurz vor fünf die Stadteinfahrt erreichten.
Timo steuerte den Wagen durch die Straßen der bayerischen Hauptstadt. Er verwendete kein Navi, den Weg zur Halle kannte er, wie er vorhin erklärt hatte – weil er ja schon etliche Male beim Süddeutschen Turnerpokal dabeigewesen war.
Andrejs Blick war aus dem Seitenfenster gerichtet. Großstadtleben zog an ihm vorbei. Er war noch nie zuvor in München gewesen. Röttingen war zwar auch eine Stadt, mit München jedoch in keiner Weise vergleichbar. Hier waren die Häuser höher, die Straßen breiter. Unmengen an dick eingepackten Menschen bewegten sich durch das Schneegestöber. Mit prall gefüllten Tüten strömte ein ganzer Schwarm gerade auf einen U-Bahn-Abgang zu. Ach ja, es war ja der erste Adventsamstag, fiel es ihm ein. Viele Münchner hatten wohl schon erste Weihnachtseinkäufe erledigt. Es war eine eindrucksvolle Szenerie. Nun passierten sie einen Platz mit einem hell erleuchteten Christbaum. Ein paar Momente lang vergaß er ganz auf seine Nervosität.
Eine lange Reihe roter Lichter leuchtete vor ihnen auf. Sie schoben sich in einer Kolonne nur langsam vorwärts. Dann erreichten sie aber eine Abzweigung und von da an ging es wieder flotter voran. Wenige Minuten später fuhren sie vor der Sporthalle vor und Timo ergatterte einen der letzten freien Parkplätze.
Er stellte den Motor ab. „Na, aufgeregt?“
„Geht so“, brachte Andrej hervor. Es war eine Lüge gewesen. Jetzt war die Nervosität wieder da. Sie zerriss ihn fast.
„Komm, Superman!“ Timo grinste ihn an.
Er sog tief Luft ein. „Ja!“
Sie verließen den Wagen und durch eine Drehtür betraten sie den Eingangsbereich
der Halle. Viele Eindrücke prasselten auf ihn ein. Menschen, die kreuz und quer liefen. Hinweisschilder, die in alle Richtungen zeigten – zu den Umkleiden, zu den Tribünen, Sektor A, B und C, zur Startnummernausgabe. Plötzlich brandete Applaus auf. Er fuhr herum und entdeckte das offenstehende Tor zu Halle.
Eine Turnerin hatte ihre Übung auf dem Schwebebalken beendet. Die Kampfrichter hielten gerade die Tafeln mit den Noten hoch. Das Mädchen schien zufrieden zu sein. Es strahlte über beide Ohren.
Er trat näher an das Tor. Die Halle war riesig. Im Gegensatz zu den Gaumeisterschaften, die ein reines Trampolinturnier waren, fanden hier Wettkämpfe auf allen Geräten statt. Ringe, Reck, Stufenbarren und Pauschenpferd, alles war da. Die Trampolinanlage bildete das Zentrum. Überall liefen Turner und Trainer rum, zwischen ihnen einheitlich uniformierte Leute, die offenbar für die ordnungsgemäße Abwicklung der Wettkämpfe zuständig waren.
Als nächstes ging sein Blick hoch zu den Tribünen, die sich auf zwei Ebenen aufteilten und fast vollbesetzt waren. Wow, die Halle war tatsächlich um viele Nummern größer als jene in Hollenburg. Er würde also gleich vor dieser Wahnsinnskulisse springen – und das ohne trainiert zu haben! O Gott! Er presste die Lippen aufeinander, nervös zuckte es in seinem Bauch.
„Du musst dich anmelden“, rief Timo ihm zu. „Komm, wir haben nicht mehr viel Zeit.“
„O-okay, okay.“
Von da an zog alles wie ein Film an ihm vorbei. Mit der Frau an der Startnummernausgabe gab es eine Diskussion. Es bestand zwar kein Zweifel daran, dass er sich mit dem zweiten Platz bei den Gaumeisterschaften für das Turnier qualifiziert hatte, allerdings hatte er auf irgendeine E-Mail der Veranstalter nicht reagiert. Tja, er hatte in den letzten Wochen eben andere Dinge im Kopf gehabt. Ein Glück, dass er mit Timo jemanden an seiner Seite hatte, den hier jeder kannte und verehrte. Mit einem charmanten Lächeln regelte dieser es und Andrej bekam seine Startnummer.
„Hast du es dir gemerkt, erste Übung 18 Uhr 13, die zweite um 19 Uhr 29“, wiederholte Timo die Worte der Startnummernausgeberin, als sie sich zu den Umkleiden bewegten.
Andrej nickte.
Sie erreichten eine Absperrung, an der eine Tafel darauf hinwies, dass nur Turnierteilnehmer und Trainer sie durchschreiten durften.
Timo nahm Andrejs Hände und drückte sie liebevoll. „Ich versuche, einen Platz auf der Tribüne zu bekommen.“ Sein Blick wurde weicher. „Du schaffst das! Ich glaub an dich,
Superman.“
„O-okay“, stieß Andrej hervor. Inzwischen war er nur noch ein Nervenbündel.
Timo streckte sich und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. Sie umarmten sich und drückten sich fest.
„Ich liebe dich, Superman“, hauchte er ihm ins Ohr.
Andrejs Herz sprang zumindest schon mal Saltos. Es musste nur noch der Rest seines Körpers mitmachen, dann konnte da drinnen in der Halle ja eigentlich nichts mehr schiefgehen.
Sie trennten sich und Andrej betrat die Umkleide. In den Unterlagen, die er an der Startnummernausgabe bekommen hatte, suchte er die Nummer seines Spinds. Als er diesen gefunden hatte, zog er sich um. Schließlich kam jemand vom Organisationsteam auf ihn zu und brachte ihn in eine Nebenhalle, in der ebenfalls Turngeräte aufgebaut worden waren, darunter auch ein Trampolin. Hier konnte man sich für den Wettkampf aufwärmen.
Er machte zuerst ein paar Übungen auf dem Boden. Gerade wollte er auf das Trampolin steigen, als er Rainer erblickte. Und Jonas.
„Ah, der feine Herr!“, stieß Jonas belustigt aus. „Na, wenn ein Turnier ansteht, lässt er sich also auch wieder einmal in einer Turnhalle blicken.“
„Andrej“, rief Rainer überrascht und kam auf ihn zu. „Du bist also wieder gesund? Mit dir habe ich ehrlich gesagt heute nicht gerechnet.“
„Ja, es ging mir nicht gut“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Jetzt ist wieder alles in Ordnung, also trete ich heute an.“
„Du warst lange nicht beim Training.“
„Ich weiß. Trotzdem möchte ich es versuchen.“
Rainer, den normalerweise kaum etwas erschüttern konnte, zog eine besorgte Miene auf. „Wenn du meinst ….“
Ja, meinte er! Er stieg aufs Trampolin und sprang sich warm.
Es verging nicht viel Zeit, dann wurden die Vorrundenteilnehmer bereits zusammengetrommelt. Es waren rund dreißig an der Zahl. Die Gruppe wurde in die Halle geführt, wo gerade der Wettkampf am Reck im Gange war. Ein junger Turner ging auf der Stange in den Handstand, wirbelte einmal herum und legte einen astreinen Abgang hin. Applaus schwoll an. Die Leute auf den Tribünen erzeugten eine Wahnsinnsstimmung. Hitzestöße fuhren in Andrej hoch. Die Nervosität schlug langsam in Euphorie um.
Jonas warf ihm zwar abschätzige Blicke zu, doch dies kümmerte ihn nicht. Lieber schaute er hoch auf die Tribüne und da entdeckte er tatsächlich Timo, der im mittleren Sektor der oberen Ebene einen Platz gefunden hatte.
War das nicht unglaublich? Wenn ihm heute Morgen jemand gesagt hätte, dass er am Abend mit Timo in München sein würde, um am Süddeutschen Turnerpokal teilzunehmen, er hätte denjenigen schlichtweg für verrückt erklärt.
Schließlich begann der Wettbewerb. Einer nach dem anderen trat auf das Trampolin und absolvierte seine Pflichtübung. Vorgeschrieben war dieselbe Sprungfolge wie bei den Gaumeisterschaften. Das kam Andrej zugute, denn er kannte sie noch in- und auswendig. Er hatte sie ja hunderte Male geübt.
Um 18 Uhr 12 war er an der Reihe. Seine Nerven drehten sich und Unmengen an Adrenalin wurden durch seine Adern gepumpt, als sich alle Augenpaare auf ihn richteten und er auf das Trampolin stieg.
Er durfte über all das hier nicht nachdenken. Es würde nur dazu führen, dass er vor Nervosität eine Bauchlandung hinlegen würde. Fest kniff er die Augen zusammen und verjagte die Bilder aus seinem Kopf. Schließlich fing er an zu springen – und als er sich das erste Mal durch die Luft schraubte, war die Nervosität wie weggeblasen. Von nun an konzentrierte er sich nur noch auf die Figuren in der Luft und die Abfolge der Sprünge. Zuerst glückte alles, bei den letzten beiden kam er aber leider ins Trudeln, dennoch gelang ihm eine anständige Landung. Na, wenigstens etwas! Er streckte die Arme hoch und richtete seinen Blick auf das Kampfgericht. Die Tafeln gingen hoch. Er sah Sechsen und Siebenen, also mittelprächtige Noten. Tja. Sein Atem ging rasend schnell und er guckte hoch zu Timo, der heftig applaudierte, die Fäuste hob und schließlich die Daumen nach oben streckte.
Eine gute Stunde verging, dann war er mit der zweiten Übung an der Reihe. Diesmal durfte er die Sprungfolge selbst wählen. Vorbereitet hatte er natürlich nichts, er hatte die Pause aber genutzt und sich etwas überlegt. Das Motto: Lieber auf Nummer sicher gehen. Er nahm die freie Übung der Gaumeisterschaften her und zeigte sie in einer entschärften Variante. Anstatt eines Doppelsaltos machte er einen einfachen, den Baby-Fliffy ersetzte er durch eine einfache Schraube.
Die Übung beendete er ohne merklichen Fehler, doch jener Kampfrichter, der speziell für die Beurteilung des Schwierigkeitsgrades zuständig war, bestrafte ihn mit einer Fünf. Es dauerte noch eine halbe Stunde, dann hatte auch der letzte Vorrundenteilnehmer seine zweite Übung absolviert. Anders als in Hollenburg musste man hier nicht zur Ergebnistafel tigern, sondern die Namen der Finalteilnehmer erschienen auf einer großen Leuchtanzeige. Es
waren acht an der Zahl.
Andrejs Name war nicht darunter.
Er seufzte leise. Tja, es wäre auch vermessen gewesen, wenn er angenommen hätte, hier, wo die besten Springer Süddeutschlands antraten, ohne Training und mit einer Sicherheitsnummer ins Finale einzuziehen.
Jetzt wurden auch die Namen jener Teilnehmer, die sich nicht qualifiziert hatten, angezeigt, mitsamt ihrer Endplatzierungen. Er war Sechsundzwanzigster geworden. Von zweiunddreißig Teilnehmern. Er versuchte es positiv zu sehen. Immerhin war er nicht allerletzter geworden. Jetzt erblickte er auch Jonas‘ Namen. Dieser belegte den zwanzigsten Platz, hatte es also auch nicht ins Finale geschafft.
Andrej empfand es nicht als Niederlage. Trotz allem war er hier angetreten und hatte sich nicht blamiert. War das nicht ein Riesenerfolg? Er richtete sich auf und zog Luft ein. Von allen, die den Finaleinzug nicht geschafft hatten, war er jetzt wahrscheinlich der Stolzeste. Mit geschwellter Brust lief er aus der Halle.
Geduscht und umgezogen verließ er die Umkleide und erreichte wieder die Absperrung, hinter der sich der Publikumsbereich befand. Timo wartete auf ihn.
„Hey.“ Sexy strahlten die hellen Augen ihn an. „Du warst großartig, Superman!“ Er breitete die Arme aus und sie umarmten sich.
„Na, das ist dann aber doch eine Übertreibung“, murmelte Andrej in Timos Halsbeuge.
„In diesem Teilnehmerfeld sechs Springer hinter dir zu lassen, und das ohne Training! Na, das muss dir erst einmal jemand nachmachen!“
Timo sagte das nur, um ihn aufzubauen. Das wusste er. Trotzdem genoss er die Worte, oder vielleicht gerade deshalb? Die Worte taten gut. Sie erwärmten sein Herz.
Die Umarmung dauerte an. Timo zog ihn fest an sich heran und sprach weiter: „Und nächstes Jahr findet wieder ein Turnerpokal statt. Dann werden wir dafür ordentlich trainieren, ja? - Gemeinsam!“
Andrej nickte und Timo drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.
„Nächstes Jahr wird die Konkurrenz aber härter sein“, fuhr er fort, „denn da werde ich ja auch wieder dabeisein.“ Er grinste und zwinkerte.
Ehe Andrej etwas erwidern konnte, bekam er den nächsten Kuss. „Wir sollten aber dann los“, meinte er danach. „Es ist schon nach neun. Und nach Röttingen brauchen wir ja wieder zwei, drei Stunden.“
Timo schüttelte den Kopf. „Hab uns ein Hotel gebucht.“
„Was? Wieso? Du weißt doch, ich habe für sowas kein Geld!“
Timo legte seinen Finger auf Andrejs Lippen. „Kostet dich ja nichts.“
Er schnappte nach Luft, um zu protestieren, doch Timo brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen.
„Los, fahren wir zum Hotel“, meinte er schließlich. „Und sieh die Sache positiv: Da es mit dem Finale nicht geklappt hat, musst du morgen nicht ausgeruht sein. Wir können also ausgehen. Komm!“
Er nahm ihn an der Hand und sie gingen zum Ausgang.