Die Worte Scham, Schande und Schmach haben ihren Ursprung in dem althochdeutschen Wort scama, was bedeutet: „das zu Bedeckende“. Das entsprechende hebräische bosh bedeutet „fehlerhaft“ oder „wertlos sein“. Bei der Scham geht es also darum, etwas zu verbergen. Eine Handlung, mit der wir beschämt werden, deckt unsere Schwäche und Fehlerhaftigkeit auf und vermittelt uns das Gefühl der Wertlosigkeit. Unsere Würde ist verletzt oder wurde uns sogar genommen. Die gefühlte Wertlosigkeit will man nun umso mehr nach außen verbergen. Schauen wir uns einmal an, wie das in der Kindheit vor sich gehen kann.
Die Grundbedürfnisse eines Kindes für eine gesunde Entwicklung sind Liebe und Annahme, Zugehörigkeit, Gesehen- und Wertgeschätztwerden. Das kindliche Herz sendet die Botschaft: „Liebe mich, respektiere mich!“ Babys und Kleinkinder haben eine herzerwärmende Ausstrahlung, sodass jeder gern das Kind berühren, streicheln, anlächeln und auf dem Arm halten will. Das macht es leicht, die Grundbedürfnisse des Kindes zu erfüllen. Aber das ändert sich bald. Wir erleben das bei unseren Enkeln. Die jüngsten sind gerade zwei Jahre alt geworden und beginnen, sich von der Mutter zu lösen. Sie entdecken ihren eigenen Willen und probieren ihre Eigenständigkeit aus: „Nein“ und „alleine“ sind ihre Lieblingsworte. Dieser erste Ablöseprozess ist für eine gesunde Entwicklung unbedingt notwendig.
Mit zunehmendem Selbst-Bewusstsein lernt das Kind mehr und mehr auszudrücken, was es selbst will und was nicht. Dazu setzt es auch die Macht des Schreiens und der Tränen ein. Es kann Eltern zur Verzweiflung treiben, wenn hungrige oder übermüdete Kinder einfach „Nein“ sagen – zum Essen und zum Schlafengehen. Das Kind hat seinen Willen entdeckt, aber noch nicht die Weisheit, ihn immer richtig einzusetzen. Da ist es zuweilen nötig, die Kleinen zu begrenzen. Es ist die Zeit, wo es in der Interaktion mit seinem Umfeld lernt, sein Sozialverhalten zu trainieren und sich selbst realistisch einzuschätzen. Bald weiß es: „Das darf ich und das darf ich nicht, das kann ich und das kann ich (noch) nicht.“ Und es lernt, wie es mit anderen Menschen respektvoll in Beziehung treten kann.
In dieser Phase entwickelt das Kind auch sein Gewissen und sein gesundes Schamempfinden. Mit etwa drei bis vier Jahren verliert es seine Unbefangenheit und hat ein gesundes Empfinden für das, was es bereit ist, anderen zu zeigen und was nicht. Es setzt Grenzen und zeigt gesunde Scham, indem es seine Privatsphäre schützt, wenn es z. B. zur Toilette muss, oder sich versteckt, wenn es etwas ausgefressen hat. Die Grafik soll das verdeutlichen. Um sein Innerstes (Herz) herum entwickelt es seinen persönlichen Intimbereich, den die gestrichelte Linie deutlich macht. Dabei bezieht sich der Intimbereich nicht nur auf körperliche Nacktheit, sondern umfasst alle Bereiche, die das Kind „bedecken“ möchte, wo es nicht mag, dass eine andere Person dort einfach eindringt. Das Kind will nun um Erlaubnis gefragt werden, z. B. bei Liebkosungen oder wenn es etwas teilen soll. Es empfindet es als verletzend und beschämend, wenn jemand diese Grenzen nicht respektiert, sondern den sehr persönlichen Bereich einfach überschreitet.
Das Grundgefühl, dass Grenzen unzulässig überschritten wurden, ist jedoch schon sehr viel früher aktiv. Babys lieben es, gewickelt und gereinigt zu werden, aber sie haben einen siebten Sinn für übergriffiges Verhalten. Durch sexuellen und emotionalen Missbrauch werden sie beschämt und entwertet, verletzt und emotional zerbrochen. Beschämung wird nicht erst dann empfunden, wenn das Kind ein Ich-Bewusstsein entwickelt hat! Manche Schamgefühle beginnen sogar schon im Mutterleib, wie wir später noch sehen werden.
Gesunde Scham zieht also eine unsichtbare Grenze, die meine Person „bedeckt“. Innerhalb dieser Grenze befindet sich meine „Privatsphäre“, zu der meine persönlichen Unsicherheiten und Unvollkommenheiten gehören. Mit zunehmendem Alter werden dem Kind seine Schwächen bewusst; es vergleicht sich und stellt fest: „Die anderen können mehr, die anderen sind in manchen Dingen schneller und besser als ich. Ich habe das noch nicht so gut drauf. Ich bin vielen Anforderungen noch nicht gewachsen, aber ich wäre es gerne. Versuche ich zu sprechen oder etwas nachzusprechen, dann lachen die anderen. Warum? Ich habe mir größtmögliche Mühe gegeben, das Wort richtig auszusprechen. Was habe ich verkehrt gemacht?“ Das ist sehr verunsichernd für ein Kind; es bemüht sich, seine Unsicherheit zu verbergen und alles richtig zu machen. Ab etwa drei Jahren zeigt es stolz, was es schon kann, und mit fünf Jahren sind Kinder oft kleine Richter: Weichen die Eltern vom Kurs ab und machen etwas anders, als sie es dem Kind beigebracht haben, werden sie von ihrem entrüsteten Kind ermahnt.
Jeder Mensch hat solch eine unsichtbare Grenze. Wie eng oder wie weit Ihre persönliche Grenze ist, zeigt eine einfache Beobachtung: Wo setzen Sie sich hin, wenn Sie eine Veranstaltung besuchen, wo Sie fremde Leute treffen? Wie viel Platz, wie viele freie Stühle lassen Sie zu Ihrem Nachbarn? Im Seminarkontext machen wir diese Grenze anschaulich, indem zwei Personen mit Blickkontakt aufeinander zugehen und Stopp sagen, wenn es ihnen zu nahe wird und sich Unbehagen einstellt. Dabei wird deutlich, dass diese unsichtbaren Grenzen individuell und kulturell unterschiedlich ausgeprägt sind. Südeuropäer und Nordeuropäer unterscheiden sich deutlich in ihrem Nähe- und Distanzverhalten.
Immer wenn jemand diese gesunde Schamgrenze durchbricht, ein Kind respektlos behandelt, seine Schwächen bloßstellt oder sich über es lustig macht, fühlt sich das Kind missachtet und beschämt. Jede Art von Gewalt und Missbrauch ist in hohem Maße beschämend. Aber Scham empfindet ein Kind auch, wenn es in einer überfordernden Situation den Anspruch spürt, etwas erreichen zu müssen, dem es nicht gewachsen ist. Es wird etwas aufgedeckt, was es lieber bedeckt halten möchte: sein Unvermögen, das andere jetzt wahrnehmen. Das empfindet ein Kind als beschämend. Da es in diesen Situationen oft auch beschuldigt wird, konzentriert sich sein Bewusstsein eher auf die Schuldfrage und seine Schuldgefühle. Verborgen unter diesen Schuldgefühlen nistet sich jedoch eine tiefe Scham und das Gefühl der Wertlosigkeit ein.
Manche Psychologen sagen, dass Scham das zentrale Gefühl ist, von dem alle anderen negativen Gefühle ihre Kraft beziehen.
Leider wissen wir nicht mehr, wo wir den Satz gelesen haben. Nach unserer Erfahrung ist er sehr zutreffend. Die Frage ist jedoch, warum Beschämung einen so unauslöschlichen Eindruck hinterlässt. Warum hat sie eine so zerstörerische Kraft? Schauen wir uns an, was bei einer Beschämung innerlich geschieht.
Erinnern Sie sich einmal an eine beschämende Situation in Ihrem Leben. – Was waren Ihre spontanen Gefühle und Gedanken? – Und konnten Sie sich rational dagegen wehren?
Von unseren Seminarteilnehmern erhalten wir regelmäßig diese Antworten:
• peinlich, gedemütigt, meiner Würde beraubt, entehrt, entwertet, überfordert, ausgeliefert, erniedrigt, schutzlos, wehrlos, hilflos, ohnmächtig, bedrückt …
• Kennzeichen der Beschämung ist auch die absolute Ohnmacht, das Ausgeliefertsein. Wer sich in der Situation wehren kann, durchbricht damit schon die Macht der Beschämung.
• „Bloß weg hier aus dieser schrecklichen Situation!“, „Könnte ich mich doch bloß unsichtbar machen!“, „Ich möchte im Boden versinken“, „Ich möchte mich in ein Mauseloch verkriechen.“
• Andere haben dagegen eine Gedankenblockade, eine große Leere im Kopf, eine innere oder sogar eine körperliche Erstarrung. (Letzteres ist ein Traumakennzeichen.)
Die Gefühle und Gedanken der beschämenden Situation führen zu der einfachen, aber fatalen kindlichen Schlussfolgerung: „Ich BIN falsch“, „Ich BIN verkehrt“, „Ich BIN wertlos“, „Ich BIN machtlos und minderwertig“, „Nie kann ich genügen. Alle anderen können es besser.“ Warum ist das so?
Kinder können zwischen ihrem Tun und ihrem Sein nicht differenzieren. Je jünger sie sind, desto weniger gelingt das. Sie beziehen Kritik, Korrektur, Auslachen und Beschämung immer auf ihre ganze Person. Machen sie einen Fehler und werden dafür beschimpft oder bestraft, heißt das vor ihrem kindlichen Denkhorizont: „An mir stimmt etwas nicht.“ Dieses Gefühl, falsch oder wertlos zu sein, nistet sich früh in unser Herz ein. Wir nehmen es später als „Minderwertigkeitsgefühl“ wahr. Besonders sensible Kinder und vor allem hochsensitive Kinder fühlen sich schnell beschämt. Sie haben intensivere Gefühle, sie spüren die Erwartungen und Enttäuschungen der anderen und lesen auch zwischen den Zeilen.
Leider ist Wut in diesen peinlichen Situationen nicht das erste oder das vorherrschende Gefühl. Bei Wut wird Adrenalin ausgeschüttet und das gibt den Kick, sich wehren zu können. Das wäre nötig, um dem Täter die Stirn zu bieten und die Schambotschaft abzuweisen. Aber da ist nur Ohnmacht und Hilflosigkeit und sogar Schockstarre. Vielleicht kommt die Wut später, aber dann richtet sie sich meist gegen einen selbst: „Wie konnte ich nur so blöd sein?“, „Wie soll ich das jemals wiedergutmachen?“, „Das darf niemand erfahren!“ Damit macht man sich selbst zum Opfer, man verstärkt sein Minderwertigkeitsgefühl und baut sein eigenes Schamgefängnis.
Hilfreich wäre es, wenn die Eltern ihrem Kind helfen würden zu unterscheiden, was echtes Fehlverhalten, echte Schuld und was Fehler aufgrund von Überforderung sind. Wenn die Eltern erklären: „Das ist dir wohl danebengegangen. Aber du darfst daraus lernen. Beim nächsten Mal wird es besser“, oder: „Das ist für dich noch zu schwer. Versuch es mal, wenn du etwas älter bist“, dann kann das Kind einen inneren Kompass zur Differenzierung von Tun und Sein ausbilden. Damit würde die Beschämung ihre Macht verlieren und das Kind inneren Frieden finden können. Haben Sie zu Hause solche Sätze gehört? – Wie hätten Sie das aufgenommen?
Wenn jedoch den beschämenden Botschaften nichts Entlastendes entgegengesetzt werden kann, verfestigt sich die innere Überzeugung „Ich bin falsch“ recht schnell zu einem negativen Bild von sich selbst. Dieser Lebenseindruck äußert sich auch in einem schwachen Selbstwert oder als Minderwertigkeitsgefühl. Diese Grundüberzeugung kann durch ein heftiges Beschämungserlebnis entstehen oder durch fortgesetzte kleinere Beschämungen wachsen. Oft ist damit auch das Gefühl verbunden, „schuldig“ zu sein, weil in den entsprechenden Situationen Schuldzuweisungen gemacht wurden. Die Kombination aus Scham und Schuld ist eine unselige Allianz, ein furchtbares Gefängnis. Man findet nicht zur inneren Freiheit, wenn nur an der Schuldfrage gearbeitet und die Macht der Scham übersehen wird.
Wird Kindern ihre gesunde Scham geraubt, macht sich in ihnen zusätzlich eine tiefe Angst breit. Es ist die Schamangst, so etwas noch einmal erleben zu müssen. Die erste Entscheidung der Schamangst ist: „Darüber kann ich mit niemandem reden.“ Damit ist das Gefängnis des Schweigens errichtet. Dann trifft die Schamangst weitere grundlegende Festlegungen oder sogar innere Schwüre: „Das darf mir nicht noch einmal passieren! – Darum werde ich immer … Darum werde ich nie mehr …“ Für ein Kind ist klar: Wenn ich als Person wertlos und verkehrt bin, muss ich mir ganz viel Mühe geben, meine innere Wertlosigkeit zu verbergen. Ich muss immer alles richtig machen. Diese Entscheidung führt zu Kontrolle und Perfektionismus, zu Leistungsorientiertheit und anderen anstrengenden Verhaltensmustern im Erwachsenenleben. In diesen Mustern sind die schlechten „Früchte“ einer Beschämungserfahrung ständig präsent.
Wie fatal diese kindlichen Entscheidungen für eine Person sein können, wurde mir erneut deutlich in einer Buchbesprechung im Magazin Stern, auf die ich zufällig stieß.4 Es ging um das Buch „Hunger“ von Roxane Gay. Die Überschrift „Unter dem Panzer – Warum bin ich so fett?“ machte mich neugierig und ich las etwas über die furchtbaren Auswirkungen einer tiefen Beschämung. Die Autorin hatte als Teenager ein Trauma erlebt. Ich gebe den Text auszugsweise wieder: Roxane wiegt 261Kilo und nimmt sich zum ersten Mal seit über 20 Jahren – seit sie 12 war – vor, nicht noch dicker zu werden. Dann erfahren wir, dass sie mit 12 Jahren von ihrem ersten Freund und einigen anderen Jugendlichen brutal vergewaltigt wurde. In ihrem Buch „Hunger“ erzählt sie davon, wie sie danach keinen Weg findet, sich ihren Eltern oder irgendwem sonst anzuvertrauen, weil sie voller Scham ist und überzeugt, sich schuldig gemacht zu haben. Nichts wert zu sein, weil auch ihr „Nein“ nichts wert war. So beschließt sie, dick zu werden. Sich so tief unter Fettbergen zu vergraben, dass niemand sie mehr begehrenswert findet. Sie braucht mehr als 20 Jahre, bis sie aus diesem Panzer herausfindet. Weil es schwerer ist, „die Wahrheit zu glauben, als sie zu kennen“, nämlich dass sie keine Mitschuld hat an dem Verbrechen. Aber Gay nimmt die Rolle des Opfers ausdrücklich an …
Ist das nicht eine furchtbare Geschichte? Wie anders hätte ihr Leben verlaufen können, wenn Roxane Gay rechtzeitig Gehör gefunden und Hilfe erfahren hätte?
Wenn Scham das zentrale Gefühl ist, von dem alle anderen negativen Gefühle ihre Kraft beziehen, dann müssen wir uns mehr um dieses Thema kümmern. Der erste Schritt ist, Schamerfahrungen zu erkennen und ans Licht zu bringen. Sie müssen benannt werden, damit man sie bearbeiten und die Schamangst entmachten kann.
Da dieser Schritt sehr schwer ist und beschämende Erlebnisse oft verdrängt sind oder man nicht weiß, welche Erfahrungen die Scham ausgelöst haben, werden wir in den nächsten Kapiteln verschiedene beschämende Szenarien beschreiben, die zur Schamangst führen. Etliche Mitarbeiter haben uns dazu ihre persönlichen Geschichten aufgeschrieben. Auf diese Weise wird es Ihnen leichter fallen, bestimmte Zusammenhänge in Ihrem Leben zu entdecken und zu differenzieren zwischen echten und falschen Schuldgefühlen und Schuld und Scham.
• Welche der geschilderten Kindheitserfahrungen und Reaktionen kann ich in meinem Leben wahrnehmen?