18
Das Hotel, das Timo gebucht hatte, befand sich im Glockenbachviertel. Dabei handelte es sich, wie er Andrej auf der Fahrt hierher erklärt hatte, um ein Stadtviertel mit vielen schwulen Bars und Discos.
Sie hatten eingecheckt und Andrejs Sporttasche nach oben ins Zimmer gebracht. Timo hatte ja gar nichts mit. Dann waren sie sofort aufgebrochen. Inzwischen war es halb elf geworden und sie saßen in einer gemütlichen Nische einer gut gefüllten Cocktailbar. Ob dies nun eines der schwulen Lokale war, von denen Timo vorhin gesprochen hatte, konnte Andrej nicht beurteilen. Er sah einige heterosexuelle Pärchen. Es nahm aber auch niemand als Besonderheit wahr, dass Timo sein Knie auf Andrejs Oberschenkel und seinen Arm um seine Schultern gelegt hatte. Auch nicht, dass sie sich küssten.
Andrej befand sich in einem Zustand, der kaum zu beschreiben war. Es war eine Mischung aus erschöpft, aufgekratzt und überglücklich.
Der Kellner hatte ihnen gerade extravagante Cocktails gebracht. Sie waren giftgrün und laut der Karte enthielten sie Algen. Skeptisch schnupperte er an dem Getränk. Sie prosteten sich zu und tranken. Es schmeckte interessant und sehr alkoholisch.
Sie sprachen nicht viel miteinander, denn die meiste Zeit waren sie mit Knutschen beschäftigt. Zwischen zwei Küssen warf ihm Timo einen seiner verschlagenen Blicke zu. Er zog ihn an sich heran und kraulte ihm zärtlich den Nacken. Wieder versanken sie in einem langen Kuss. Sie konnten gar nicht mehr aufhören damit.
Längst pochte es heiß in Andrejs Hose und er schmunzelte, als er einen Blick in Timos Schritt warf und auch da eine Riesenbeule erblickte. Timo erging es also nicht anders.
„Na, vielleicht hätten wir doch gleich im Hotelzimmer bleiben sollen?“, keuchte Andrej nach dem nächsten Kuss.
Timo unterbrach das Knabbern an Andrejs Ohr. „Aber hey, du sollst doch zuerst mal gefeiert werden, hm … Die Nacht ist ja noch jung.“
Das mochte ja wahr sein. Andrejs Erregung nahm aber mit jeder Sekunde zu, sodass es kaum noch möglich war, sich zu zügeln. Hätte er so getan, wie er wollte, wären sie wohl der Bar verwiesen worden. Küssen war aber okay. Das machten ja auch andere hier.
In der nächsten Kuss-Pause ergriff Timo das Wort. „Willst du morgen direkt zurück nach Röttingen oder fahren wir über Ingolstadt?“
„Ingolstadt?“, erwiderte Andrej verwirrt. Er wusste, dass dies Timos Heimatstadt war. Er verstand aber nicht, warum sie diesen Umweg nehmen sollten.
„Wir könnten ja auf einen Sprung bei meinen Eltern vorbeischauen“, klärte Timo ihn auf.
Andrej stutzte. Er erinnerte sich an die Situation am See, als sich Timos Eltern angekündigt hatten und sie das Haus daraufhin fluchtartig verlassen mussten. Es hatte so gewirkt, als hätte Timo um alles in der Welt verhindern wollen, dass seine Eltern und er sich über den Weg liefen.
Wenn Andrej in den letzten Wochen eines gelernt hatte, dann war es, dass Dinge, die ihm auf dem Herzen lagen, unverzüglich angesprochen werden sollten. Also tat er es.
„Du willst mich deinen Eltern vorstellen, im Ernst?“ Er lächelte scheu. „Letztens am See hatte ich den Eindruck, als wäre dir das nicht so sehr recht.“
Schuldbewusst senkte Timo seinen Blick. „Hm, dieser Eindruck war wohl richtig“, gab er zu. „Es hatte aber nichts mit dir zu tun“, versicherte er. „Ich habe dir ja erzählt, dass ich in der Vergangenheit einige Affären
hatte.“
Andrej erschauderte. Inzwischen hasste er dieses Wort.
„Na ja, ehrlich gesagt waren es nicht einige – es waren viele. Vor meinen Eltern war mir das immer etwas unangenehm, verstehst du?
„Hm…“ Andrej zog die Augenbrauen zusammen.
„Na, ich wollte nicht, dass sie schlecht von mir denken, also habe ich versucht, da eine klare Trennlinie zu ziehen.“
„Zwischen deinen Eltern und den Affären
?“
„Richtig.“
„Dann sollten wir aber lieber nicht nach Ingolstadt fahren – wegen der Trennlinie. – Oder soll ich dann lieber im Auto warten?“
„Du bist ja keine Affäre
“, stieß Timo energisch aus.
„Sondern?“
„Na, ähm … mein Freund …“ Er ging mit der Stimme hoch, es hörte sich also wie eine Frage an.
„Bin ich das?“
„Ähm … willst du das?“
„Ja.“
„Ja?“
„Ja! Ja klar! Jaaah!“
Belustigt darüber, dass sie beide nur mehr stammelten, fingen sie an zu lachen. Da begegneten sich ihre Münder erneut. Der Kuss, der nun folgte, fühlte sich noch fabelhafter an als die vorangegangenen.
Pures Glück strömte durch Andrejs Adern.
Was das Treffen mit Timos Eltern anging, hatte er aber dennoch Bammel. Darauf hatte er sich noch nicht vorbereitet, also einigten sie sich darauf, es noch nicht an diesem Wochenende zu erledigen. Sie hatten ja alle Zeit der Welt dafür.
„Willst du dann auch meine Familie kennenlernen?“, fragte Andrej danach.
„Klar!“
„Ich warne dich aber vor: Es ist nicht die Art von Familie, wie du es wahrscheinlich gewohnt bist. Alleinerziehende Mutter, vier Töchter, ständiges Chaos, Mini-Wohnung“, nannte er ein paar Details.
Timo nahm Andrejs Hände und sie verhakten ihre Finger ineinander. Er sah ihn aufrichtig an. „Es würde mich riesig freuen, deine Mutter und deine Schwestern kennenzulernen.“
„Ja?“
„Jaaah!“
Schließlich orderten sie weitere Cocktails. Diesmal war es ein blitzblaues Gemisch. Die Küsse, die sie sich schenkten, lösten immer wildere Gefühle aus. Es rauschte nur so in Andrejs Adern. Der Alkohol verstärkte es noch.
Er war sich ganz sicher: Noch nie in seinem Leben war er so glücklich gewesen wie in diesem Moment.
Timo hatte offenbar ein Faible für seine Ohren. Ausgiebig leckte er daran und Andrej kicherte, weil es so sehr kitzelte. Tja, mittlerweile kassierten sie doch den einen oder anderen sparsamen Blick.
„Lass uns zurück ins Hotel gehen“, raunte Timo mit erregt zitternder Stimme.
Andrej hatte keine Einwände.
Das Hotel lag bloß ein paar Straßenzüge entfernt. Andrej wäre am liebsten gerannt. Er
konnte es nicht mehr erwarten, endlich mit Timo ungestört zu sein. Es ging aber nicht. Timo humpelte ja immer noch. Außerdem schneite es jetzt wieder kräftiger. Ein Glück, dass es auf dem Weg ein paar dunkle Hauseingänge gab, in die sie sich drücken konnten, um wilde Küsse auszutauschen.
Irgendwann erreichten sie ihr Zimmer aber doch. Erst jetzt fiel Andrej auf, wie bombastisch es war. Vorhin waren sie ja in Eile gewesen, also hatte er es gar nicht genau in Augenschein genommen. Es befand sich auf der zehnten Etage eines glasumfassten Hochhauses und verfügte über eine lange Fensterfront, durch die man die benachbarten Straßenzüge überblicken konnte.
Er legte die Jacke ab, zog sich das T-Shirt über den Kopf und trat an die Scheibe. Eine gewaltige Aussicht wirkte auf ihn ein. Die Lichter Münchens vermischten sich mit dicken Schneeflocken.
Timo kam auf ihn zu und fing an ihn zu küssen. Den Mund, die Ohren, den Hals, die Brustwarzen.
Andrej kicherte. „Hey …“
„Komm, Superman“, raunte Timo. Er nahm ihn an den Händen und zog ihn in Richtung Doppelbett.
ENDE