2. Schuld oder Scham?

Schuld und Scham haben unterschiedliche Ursachen, aber sie sind bei vielen Menschen eng miteinander verquickt. Aus dieser unseligen Allianz entspringt dann das Gefühl der „Minderwertigkeit“, das viele sehr gut kennen. Um das Minderwertigkeitsempfinden aufzulösen, muss man sich um die Ursachen der Schuld und vor allem um die Auslöser der Scham kümmern. Es sind zwei Gefühle mit verschiedenen Botschaften. Das Schuldgefühl wird dabei eher wahrgenommen als die Scham, obwohl das Schamgefühl in vielen Fällen mächtiger ist und entscheidender für den mangelnden Selbstwert. Wir haben in unserer Beratung gelernt, dass es wichtig ist, beide Gefühle und deren Folgen zu unterscheiden.

Dies ist der einfache, aber wesentliche Unterschied:

Schuld bezieht sich auf eine Tat. Es geht um mein TUN.

Scham ist ein Lebensgrundgefühl. Es geht um mein SEIN.

Was bedeutet das?

Bei der Schuld geht es um mein TUN

Viele christliche Lieder und Predigten thematisieren das Thema „Schuld und Vergebung“, aber nur sehr wenige das Thema „Scham“. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir in Deutschland wie in den meisten westlichen Ländern in einer sogenannten „Schuldkultur“ oder besser einer „Schuld-Unschuld-Kultur“ leben. Wer gegen ein Gesetz oder gegen ein Gebot verstößt, wird schuldig und muss sich bemühen, seine Schuld loszuwerden.

Sich schuldig zu fühlen ist eine gesunde menschliche Emotion. Schuld hat immer etwas mit einer konkreten Fehlhandlung zu tun. Dafür muss man geradestehen, dafür wird man zur Rechenschaft gezogen. Unser Gewissen mahnt uns, dass wir ein Gebot übertreten haben und dass wir für unser Verhalten verantwortlich sind. Für eine Schuld kann man büßen, oft kann man den Schaden ausgleichen und dann ist es wieder okay. Man weiß, was man tun muss, um wieder „schuldenfrei“ in der Gesellschaft angenommen zu werden.

Auch in der Beziehung zu Gott können wir die Schuldfrage klären. Jesus kam, um uns von unserer Schuld freizusprechen und uns mit Gott zu versöhnen. Dieses Wissen ist unser gutes christliches Erbe, aber es betont nur einen Aspekt der Erlösung. Viele Leute haben bestimmte Sünden zigmal bekannt, sie haben Vergebung empfangen, vielleicht sogar Wiedergutmachung geleistet, aber innerlich fühlen sie sich weiterhin belastet und schuldig. So ging es ja auch Klaus. Was stimmt da nicht? – Oft handelt es sich nur vermeintlich um Schuld, die als Last empfunden und bekannt wird. Man fühlt sich ständig schuldig, ohne schuldig zu sein. Das kann an einem übersensiblen Gewissen liegen oder daran, dass man die tatsächliche Ursache des Schuldgefühls verkennt. Schuld und Scham fühlen sich ähnlich unangenehm an. An dieser Stelle ist es befreiend, den Aspekt der Beschämung und der verinnerlichten Scham in Betracht zu ziehen. Von Schamgefühlen wird man nicht durch wiederholte Schuldbekenntnisse frei. Im Gegenteil, wer sich immer wieder mit seiner scheinbaren Schuld beschäftigt, wird seine Schamgefühle und seine Minderwertigkeit verstärken: Man hat es nicht geschafft, das unangenehme Gefühl loszuwerden. Wieder hat man versagt. Um frei zu werden von alten Schamgefühlen, braucht es etwas anderes, als Schuld zu bekennen und zu vergeben.

Bei der Scham geht um mein SEIN

Scham ist ein Lebensgrundgefühl. Sie ist verantwortlich für ein miserables Selbstwertgefühl, eine schwache Identität. Die innere Botschaft lautet: „Ich BIN verkehrt.“

Warum ist das so? Bei einer Beschämung wird einer Person die Würde genommen, sie fühlt sich emotional und sozial „demontiert“. Beschämung vermittelt das Gefühl, als ganze Person zutiefst falsch zu SEIN. Das hat eine ganz andere Dimension, das geht viel tiefer, als etwas Falsches zu TUN.

Doch damit stecken wir in einem Dilemma: Von Schuld kann man sich befreien, indem man bereut und Wiedergutmachung leistet. Die Regeln sind bekannt. Aber was können wir tun, wenn wir als ganze Person „verkehrt“ sind? Wie können wir unsere verlorene Würde wiederherstellen, die uns von jemand anderem geraubt worden ist? Daran arbeiten alle Beschämten eifrig und lebenslang. Aber irgendwann müssen sie sich eingestehen: Es will nicht gelingen. Von Scham und vom „Falschsein“ kann ich mich nicht selbst befreien, indem ich etwas Bestimmtes tue. So sehr ich mich auch anstrenge, es gelingt nur ansatzweise, meist gar nicht. Warum ist das so?

Wenn Sie beschämt werden, ist es nicht Ihre Schuld. Eine andere Person ist an Ihnen schuldig geworden. Jemand hat Sie emotional beraubt, hat Ihnen Ihre Würde genommen. Sie waren das Opfer, nicht der Täter! Das tut sehr weh, und wenn es öffentlich geschieht, ist es umso schmerzlicher. Damit Sie Ihre Würde zurückerhalten, brauchen Sie nun wiederum eine andere Person, die für Sie, das Opfer, eintritt und tätig wird, Sie tröstet und aufrichtet. Diese Person muss dem Täter ebenbürtig oder überlegen sein, damit es glaubhaft ist. Das ist der Unterschied zur Schuld: Aus dem „Schuldturm“ kann man sich durch das Schuldbekenntnis „freikaufen“, aber aus dem „Schamgefängnis“ kann man sich nicht selbst befreien. Den Schlüssel dazu haben andere in der Hand. Heilsamen Trost kann man nur von anderen empfangen. Wir werden in Beziehungen verletzt und wir werden durch Beziehungen geheilt.

Anschaulich beschreibt der französische Psychotherapeut Boris Cyrulnik den Unterschied zwischen Schuld und Scham: „In der Seele eines Beschämten lebt ein quälender Gegner, der ständig murmelt: ‚Du bist erbärmlich‘, während in der Seele eines Schuldigen ein Gericht tagt, das ihn unablässig verurteilt und ihm einredet: ‚Es ist deine Schuld.‘ Der Beschämte versteckt sich, um weniger zu leiden, oder er versucht, sich in den Augen des anderen aufzuwerten. Der Schuldige bestraft sich, um seine Schuld zu sühnen.“2

Gesunde Scham und krank machende Scham

Bei „Scham“ müssen wir unterscheiden zwischen gesunder Scham und krank machender Scham. Letztere ist die Folge einer Beschämung. Wir haben sie in der Geschichte von Klaus kennengelernt.

Gesunde Scham hat etwas mit Peinlichkeit zu tun, sie hat eine andere Wurzel. Ein Vorfall aus meinem Leben soll das deutlich machen: Ich hatte mir für eine größere Veranstaltung fest vorgenommen, ein bestimmtes Thema gemeinsam mit meiner Frau vorzutragen. Das war mir wichtig und so war es zwischen uns abgesprochen. Es war klar, dass die Hauptlast der Vorbereitung bei mir lag. Dann wurde die Vorbereitungszeit knapp und andere Umstände kamen dazu, sodass ich mich entschied, das Thema doch allein zu referieren. Ich nannte Christa meine Gründe, aber wir nahmen uns keine Zeit, um gemeinsam eine Lösung zu finden. Das Thema kam gut an, aber irgendwie fühlte ich mich unwohl. Als wir nach dem Vortrag wieder allein waren, konfrontierte mich Christa mit meiner Vorgehensweise und gab ihrer Enttäuschung Ausdruck. Ich verteidigte mich und nannte ihr alle meine „guten“ Gründe, warum es dazu gekommen war. Ich wollte meinen Fehler nicht wahrhaben. Doch schließlich gab ich ihr recht. Ich bat Christa um Vergebung und wir konnten die Sache klären. Aber noch heute schäme ich mich, wenn ich daran denke, wie ich meine Frau übergangen und enttäuscht habe. Diese Scham empfinde ich als „gesund“, weil sie mich lehrt, den gleichen Fehler nicht zu wiederholen.

Die gesunde Scham zeigt an: Hier habe ich versagt und einen Grundwert unserer Beziehung verraten. Ich habe Vertrauen zerstört. Ähnlich war es in der Geschichte des Sündenfalls. Adam und Eva versteckten sich aus Scham vor Gott, weil sie das Vertrauen, das er in sie gesetzt hatte, enttäuscht hatten. Sie fühlten sich schuldig und schämten sich dafür. Das machte ihre Begegnung mit Gott zu einer peinlichen Angelegenheit. So versteckten sie sich, um die Begegnung zu vermeiden.

Gesunde Scham entsteht, wenn wir uns schämen, weil wir an jemand schuldig geworden sind. Wir haben gute eigene Werte und Ziele missachtet und einen anderen Menschen verletzt. Gesunde Scham sollte man empfinden bei einem Vertrauensbruch, bei nicht eingehaltenen Versprechen, bei Ehebruch, Lüge, übergriffigem Verhalten, Ausnutzung von Schwäche und wenn man andere beschämt und bloßstellt, kurz gesagt: bei der Missachtung von Werten, die für eine vertrauensvolle Beziehung wichtig sind.

Scham oder Trauma

Viele beschämende Erlebnisse sind traumatisch, aber nicht alle. Jedoch sind alle traumatischen Erfahrungen in Beziehungen auch mit tiefen Schamgefühlen verbunden. Man könnte sagen, dass Beschämung der „Vorhof“ eines Traumas ist. Sie kann traumatisch sein, muss aber nicht. Die Grenzen zwischen Beschämung und Traumatisierung sind nicht eindeutig. Was für eine Person beschämend ist, kann für eine andere traumatisch sein. Darum werden durch dieses Buch sicherlich auch traumatisierte Menschen angesprochen. Auch etliche der persönlichen Berichte beschreiben nicht nur eine Beschämung, sondern ein Trauma. Der Trost, den die Betroffenen erlebt haben, hat dazu beigetragen, dass sie ihr Trauma besser aufarbeiten konnten.

Die Folgen eines Traumas sind deutlich schwerwiegender als die Folgen einer Beschämung. Ein Trauma führt zu einer dissoziativen Störung3 und die Betroffenen leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen. Um ein Trauma zu bewältigen, ist eine Therapie nötig. Da das Thema Trauma sehr komplex ist, werden wir in diesem Buch nicht weiter darauf eingehen.

Unterscheiden

Um mit den Lebenswunden der Kindheit zurechtzukommen oder um Ratsuchenden helfen zu können, ist es wichtig zu unterscheiden, ob wir es mit Schuld, mit Scham oder mit einem Trauma zu tun haben. Auf einen einfachen Nenner gebracht, bedeutet das: Bei Schuld helfen Bekennen und Vergeben. Bei seelischen Verletzungen und bei Beschämung sind darüber hinaus Trost und die Wiederherstellung der Würde nötig. Bei einem Trauma ist eine Therapie nötig, weil verletzte und beschämte Persönlichkeitsanteile miteinander ein inneres System bilden, das nicht leicht zu durchschauen ist. Um Traumatisierten helfen zu können, ist eine fachliche Ausbildung nötig. Aber mit Schuld und Scham sollte jeder Christ und vor allem jeder Seelsorger und Berater angemessen umgehen können.

Fragen zur Selbstreflexion

• Welche Informationen habe ich bisher zum Thema „Scham und Beschämung“ erhalten?

• Wie hilfreich ist für mich persönlich die Unterscheidung zwischen Schuld und Scham?

• Muss ich vielleicht etwas gedanklich neu ordnen?

• Wie sehr ist mir bewusst, dass ich beschämt worden bin?

• Welche Symptome sprechen möglicherweise dafür?