Teil 2
Beschämung hat viele Gesichter

Ihr wisst, dass unseren Vorfahren gesagt worden ist: „Du sollst nicht morden! Wer einen Mord begeht, soll vor Gericht gestellt werden.“ Ich aber sage euch: Schon wer auf seinen Bruder oder seine Schwester zornig ist, gehört vor Gericht. Wer zu seinem Bruder oder seiner Schwester sagt: „Du Idiot“, gehört vor das oberste Gericht. Und wer zu seinem Bruder oder seiner Schwester sagt: „Geh zum Teufel“, gehört ins Feuer der Hölle. – Matthäus 5,21–22 GN

4. Offensichtliche Beschämung

Menschen kommen nicht zur Beratung, weil sie beschämt wurden. Sie kommen, weil sie in ihrem Leben bestimmte „schlechte Früchte“ wahrnehmen und darunter leiden. Sie wünschen sich Veränderung in ihrem Selbstwert, in ihren Beziehungen, in negativen Denkweisen und belastenden Verhaltensmustern. Oft nehmen sie ihre Scham nicht wahr, weil sie nie auf den Gedanken kamen, sie könnte die Ursache sein. Oft wollen sie sie auch nicht wahrhaben, denn die damit verbundenen Erinnerungen sind ihnen sehr unangenehm. Und sie sind ratlos, wie sie damit umgehen könnten. So lassen sie diesen Zustand lieber unbeachtet und schweigen über ihren inneren Schmerz.

Aber wer frei werden will und seine Selbstachtung wiedererlangen möchte, muss sich die Ursachen seiner Symptome anschauen und sich mit seinen Schamgefühlen beschäftigen, die oftmals die „Wurzeln“ der schlechten „Lebensfrüchte“ sind. Manchen „Früchten“ lassen sich die zugrunde liegenden Beschämungserlebnisse schnell zuordnen, aber zuweilen kann sich die Suche nach den Wurzeln auch mühsam gestalten. Besonders herausfordernd wird es, wenn es sich um ein komplexes „Wurzelwerk“ handelt und verschiedene Beschämungssituationen die Ursachen sind.

Außerdem ist zu bedenken, dass Menschen eine unterschiedliche emotionale Struktur haben. Manche sind sehr sensibel, andere emotional robuster. Auf ähnliche Situationen können Menschen ganz unterschiedlich reagieren. Was einer als Necken und Spaß versteht, ist für einen anderen beschämend und bloßstellend.

Beim Stichwort „Beschämung“ denkt man spontan an peinliche Erlebnisse, an die man sich gut erinnert. Das und das hat der Papa, die Mama, der Onkel, der Lehrer, der Bruder, die Schwester gesagt oder getan. Man erinnert sich an konkrete Situationen und Menschen, einmalige Schamerlebnisse. Schwerer wiegen jedoch Beschämungserfahrungen, die sich, teilweise sogar traumatisch, über einen längeren Zeitraum erstrecken, z. B. Ausgrenzung in der Schulklasse oder fortgesetzte Demütigungen durch bestimmte Autoritätspersonen.

Neben diesen offensichtlichen Beschämungen gibt es andere Erlebnisse, die man nicht bewusst als Schamerlebnis wahrgenommen hat. Vielleicht war man über Jahre in der eigenen Familie täglich beschämenden Worten, Haltungen und Taten ausgesetzt. Mit diesen Schambotschaften war man seit frühester Kindheit vertraut. Sie gehörten einfach dazu. Darum hat man sich nie oder nur selten Gedanken darüber gemacht hat, dass das nicht in Ordnung war und dass es das Leben nachhaltig beeinträchtigt. Vieles war sogar traumatisch und überfordernd, sodass man es ausblenden und verdrängen musste, um in einem solchen System emotional zu überleben. Mit diesen verdeckten Beschämungen werden wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen.

Bloßstellung vor anderen

Spontan verbinden wir mit dem Wort „Beschämung“ vermutlich die Bloßstellung vor anderen; dazu fallen uns schnell konkrete Situationen ein. Eine Person, die in irgendeiner Weise für uns Bedeutung hat, behandelt uns unfair oder macht uns lächerlich. Geschieht es nur zwischen mir und dieser Person, ist es schlimm. Verletzende Worte und Handlungen sind jedoch besonders beschämend, wenn sie vor einem Publikum stattfinden, das bestenfalls schweigt, oft aber sogar Beifall spendet. Für den Beschämten fühlt sich das an wie eine öffentliche Hinrichtung: Alle Anwesenden erkennen sein Versagen, seine Schwäche, seine Unfähigkeit und erleben seine Demütigung. Man fühlt sich an den Pranger gestellt, entwürdigt und bloßgestellt. Und das nicht nur von einer Person, sondern von der ganzen Gruppe oder ganzen Gesellschaft. Besonders schlimm ist es, wenn sie über einen lachen, wie es bei Kindern oft geschieht. Scham und Schmerz vergraben sich tief in die Seelen der Opfer solcher Erfahrungen. Dazu ein Beispiel von Ilona:

Mit etwa 13 Jahren haben mich zwei Schulfreundinnen sehr beschämt. Spontan begannen sie, mich vor den vollen Schulbussen anzuspucken. Es war eklig und beschämend. Dazu kam, dass die vollen Schulbusse nur einige Meter entfernt standen. Über hundert Schüler konnten zuschauen. Mir war das so peinlich. Ich dachte, alle Zuschauer müssten überzeugt sein, dass es an mir liegen würde und ich es verdient hätte. Weil ich was falsch gemacht hätte, würde ich so behandelt. Ich war so geschockt über das verrückte Verhalten dieser Freundinnen. Und ich konnte damals nicht aus der Situation heraus.

Beschämung kann bei Kindern bis zum Grundschulalter auch absichtslos geschehen. Sie sind zu jung, um Humor und Lachen über ihre Worte oder eine Situationskomik zu verstehen. Es gibt Momente, da muss man einfach laut lachen. Und wie reagiert das Kind? Es senkt beschämt den Kopf, vielleicht rollen sogar Tränen und es verkriecht sich, denn es fühlt sich ausgelacht. Wie oft haben wir unserem Kind dann versichert: „Wir lachen dich nicht aus! Was du gesagt hast, das war einfach lustig. Darüber mussten wir einfach lachen. Du bist okay, wir haben dich lieb!“ Manchmal kam das an und entspannte das Kind, manchmal auch nicht. Zum Glück werden Erlebnisse dieser Art kaum dauerhafte negative Spuren im Leben eines Kindes hinterlassen, wenn die Eltern eingreifen und es lediglich in einer kurzen Lebensphase geschieht. Legen Eltern ihr Kind jedoch auf diese Rolle (Spaßmacher, Tollpatsch) fest, kann das Kind recht schnell ein negatives Selbstbild entwickeln.

Schläge als Erziehungsmaßnahme sind erniedrigend und zu Recht verboten, aber Erniedrigung durch beschämende Worte und Beschimpfungen gehören leider in vielen Familien zum Alltag. Da wird schnell vergessen, dass auch Kinder im Bild Gottes geschaffen sind und auch ihre Würde unantastbar ist. Wie oft hören Kinder Worte wie „Blödmann, Nichtsnutz, Faulpelz, Versager, Heulsuse“ und Schlimmeres. Wird ein Kind wiederholt so bezeichnet und dazu verächtlich angesehen, vielleicht sogar vor anderen, dann kann ihm das den Boden unter den Füßen wegziehen. Es fühlt sich zutiefst beschämt und verkannt. Verbale Herabsetzungen, Vorgeführtwerden, überzogene emotionale Strafen und Ausgrenzungen können demütigender und beschämender sein als ein kleiner Klaps auf den Po. Aus unserer Beratungsarbeit wissen wir, wie sehr Kinder darunter leiden. Manche treffen in solchen kränkenden Situationen tiefgehende Entscheidungen, die fortan das Leben negativ bestimmen.

Auch die Schule ist bekannt als ein Ort für Demütigungen. Mobbing durch Gleichaltrige ist leider weit verbreitet. Wie oft werden Schüler zur Zielscheibe des Spotts ihrer Klassenkameraden, die sich besser und stärker fühlen, wenn sie andere herabsetzen und beschämen. Oft wird dazu jemand ausgesucht, der irgendwie auffällig erscheint und wo die Täter davon ausgehen, die Mehrheit auf ihrer Seite zu haben. Gerne wird auch im Internet Rufmord betrieben, weil die Täter dort anonym bleiben können. Mobbingopfer haben es sehr schwer, sich gegen diesen Psychoterror zu behaupten. Das Schlimme ist: Vielen könnte geholfen werden, wenn sie sich trauten, darüber zu reden. Aber sie schämen sich so sehr, dass sie einfach nicht darüber reden können, oder sie meinen, ihre Schwäche zu bestätigen, wenn sie Hilfe suchen. Oft werden sie auch eingeschüchtert und bedroht. Oder sie fürchten die verständnislosen Reaktionen der Erwachsenen und mögliche Kommentare wie: „Selbst schuld“, „Wehr dich doch einfach!“, „Nimm es nicht so tragisch.“ Solche Sprüche verstärken nur die Scham und das Gefühl, ausgeliefert und verkehrt zu sein. Nicht wenige Mobbingopfer werden körperlich und psychisch krank, manche sehen als einzigen Ausweg den Suizid. Der Versager, der irreparabel unfähige Mensch, die Ursache des Anstoßes, beseitigt sich selbst, damit alle ihre Ruhe haben.

Fallen gelassen werden

Beschämend ist auch, wenn ein Kind erlebt, von Freunden oder den Eltern plötzlich fallen gelassen zu werden. Es reicht auch aus, wenn es sich fallen gelassen fühlt. Besonders schlimm ist das in der Teenagerzeit, in der Kinder den Hormonschwankungen der Pubertät ausgeliefert sind und mit sich selbst und ihren widersprüchlichen Gefühlen nur schwer klarkommen. Vor allem beziehungsorientierte Kinder sind da sehr empfindlich. Fallen gelassen zu werden beinhaltet die nonverbale Botschaft, nicht zu genügen und wertlos zu sein. Das nährt Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle. Man schämt sich und weiß eigentlich nicht so recht, wofür. Judith hat das so erlebt:

In einem kleinen Dorf der damaligen DDR bin ich mit meinem 7 Jahre jüngeren Bruder sehr behütet aufgewachsen. Äußerlich hat es mir an nichts gefehlt, aber emotional fühlte ich mich total unterversorgt und sehnte mich immer nach körperlicher Nähe. Meine Mutter war sehr perfektionistisch. Ich konnte es ihr nie recht machen und ganz oft gab sie mir das Gefühl, dass ich nicht genüge. Ich wurde ein sehr braves, ruhiges und angepasstes Kind. Als kleine Judith genoss ich es, dass mein Papa abends auf dem Sofa mit mir herumtobte. Dabei kletterte ich auf seine Unterschenkel und er stemmte mich hoch in die Luft und wirbelte mich herum. Das waren Momente, in denen ich glücklich war und mich angenommen und geliebt fühlte. Doch ich wurde größer und mein Körper fing mit ca. 10 Jahren an, sich zu verändern. Eines Tages stürzte ich mich wieder unbeschwert auf meinen Papa, um mit ihm rumzualbern. Da nahm er mich von seinen Beinen runter und erklärte mir, dass ich jetzt schon groß sei und er deshalb nicht mehr mit mir rumhopsen werde. Dieses Privileg hatte nun mein kleiner Bruder. Ich dachte: „Was stimmt nicht mit mir? Was stimmt nicht mit meinem Körper?” Eine ganz tiefe Traurigkeit legte sich über mein Leben. Ich zog mich beschämt zurück und verschloss die schmerzhaften Gefühle tief in mir. Ich wollte nicht mehr „gesehen“ werden. Eine innere Festlegung, die ich damals getroffen habe, war: „Wenn sich Erwachsensein so anfühlt, dann will ich nicht erwachsen werden!“ Durch den emotionalen Mangel in meiner Kindheit entstanden weitere innere Glaubenssätze: „Ich genüge nicht!“ – „Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden!“ – „Ich bin es nicht wert, dass sich jemand um mich kümmert.“ – „Ich darf keine Fehler machen und ich darf nicht schwach sein.“ – „Ich darf keine eigene Meinung haben.“ – „Gefühle sind unwichtig und schlecht.“ Eine Folge war, dass ich während der Schulzeit nur wenige Freunde hatte. Ich dachte, dass ich nicht so wichtig wäre und es auch nicht wert wäre, dass mich jemand mag. Hinzu kam noch die gesellschaftliche Prägung, dass man nicht sagt, was man denkt, sonst wird es gefährlich. Mit diesem Selbstschutz konnte ich meine Kindheit bewältigen.

Wir werden uns in einem späteren Kapitel anschauen, wie es mit Judith weiterging. Neben den beschriebenen Erlebnissen gibt es im familiären Kontext reichlich andere Schamerfahrungen. Manche sind offensichtlich, andere eher subtil.

Die Macht eines Familienmottos

Viele Familien haben ein bestimmendes Familienmotto. Es gehört zu ihren Grundwerten und spiegelt die Eigenarten und Besonderheiten der Sippe. Ein Familienmotto ist wie eine Richtlinie oder ein ungeschriebenes Gesetz und es wird erwartet, dass jedes Familienmitglied sich danach richtet. Wer das nicht tut, wird oft wie ein Fremdkörper behandelt und erlebt möglicherweise Sanktionen. Solch ein Familienmotto hat Macht, zuweilen liegt es wie ein Bann auf einem Familienclan. Kritische Worte, Blicke und Gesten zeigen, dass man gegen „die gute Sitte“ verstoßen hat. Zuwiderhandelnde werden vor allem durch Beschämung dazu gebracht, sich wieder einzuordnen. So werden Schamkulturen innerhalb eines Clans tradiert.

Ein Familienmotto kann zum Beispiel lauten: „Wir sind immer stark. Wir werden nicht krank, wir sind keine Schwächlinge! Wir knicken nicht ein. Und darauf sind wir stolz!“ Aber irgendwann erwischt einen doch eine Krankheit, das lässt sich nicht vermeiden. Was dann? Jetzt fällt man aus dem Rahmen, jetzt gehört man nicht mehr zu den Starken, jetzt fühlt man sich so verachtet, wie man selbst die anderen „Schwächlinge“ verachtet hat. Und das ist beschämend!

So war es auch in einer befreundeten Familie. Wer krank wurde, galt als faul. Darum trauten sich die Kinder nicht, ihre Krankheiten zu zeigen, und verheimlichten Unfälle. Kam so etwas heraus, gab es zuerst Schimpfe oder sogar Schläge, weil man so schlecht auf sich aufgepasst hatte und den Eltern nun extra Arbeit machte. Zusätzlich zur körperlichen Schwäche wurde man gedemütigt und beschämt. Also versteckten die Kinder tapfer jede Krankheit.

Welche Lehre zogen diese Kinder daraus für ihr Leben? Sie lernten, sich zusammenzureißen und so zu tun, als ob nichts wäre. Es hat etwas Gutes, nicht wehleidig zu sein, aber ernsthafte Krankheiten und Schmerzen zu ignorieren, ist keine gute Entscheidung. Eine uns bekannte junge Frau ging auch mit einer schweren Erkältung zur Arbeit, weil das Familienmotto bestimmte: „Wir Müllers halten durch. Wir sind stark!“ Natürlich steckte sie ihre Kollegen an und die waren sauer auf sie. Aber das war ihr nicht so peinlich wie der Makel, schwach und nicht leistungsfähig zu sein.

Die Verachtung von Schwäche kann sich auf intellektuelle, handwerkliche, körperliche oder sportliche Schwächen beziehen. Irgendetwas passt nicht in das erwünschte Raster. Die verinnerlichte Botschaft lautet: Habe ich in den Augen meiner Familie einen Makel, dann passe ich nicht mehr zu ihr und dafür schäme ich mich. Ich bin verkehrt, die anderen sind okay. Aber jedes Kind möchte dazugehören, es möchte bedingungslos geliebt werden und die Eltern stolz machen. Wenn Eltern und Geschwister diese bedingungslose Annahme nicht geben können, ist das ein großer Schmerz für ein Kind. Es schämt sich, anders zu sein und nicht dazuzupassen.

Vielleicht sind Sie hochsensitiv (hochsensibel) und haben als Kind die Not Ihrer Familie oder die Not der Welt wahrgenommen. Sie waren jedoch Ihren Empfindungen ausgeliefert und keiner nahm das wahr. Wie fühlten Sie sich mit dieser großen Sensibilität in einer Familie, in der die anderen sachlich und zielorientiert agierten? Hochsensible Menschen erzählen uns häufig, dass sie durch das ablehnende Verhalten ihrer Herkunftsfamilie oder durch Erlebnisse in der Schule verletzt und zutiefst beschämt waren. Sie fühlten sich verkannt, unverstanden, vorgeführt und als Fremdkörper in der Familie und der Gesellschaft generell. Ein typischer Satz vieler hochsensibler Erwachsener ist: „Ich fühle mich einfach verkehrt und nicht zugehörig.“

Es gibt noch andere Gründe dafür, dass sich jemand in seiner Herkunftsfamilie als unpassend und falsch empfindet und sich dafür schämt. Ein künstlerisch und musisch begabtes Kind hat es wahrscheinlich schwer in einer Handwerkerfamilie, ein Praktiker in einer intellektuellen Familie und umgekehrt. Immer wieder treffen wir auf Leute, die sagen: „Ich wollte nicht zu meiner Familie gehören“, oder: „Ich habe immer geglaubt, ich bin adoptiert, denn irgendwie gehörte ich nicht dazu. Ich war so anders.“ Manche haben sich für sich selbst geschämt, andere haben sich für ihre Familie geschämt.

Wenn wir Familienmuster anschauen, stellen wir fest: Scham gebiert Scham! Es gibt innerfamiliäre Schammuster, die einen Familienclan seit Generationen im Griff haben. Verstärkt werden diese Muster oft durch eine bestimmte gemeinsame religiöse Ausrichtung. Die Scham ist tief verinnerlicht und bringt in jeder neuen Generation wiederum Menschen hervor, die durch die Macht der Scham gebunden sind. Falls das in Ihrem Leben zutrifft, können Sie diesen Teufelskreis durchbrechen, indem Sie echte Heilung erfahren und die Beschämung nicht mehr verdrängen müssen.

Fremdschämen – Süchte, Streit, Krankheit, Vernachlässigung

Scham- und Unwertgefühle entwickeln sich bei vielen Kindern, wenn die Eltern häufig streiten, ein Suchtproblem oder eine beherrschende Krankheit haben oder es einfach irgendwie chaotisch ist. Vielleicht prägen Distanz, Kälte, Vernachlässigung oder gar Missbrauch den Alltag. Für solch eine Familie schämen sich viele Kinder, zu ihr würden sie lieber nicht gehören. Aber sie sind nun mal Teil des ungeliebten Systems. Und wenn dazu nach außen hin eine schöne Fassade aufrechterhalten werden muss und ein Redeverbot gilt, weil niemand wissen darf, wie es innerhalb der Familie aussieht, sind die Kinder gefangen in ihrem Elend und allein mit ihren Schamgefühlen. Sie haben keine Chance, andere Meinungen zu hören oder Anteilnahme und Trost zu empfangen, um sich zu entlasten. Christine ist eine nette ältere Dame, die sich gerne um benachteiligte Menschen kümmert. Über ihre Kindheit schreibt sie:

Ich habe mich dafür geschämt, dass es in meinem Elternhaus (eine Landwirtschaft) immer unordentlich und oft auch schmutzig war. Dazu hatten wir das älteste Haus im Dorf. Es war ziemlich heruntergekommen, die Zimmer waren sehr unmodern eingerichtet und wurden nur selten renoviert. Meine Mutter war häufig depressiv und krank und konnte deshalb oft ihre Aufgaben nicht erfüllen. So war es mir als Kind immer peinlich, wenn Freunde meines Bruders oder meine Freundinnen zu Besuch kamen. Denn bei denen zu Hause war es ganz anders: Ihre Mütter sorgten für Ordnung und Sauberkeit. Ich schämte mich zutiefst für mein Zuhause, wurde rot und versteckte mich auch oft. Ständig war meine Sorge: Was werden wohl die Leute, die Freunde meines Bruders und meine Freundinnen über unsere Familie und mich denken? Ich werde nie einen Freund bekommen, denn wenn der sieht, wie es bei uns aussieht, ist es vorbei. Dazu kam eine starke Angst, meine Mutter zu verlieren. Als ich vier war, hörte ich von ihr zum ersten Mal, dass sie bald sterben würde. Bei jeder Krankheit und jedem depressiven Schub wiederholte sie diese Aussage. Sie starb dann zwar erst mit 74, aber ihre Todesdrohung schwebte ständig über mir und so lebte ich ein sehr angstgesteuertes Leben. Aus dieser Scham und Angst heraus entwickelte ich einige fatale Glaubenssätze, die zur inneren Richtschnur meines Selbstbildes und meines Handelns wurden: „Ich muss Mutti helfen, sonst bin ich schuld an ihrem Tod!“ – „Ich kann meine Mutter nicht alleine lassen.“ – „Ich bin das Aschenputtel.“ – „Ich bin der Retter in der Not.“ – „Wenn ich anderen helfe, fühle ich mich gut.“ – „Nur wenn ich etwas leiste, ernte ich Lob und Anerkennung.“ – „Meine Eltern können stolz auf mich sein, stolz darauf, dass sie mich haben.“

Haben Sie sich je geschämt für Ihre Familie, für Ihre soziale Herkunft oder für bestimmte Eigenarten Ihres Vaters oder Ihrer Mutter? Oder haben Sie sich für den Glauben Ihrer Eltern geschämt? Für Christa war es in den 50er-Jahren sehr beschämend, in der Schule ein ungeliebtes Flüchtlingskind und in den Augen ihrer Mitschüler ein Heidenkind zu sein, da sie nicht getauft war. Aber sie fand es auch peinlich, wie eng in ihrer Familie der Glaube gelebt wurde. Es gab viele ausgesprochene und unausgesprochene Erwartungen, wie die Kinder christlicher Eltern sich verhalten und kleiden mussten, um sich von „der Welt“ abzugrenzen. So war ihre Kindheit auf verschiedenen Ebenen schambehaftet und es gab keine Möglichkeit, diesen Peinlichkeiten zu entkommen.

Vielleicht sind auch Sie in einer Familienatmosphäre groß geworden, die sie beschämend fanden? Manche Kinder können sich davor schützen, indem sie gegen das System rebellieren. Aber was macht ein sensibles, mitfühlendes Kind? Für seine Entspannung müsste sich die bedrückende Familiensituation ändern. Damit das geschieht, trifft es vielleicht schon sehr früh eine kindliche Entscheidung von großer Tragweite: „Ich werde dafür sorgen, dass hier Frieden einkehrt! Ich werde mich darum kümmern, dass es meinen Eltern und Geschwistern gut geht! Denn wenn es denen gut geht, dann geht es auch mir gut. Ich kann mich innerlich entspannen und muss mich nicht mehr für sie schämen.“

Das ist eine gute Absicht, aber kann ein Kind das leisten? Kann es dafür sorgen, dass die Eltern sich vertragen? Kann ein Kind es schaffen, dass Papa nicht mehr trinkt? Kann ein Kind sich so verhalten, dass Mama nicht mehr in Depressionen verfällt? Natürlich nicht! Aber das will es von ganzem Herzen, und in seiner kindlichen Einfalt glaubt es, das schaffen zu können. Es wird angespornt durch Sätze wie diese: „Papa hat nur getrunken, weil er sich so über euch aufgeregt hat.“ Oder: „Mama hat nur diese schlimme Migräne, weil sie mit euch so viel Arbeit hat.“ Mütter lassen manchmal gedankenlos einen Stoßseufzer los: „Wenn ihr nicht so anstrengend wärt, würde es mir besser gehen.“ Unbedacht bewirken die Erwachsenen damit, dass Kinder sich schuldig fühlen, auch wenn sie es nicht sind. Leider ist es Eltern nicht bewusst, dass sie auf diese Weise zerstörerische Botschaften von unechter Schuld und falscher Scham tief in der Seele des Kindes verankern. Die Kinder fühlen sich ungeliebt, unfähig und verkehrt, weil sie anscheinend so schlimm und rücksichtslos sind. Dabei verhalten sie sich einfach nur wie ganz normale Kinder.

Sensible Kinder schließen daraus: „Wenn ich ein besseres Kind wäre, würden die Eltern nicht so streiten, … würde Papa nicht mehr trinken, … hätte Mama nicht immer ihre Migräne. Warum nur schaffe ich es nicht? Es muss daran liegen, dass ich kein gutes Kind bin. Ich bin ein Fehler.“ Und mit diesen inneren abwertenden Schlussfolgerungen sind wir wieder bei der tiefen Scham für das eigene Sein. Die inneren Glaubensüberzeugungen „Ich bin verkehrt. Ich schaffe es nicht, ‚richtig‘ zu sein“ bringen wir später meist nicht mit Scham in Verbindung. Es ist jedoch immer Scham im Spiel, wenn wir uns überfordert fühlen und glauben, den Erwartungen anderer nicht entsprechen zu können. Dann meldet sich der Gedanke: „Ich genüge nicht.“

Vielleicht denken Sie: Das war doch normal bei uns zu Hause, ich kenne es nicht anders. Was hat das mit Scham zu tun? Ja, es war vielleicht in Ihrer Kindheit der „Normalzustand“. Aber es war nicht normal, sondern zerstörerisch, denn es war nicht die Elternschaft, wie Gott sie vorgesehen hatte. Wir beschreiben diese Zusammenhänge so ausführlich, damit Sie Ihrem Gefühl der Minderwertigkeit und Ihrer Scham auf die Spur kommen. Sie müssen das Falsche als falsch erkennen und sagen können: „Ja, es stimmt, das war unfair. Da habe ich mich tatsächlich beschämt gefühlt, aber ich war einfach nur überfordert in meinem Familiensystem.“

Gewalt und Missbrauch

Es gibt eine Art von Beschämung, an der ein kindliches Herz zerbricht, weil sie traumatischer Art ist. Dabei handelt es sich um jegliche Form von Gewalt und Missbrauch, körperlich, seelisch und auch sexuell. Sexueller Missbrauch ist äußerst demütigend und beschämend. Eine tiefe Wertlosigkeit kommt über das Kind. Oft gibt es sich selbst die Schuld dafür und ist fest davon überzeugt: „Ich bin ein schmutziges Kind, ich verdiene es nicht besser. – Wer bin ich überhaupt?“ Sexueller Missbrauch und sexuelle Belästigungen sind so tief beschämend, dass sie traumatisierend wirken. Das Kind verliert seine Integrität und lebt fortan mit einer psychischen Zerbrochenheit. Ähnliche Auswirkungen hat es, wenn ein Kind im Zorn wiederholt geschlagen wird.

Neben dem oben Beschriebenen geschieht Missbrauch auch häufig durch Beschimpfungen oder herabsetzende Bemerkungen und Sätze mit einer negativen Zukunftsprognose: „Du Blödmann, du wirst es mal zu nichts bringen“, oder: „Ach, du schon wieder … So wird nie etwas aus dir“, „Lass das, du wirst das sowieso nicht schaffen.“ Viele Eltern wollen ihr Kind durch solche Botschaften anspornen, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Es sind Sätze mit Lähmungswirkung. Die Eltern sprechen ein beschämtes Selbstbewusstsein in ihr Kind hinein, wenn sie so respektlos reden. Ihre Botschaft ist: „Du entsprichst nicht den Anforderungen meiner Ansprüche. Du bist nicht, wie du nach meiner Vorstellung zu sein hast, damit ich dich achten kann.“ Das Kind schließt daraus: „Und was bin ich dann? – Ein Nichts. Ein Versager!“ Daran kann ein Kind innerlich zerbrechen.

Mein Selbstwert entsteht durch das, was andere in mir sehen und mir spiegeln. Umgekehrt raubt es den Glauben an mich selbst, wenn andere nicht an mich glauben. Das ist zutiefst beschämend, vor allem, wenn es vor anderen geschieht. Wenn das Kind dem keine positiven Erlebnisse und Botschaften entgegensetzen kann, bleibt ihm letztlich nur die innere Überzeugung: „Ich bin schlecht, ich bin verkehrt, irgendwas an mir stimmt nicht.“ Helga hat den emotionalen Missbrauch so erlebt:

In meiner Kindheit erlebten wir Kinder andauernde Beschämung durch meinen Vater. Besonders stark war sein verbaler Missbrauch mir gegenüber. Oft fielen Sätze wie dieser: „Alle Frauen sind Hexen, sie müssten verbrannt werden.“ Ich fühlte mich in meiner Person und vor allem als Frau total entwertet. Nichts, was ich machte, war richtig, immer hatte er etwas auszusetzen. Es gab kein freundliches Wort, keine Umarmung, sondern nur Kritik. Wir wurden mit den Nachbarskindern verglichen, die in seinen Augen alles besser machten. Ich schämte mich auch dafür, wie er meine Mutter behandelte. Er war ein Frauenhasser, voller Bitterkeit und unfähig einen Funken Liebe zu zeigen. Ein „Nein“ war mir nicht erlaubt, ebenso wenig überhaupt eine eigene Meinung zu haben. Ich hatte einfach nur zu funktionieren, so wie er es wollte.

„Ich bin falsch“ war meine bestimmende Schlussfolgerung für mein Leben. Darum rankten sich andere innere Glaubenssätze: „Ich bin nichts wert“, und: „Als Frau bin ich nichts wert“, oder: „Meine Bedürfnisse gelten nichts“, „Ich bin egal“, „Ich bin selbst schuld, dass ich so behandelt werde!“

Um der ständigen Erniedrigung zu entgehen oder ihr vorzubeugen, habe ich mich selbst total aufgegeben und entschieden, ihm alles recht zu machen. Ich führte kein eigenes Leben mehr, sondern funktionierte einfach wie ein Roboter: angepasst, unterwürfig und ohne Gefühle. Ich war der Sklave der Wünsche meines Vaters. Ganz tief drinnen schlummerte eine vage Hoffnung, dass ich vielleicht doch irgendwann mal ein nettes Wort, eine ganz kleine Geste der Anerkennung von ihm erhalte. Aber diese Hoffnung erfüllte sich leider nie. Noch kurz vor seinem Tod demütigte er mich erneut zutiefst.

Das sind traumatische Erfahrungen. Da reicht es nicht aus, heilsamen Trost zu erleben. Trost lindert den Schmerz, aber die innere Zerbrochenheit muss angeschaut und behandelt werden. Dazu ist eine Traumatherapie nötig.5

Bagatellisieren

Eine andere schädliche Form von Beschämung ist das Bagatellisieren von schmerzhaften Erlebnissen und Gefühlen. Kinder haben Herzenskummer bei frühen Trennungen von den Eltern, bei Verlusten, weil etwas unfair war, bei traumatischen Erfahrungen usw. Wie oft hören sie, wenn sie weinen und Trost suchen: „Stell dich nicht so an. Das ist doch gar nicht schlimm, das geht gleich vorbei!“ Oder sogar die Drohung: „Wenn du nicht sofort aufhörst zu weinen, dann gebe ich dir einen richtigen Grund dafür!“ Eltern, die so hart reagieren, tragen meist selbst ein dickes Schampaket aus ihrer Kindheit. Sie haben selbst keinen Trost erlebt und mussten sich ihre Tränen verkneifen und sich hart machen. Heute sind sie ebenso unfähig, mit dem Schmerz und den Tränen ihrer Kinder umzugehen. So werden Scham, Härte und ein schwacher Selbstwert über Generationen weitergegeben.

Schauen wir uns dazu noch einmal die Geschichte von Klaus an. Er hatte mit einem gefundenen Draht den Zaun unter Strom gesetzt. Wie denken Sie darüber? War der Junge schuldig geworden? Hatte er gesündigt? War es Rebellion? Hatte er etwas zerstört? – Nein, er hatte einfach etwas Unüberlegtes getan, wie es experimentierfreudige elfjährige Jungs schon mal machen. Aber irgendwie war er unsicher, ob das okay war, und hatte ein schlechtes Gewissen. Hätte der Gutsverwalter das wissbegierige Ausprobieren des Kindes gesehen, hätte er ihn einfach aufklären können und es wäre nichts geschehen.

Schauen wir uns nun Klaus' Vater an: Er kommt heim und schlägt wortlos so fest zu, dass der Junge zu Boden geht und kurz das Bewusstsein verliert. Und fortan schweigt der Vater über das ganze Geschehen. Wenn mir als Vater so etwas passiert wäre, hätte ich mich dafür unendlich geschämt und meinen Sohn um Vergebung gebeten. Aber Klaus' Vater schweigt. Warum handelt er so und schweigt?

Ich denke, er konnte nicht darüber reden, weil er sich sehr für seinen Schlag geschämt hat. Wir wissen ja, Scham verschlägt einem die Sprache. Und damals gab ein Vater es selten oder nie zu, wenn er seinem Kind Unrecht getan hatte. Sein Handeln zeigt außerdem, dass der Vater innerlich viel Wut hatte. Woher kam diese Wut? Wahrscheinlich war er selbst tief beschämt. Darum war er ein „Richtigmacher“ geworden, ein Mensch, dem die Anerkennung von übergeordneten Personen ganz wichtig ist. Aber nun hatte der Gutsverwalter eine Schwäche beim Vater aufgedeckt: Der Sohn hatte nicht so ordentlich funktioniert, wie es dem Vater angenehm war. Der Vater fühlte sich ertappt und als Versager. Seine eigene Scham wurde aktiviert, er fühlte sich der Bewertung des Verwalters ohnmächtig ausgeliefert. Vor dem wollte er doch gut dastehen! Das machte ihn unendlich wütend auf den Sohn, der ihm diese Beschämung eingebrockt hatte. Und so reichte er mit seinem unbedachten Schlag sein eigenes Scham- und Wutpaket weiter an seinen Sohn Klaus und beschädigte ihn damit in seiner Würde und seiner gesunden Identität.

So etwas geschieht in sehr vielen Familien. Scham gebiert Scham, es sei denn, wir durchbrechen diesen Teufelskreis, indem wir über unsere Scham reden und Befreiung erleben. Auch Klaus hat das familiäre „Schampaket“ weitergereicht an seine Kinder. Aber er konnte auch vieles verbessern, weil er innere Heilung erlebte.

Welche Person in dieser Begebenheit hat echte Schuld auf sich geladen? Ich denke, es war nicht der Junge. Der hatte zwar ein schlechtes Gewissen, weil er ahnte, dass sein Drahtexperiment nicht ganz okay war. Aber der Vater wurde in seiner Unbeherrschtheit und in seinem Schweigen richtig schuldig an seinem Sohn. Ebenso auch die Mutter, die ebenfalls schwieg und Klaus in seinem Schmerz allein ließ. Diese Geschichte macht wieder erschreckend deutlich: Oft trifft ein Kind keine echte Schuld, aber die Eltern sorgen dafür, dass es sich zutiefst schuldig fühlt. Ihre Kinder werden zur Projektionsfläche ihrer eigenen Versagensgefühle und ihrer unbewältigten Scham. So werden Scham und Minderwertigkeit von Generation zu Generation wiederholt.

Wer sich beschämt und wertlos fühlt und nicht an sich glauben kann, ist leider auch immun für Wertschätzung und ehrliche Komplimente anderer Menschen. Das, wonach das Herz sich zutiefst sehnt, das, was das Ich aufwerten und den Selbstwert stärken könnte, kann man einfach nicht annehmen, wenn es einem begegnet. Aufrichtig gemeinte Worte perlen ab und finden innerlich keine positive Resonanz. Auch die Liebe und Annahme Gottes kommen nicht an. Die innere Überzeugung, unwert und falsch zu sein, ist ein Bollwerk, das das Gute nicht hereinlässt. Man hört die Worte und möchte sie glauben, aber das zweifelnde Herz bleibt unberührt und leer. Darum ist es für viele Christen so schwer, Gottes befreiende Liebe mit dem Herzen zu erfassen und zu glauben, dass sie wertvoll sind, trotz ihrer Fehlerhaftigkeit. Eine Mitarbeiterin erzählt:

Jahrelang konnte ich keine Komplimente annehmen, aber langsam lerne ich, mich zu bedanken, wenn mir jemand etwas Nettes sagt. Warum war das so?

„Lob macht stolz“, das war eine Grundüberzeugung meiner Eltern. Wir Kinder waren fleißig, hörten aber nie ein gutes Wort. Immer fand Mutter einen Fehler oder sie verglich uns mit der Schwester, die diese Sache viel besser machte. In den Augen meines Vaters waren wir Mädchen lediglich „dumme Dinger“. Das war sehr entwürdigend, denn „Dinger“ haben ja keine Menschenwürde. Das Verhalten meiner Eltern sollte Ansporn sein, aber es war einfach nur beschämend und entmutigend. Entsprechend haben wir Töchter alle keinen guten Selbstwert entwickeln können und spielen bis heute Komplimente herunter. Für mich war auch eine klare Schlussfolgerung, dass Gott mich in meiner Unvollkommenheit nicht gebrauchen kann, es sei denn, ich strenge mich furchtbar an. Aber ich habe Heilung erlebt.

Überhöhte fromme Ansprüche

Makel und Scham werden vertieft, wenn Kinder von ihren Eltern damit konfrontiert und eingeschüchtert werden, wie aus Gottes Sicht ein „gutes Kind“ funktionieren soll. Vielleicht sind auch Sie in einer Familie groß geworden, wo es strikte Regeln gab, die mit der Bibel oder dem Willen Gottes begründet wurden. Es geht dabei oft um Äußerlichkeiten, um Vorschriften, wie man sich zu kleiden und zu schminken hätte. Teenager, die gerne Grenzen überschreiten und Neues ausprobieren, werden von Erwachsenen ermahnt: „Aber Kind, Gott hat das doch nicht gerne. Er ist jetzt ganz traurig über dich.“ Viele Eltern verhalten sich so aus der Angst heraus, vor ihren Mitchristen als Versager dazustehen und womöglich zum Gegenstand von Gerede zu werden, sollten ihre Kinder nicht den frommen Ansprüchen ihrer Familien-Sippe oder ihrer Kirche genügen. Diese beschämende Erfahrung wollen sie unbedingt vermeiden. So legen sie die eigene Schamangst auf die nächste Generation und vermitteln ein sehr fragwürdiges Gottesbild. Viele ältere Christen leiden bis heute unter der Scham, vor Gott unwürdig zu sein, und müssen sich ständig anstrengen, diesem strengen, strafenden Gott zu gefallen. Sie wissen nie, ob der mit ihnen zufrieden ist, denn sie fühlen sich ständig unwürdig und vererben diese Haltung an ihre Kinder.

Als unsere Kinder im Teenageralter waren, merkten wir, dass es für sie eine Überwindung war, mit ihrer Teenagergruppe auf die Straße gehen zu müssen, um dort fromme Lieder zu singen und mit Leuten zu reden und zu beten. Sie fanden es zwar interessant, aber gleichzeitig war es ihnen sehr peinlich. Es hätten ja auch Klassenkameraden vorbeikommen können … Diese Erlebnisse brachten sie eher auf Distanz zum Glauben. Irgendwann haben wir ihnen erlaubt, dabei nicht mehr mitmachen zu müssen. Aber mit Begeisterung waren sie dabei, wenn wir in den Sommerferien bei Team.F-Familienwochen durchführten und sie dort mitarbeiten konnten. Es ehrte sie und forderte sie heraus, dass wir ihnen vertrauten und sie als Mitarbeiter ernst nahmen. Das gab ihnen innere Stärke. Als sie dann älter waren, fanden sie eine Gruppe, die niveauvolle, interessante Straßeneinsätze machte. Es war ihnen nicht mehr peinlich, denn hier konnten sie begeistert ihre Gaben einbringen und brauchten sich für die Auftritte nicht mehr zu schämen.

Sensible Kinder

Vor allem sensible Kinder fühlen sich recht schnell beschämt, ebenso Kinder, die einen körperlichen Makel haben. Anstatt diese Kinder besonders zu schützen, werden gerade sie oft entwertet und beschämt. Das geschieht oft unbedacht, aber es hinterlässt tiefe Spuren. Anlässe können sein, dass sie zu viel oder zu schnell weinen oder dass sie aus Unsicherheit bestimmte Dinge nicht mitmachen oder dazu länger brauchen. Oder sie haben Probleme, das hohe Lebenstempo der anderen mitzugehen. Wie oft führen Eltern solche Kinder vor und beschämen sie in der irrigen Annahme, sie auf diese Weise abhärten zu können. Das bedeutet für sie jedes Mal die Botschaft: „Du bist verkehrt und damit weniger wert als wir anderen. Mit dir kann man nicht richtig weiterkommen. Du störst!“ Und dafür schämt sich ein Kind, denn es möchte mithalten und dazugehören.

Etliche sensible Männer haben uns berichtet, dass sie in der Kindheit für ihre Feinfühligkeit verachtet wurden und der unzufriedene Vater versucht hat, sie durch bestimmte Maßnahmen „abzuhärten“. Solche schambehafteten Erfahrungen können der Grund sein, dass man sein eigenes Geschlecht ablehnt und damit in eine tiefe Identitätskrise kommt. Sensible Menschen bleiben bisweilen ihr Leben lang in dieser Schamwolke gefangen.

Noch einmal: Selbst wenn ein Kind keine Schuld trifft, können Eltern dafür verantwortlich sein, dass es sich schuldig fühlt. Die Kinder sind der „Blitzableiter“ für ihren Frust, ihr eigenes Versagen und ihre Scham. Die Kinder werden fälschlicherweise zum Sündenbock gemacht und tiefe Scham bedeckt fortan ihr Sein.

Dem eigenen Anspruch nicht genügen

Schamgefühle können auch „hausgemacht“ sein, indem man sich mit anderen vergleicht. Im Alter von sieben Jahren ist die Gehirnentwicklung so weit, dass Kinder Scham empfinden können, wenn sie sich im Vergleich mit Klassenkameraden und Freunden als mangelhaft und weniger kompetent wahrnehmen. Kinder wollen von anderen Kindern als gleichwertig angesehen werden, sie wollen „in“ sein und dazugehören. Sie haben bestimmte Maßstäbe, an denen sie sich ausrichten: Sie wissen genau, wie sie aussehen oder sich kleiden müssten oder welche Eigenschaften sie haben müssten, um ebenbürtig zu sein. Sie schämen sich für alles, was sie bei sich als Makel empfinden und wovon sie denken, dass andere sie deshalb nicht mögen können, selbst wenn die keine negativen Kommentare abgeben.

Kürzlich hörte ich im Radio von einer Untersuchung, die zeigte, dass vor allem sportliche Fähigkeiten bei Kindern höher im Kurs stehen als andere Qualitäten. Sportlich nicht mithalten zu können, wird als beschämender empfunden als schlechte Noten in anderen Fächern. Wenn sie ihrem Idealbild nicht genügen, setzen Kinder sich selbst in Gedanken und auch mit Worten herab und verurteilen sich selbst für ihr Anderssein, das sie als Schwäche sehen. Das ist oft auch bei Geschwisterkindern zu beobachten, wenn schon im Kindergartenalter die Jüngeren sich mit den Älteren vergleichen und unbedingt mit ihnen mithalten wollen, es aber einfach nicht schaffen, weil sie zu jung sind. Besonders ehrgeizige Kinder empfinden das als beschämend. Ihre innere Überzeugung, weniger wert zu sein, und ihre entsprechenden Reaktionen im Alltag können Eltern manchmal zur Verzweiflung bringen. Es ist sehr schwer, Kindern mit diesem selbst gemachten inneren Abwertungsprogramm deutlich zu machen, dass sie auch dann wertvoll und geliebt sind, wenn ihnen nicht alles gelingt. Zum Glück ist bei den meisten Kindern diese Selbstbeschämung eine vorübergehende Episode. Aber bei manchen brennt sich die eigene Abwertung in die Seele ein und nährt die Minderwertigkeit und die Schamangst, in Gruppen negativ aufzufallen.

Fragen zur Selbstreflexion

• Was habe ich als beschämend erlebt? Welche Gefühle sind mit der Situation verbunden?

• Was waren die Folgen für mein Leben?

» Was habe ich damals in der Situation spontan gedacht und gefühlt?

» Welche inneren Glaubenssätze über mich selbst bestimmen mich seitdem?

» Welche inneren Glaubenssätze über andere habe ich gebildet?

» Welches Verhalten habe ich mir für die Zukunft vorgenommen?

» Wozu habe ich mich entschieden, um diesen Makel auszugleichen?

• Warum konnte ich mit niemandem darüber reden?

• Für welche Situation habe ich schon Trost erfahren, welche ist noch offen?