Ich schäme mich, und mein Gewissen quält mich. Die Schuld meiner Jugend hat mich in Verruf gebracht. – Jeremia 31,19
Es gibt Scham- und Unwertgefühle, die von den Eltern nicht bewusst vermittelt wurden. Häufig sind sie auf diese Weise entstanden:
• Ein Kind übernimmt unbewusst die Schamgefühle und Minderwertigkeit der Eltern.
• Kinder schämen sich für ihre Eltern oder ihr Zuhause, wenn sie es mit anderen vergleichen.
• Ein Kind erlebt im Familiensystem überfordernde Situationen oder Erwartungen, denen es nicht genügen kann. Den Eltern ist nicht bewusst, dass ihre Kinder sich dann oft unzulänglich fühlen und sich dafür schämen.
Diese Schamgefühle können lebenslang das Denken, Fühlen und Handeln einer Person bestimmen. Manche erleben diese Scham als eine Art „Grundmelodie ihres Lebens“, deren Ursprung sie nicht kennen. Falls Sie davon betroffen sind – vielleicht helfen Ihnen die folgenden Aspekte und Geschichten, Ihren diffusen Schamgefühlen und Ihrem Minderwertigkeitsempfinden auf die Spur zu kommen.
Es ist heute unbestritten, dass Ungeborene und Kleinkinder starke Gefühle der Mutter wie Angst, Schmerz, Trauer, Zorn, Sorge, Unsicherheit, Überforderung, Scham, Freude etc. wahrnehmen und sogar verinnerlichen. Viele Tests belegen das. Das Kind spürt auch, wie die Mutter über sich selbst und über das Kind denkt, es spürt, ob es willkommen oder unerwünscht ist. Diese Informationen werden über das Bindungssystem zwischen Mutter und Kind weitergegeben und im Unbewussten gespeichert. Aus dieser mütterlichen Quelle kann auch eine tiefe Grundscham stammen, die ein Kind ein Leben lang begleitet.
Manche Mütter schämen sich für ihre Schwangerschaft. Dafür kann es unterschiedliche Gründe geben. Vielleicht wurde das Kind unehelich gezeugt oder sie hat schon viele Kinder und ist erschöpft oder es gibt einen finanziellen Engpass und das Kind ist eine große Belastung oder … Und nun hat sie Angst vor den Reaktionen der Familie und dem Gerede der Leute.
Ein älteres Ehepaar, Hans und Renate, kamen zu uns. Sie litten darunter, dass Renate im Gottesdienst grundsätzlich in der letzten Reihe sitzen wollte, während Hans gerne vorne saß. Das war für seine Frau jedoch nicht auszuhalten, alles in ihr sträubte sich dagegen. Ihnen war deutlich geworden, dass es dafür einen tieferen Grund geben musste. Zunächst waren wir ratlos, wie wir damit umgehen sollten. Aber wir wussten: Für jede Frucht gibt es eine entsprechende Wurzel. Und so beteten wir, dass der Heilige Geist die Wurzel von Renates Scham zeigen möge, und fragten auch nach vorgeburtlichen oder frühkindlichen Erlebnissen. Renate kam eine Erinnerung, die sie zögerlich mitteilte. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie sich nicht getraut habe, in der Not der Nachkriegszeit ihre erneute Schwangerschaft zu zeigen. Auch nach der Geburt versteckte sie ihre Tochter so lange wie möglich aus Scham und Angst vor dem Gerede der Nachbarn. So wie die Mutter sie damals versteckt hatte, versuchte Renate sich unsichtbar zu machen, denn es gab diese Botschaft tief in ihr: „Ich darf nicht gesehen werden.“ Wir beteten für sie und sprachen ihr im Namen Jesu zu, dass sie gewollt und willkommen sei in dieser Welt. Die Botschaft kam bei der „kleinen“ Renate an und der Drang, sich zu verstecken, war gebrochen. Sie wusste nun, dass sie sein darf und sich zeigen darf, und hatte keine Probleme mehr, vorne zu sitzen.
In unserer Ausbildung lernten wir Brigitte kennen, eine liebe, eher unauffällige Frau und treue Christin. Ihr war nicht bewusst, dass ihr Leben voller Scham war. Sie hatte sich so sehr an ihre vermeintliche Minderwertigkeit gewöhnt, dass es ihr normal erschien. Durch den Schamvortrag begann sie, die Zusammenhänge ihres Lebens zu verstehen. Im Rückblick beschreibt sie es so:
Bei mir begann die ganze „Schamgeschichte” bereits im Mutterleib. Ich bin unehelich gezeugt worden, und das war damals noch eine große Schande. Meine Mutter hat mir erzählt, wie sehr sie sich selber dafür geschämt habe. Lange Zeit hat sie versucht, die Schwangerschaft zu verheimlichen, und ihren Eltern eine Nierenerkrankung vorgespielt, wegen der sie nun häufiger zum Arzt musste. Trotzdem bestätigte sie mir immer wieder, dass sie sich sehr auf mich gefreut hat, aber ihre Angst vor der Entdeckung der Schwangerschaft und die Scham darüber haben meine eigene Freude getrübt und überlagert, denn ich habe sie nicht wahrgenommen. Erst in der Team.F-Seelsorgeschule ist mir durch die Lehre über Scham deutlich geworden, dass das ungeborene Kind die Gefühle der Mutter wahrnimmt, als wären es seine eigenen, und dann auch darauf reagiert. Bis dahin hatte ich mich immer gewundert, dass fast alle meine Kinderfotos ein sehr trauriges Mädchen zeigen, das ängstlich und sorgenschwer in die Welt blickt. Mein Denken über mich war geprägt von großer Wertlosigkeit.
Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, dass mich überhaupt jemand mochte. So habe ich mein Lebensrecht verdient mit „Gutsein”. Ich wollte möglichst keinem ein Problem bereiten, ich wollte nie auffallen und mir Anerkennung durch gute Leistungen erarbeiten. Das führte dazu, dass ich ununterbrochen für andere da war und bald selber nicht mehr wusste, was mich glücklich machte. Mein Glück war es, anderen Freude zu bereiten und gebraucht zu werden. Das mag gut klingen, aber ich wusste schließlich nicht mehr, wer ich selbst war und was meine eigenen Bedürfnisse waren.
Da es an die vorgeburtliche Zeit keine bewussten Erinnerungen gab, habe ich den Vorschlag von Christa aufgegriffen und in einer Zeit der Stille Gott gefragt, welche Sätze dieses kleine Mädchen damals verinnerlicht hat. Zunächst hatte ich ein Bild vom Bauch meiner Mutter. Darin zusammengekrümmt, den Kopf zwischen den Knien vergraben, sah ich mich als kleines Mädchen sitzen. Und dann kamen nach und nach folgende Sätze: „Mama, bitte entschuldige, dass ich da bin.” – „Ich schäme mich so sehr dafür, dass ich dir solchen Kummer mache.“ – „Ich will dir nicht zur Last fallen.” – „Sicher bin ich für dich eine große Enttäuschung.” Ich spürte dann, wie ein großer Schmerz in mir hochkam, und fühlte mich sehr einsam, unsicher und voller Angst.
Wie Brigitte Heilung von ihren Schamgefühlen erfuhr, beschreiben wir in einem späteren Kapitel.
Wir haben in unserer Beratung und den Seminaren häufig Teilnehmer, die sich in ihrer Haut unwohl fühlen. Irgendetwas scheint verkehrt zu sein. Sie haben den Eindruck, sich innerlich verbiegen zu müssen, um angenommen zu sein oder eine Daseinsberechtigung zu haben. Oft ist die Ursache, dass ihr Geschlecht nicht das war, was die Eltern sehnlichst erwartet hatten. Denn ein Kind spürt bereits im Mutterleib, ob es der erwartete Junge oder die erwartete Tochter ist oder ob es „verkehrt“ ist und eine Enttäuschung für die Eltern sein wird.6 Als „verkehrte Person“ geboren zu werden, wird als beschämend empfunden. Diese Menschen stehen oft unter dem Eindruck, sich ihr Lebensrecht verdienen und ihre „Fehlerhaftigkeit“ durch besondere Leistungen ausgleichen zu müssen. Wenn wir mit ihnen über ihre Geburt und diesen frühkindlichen Eindruck gebetet haben, verlor sich fast immer das unbehagliche Gefühl und sie konnten ein ganzes Ja zu sich finden.
Diese Beispiele zeigen, wie sich ein schambesetzter Lebensstart auswirken kann. Wir haben viele ähnliche Geschichten gehört und mit den Menschen über ihre vorgeburtlichen und kindlichen Schamerfahrungen gesprochen und gebetet und dabei erlebt, wie Gott Heilung von der Scham schenkt und den Menschen Trost gibt. Das geschieht auch in den Team.F-Seminaren „Versöhnt leben – Beziehungen klären“. Immer wieder erzählen die Mitarbeiter begeistert, wie Gott die Würde der Ratsuchenden wiederherstellt und Daseinsberechtigung und Heilung einer gebrochenen Identität schenkt.
Die Botschaft, als Junge oder als Mädchen „verkehrt“ zu sein, kann auch in der späteren Kindheit vermittelt werden. Lena hat es so erlebt:
In unserer Familie waren wir fünf Mädchen. Mein Vater hat immer wieder negativ über Frauen geredet und sie durch blöde Witze und anzügliche Bemerkungen herabgesetzt und beschämt. Bei jeder neuen Schwangerschaft hatte er auf einen Sohn gehofft. Der arme Mensch schien gestraft zu sein, aber eigentlich war er gesegnet mit fünf hübschen, fleißigen Töchtern. Durch seine Bemerkungen vermittelte er uns ständig, dass wir das falsche Geschlecht hätten und nicht so leistungsfähig wären wie Söhne und Männer, die er doch besser hätte gebrauchen können. Unser Selbstwert war entsprechend gering.
Viele Eltern bringen ihre Kinder durch doppelte Botschaften in eine Zwickmühle und damit in eine ausweglose Situation. Wenn die Botschaft der Eltern an ihre Kinder nicht eindeutig ist, sondern sich situationsbezogen ständig verändert, sind Kinder überfordert. Sie sitzen in der Falle; wie sie sich auch entscheiden, es ist verkehrt. Was hat das mit Scham zu tun? – Kinder wollen den Eltern gefallen, wollen angenommen sein. Aber wenn sie ständig in der Zwickmühle stecken und jede Handlung falsch sein kann, ist das verwirrend und lähmend. Es bleibt für solch ein Kind nur die Schlussfolgerung: „Ich bin verkehrt, denn ich kann es ihnen nie recht machen, egal wie ich mich entscheide.“ Es fühlt sich unzulänglich, und dafür schämt es sich. Folgende Erfahrungen sollen das Dilemma illustrieren. Zuerst lassen wir Karin zu Wort kommen:
Schon als kleines Mädchen gehörte Beschämung zu meinem Alltag. Doch erst als Erwachsene verstand ich durch Beratung und Therapie, wie meine Reaktionen darauf mein Leben beeinflusst haben und welche Macht die früher getroffenen Entscheidungen noch Jahrzehnte später hatten.
Als ich sechs Jahre nach meiner Schwester geboren wurde, war der Platz im Herzen meiner Mutter bereits durch sie besetzt. Ich habe versucht, ihn mir durch „gutes Benehmen“ zu verdienen, und wenn das nicht ging, wenigstens keine Ablehnung und Abwertung zu bekommen. Mit aller Kraft habe ich versucht, mich anzupassen und für sie eine gute Tochter zu sein, um die gleiche Liebe wie die ältere Schwester zu erhalten. Meiner Mutter war es sehr wichtig, dass wir Kinder dem damaligen Schlankheitsideal entsprachen. Das erklärt den ersten Satz, den sie bei meiner Geburt sagte: „Oh, wat ne Dicke!“ Diese Aussage zog sich in allen abwertenden Varianten durch meine Kindheit und Jugend. Ich schämte mich für mein Äußeres! Ich mochte mich nicht zeigen und wollte nicht, dass jemand mich anschaut und sich seinen vermeintlichen Teil denkt. In den Augen meiner Mutter war ich falsch – falsch als ganze Person! Dies wurde meine Überzeugung, meine Identität, mein Glaubenssatz. Erst recht, als ich begriff, dass sie ständig über übergewichtige Menschen lästerte, mich zu Hause in der Regel mit besonders dickmachenden Lebensmitteln ernährte, mich dann aber wieder in der Öffentlichkeit für mein Aussehen bloßstellte. Dies führte in mir zu einer tiefen Verwirrung.
Susanne, eine sensible Frau, hat diese Erfahrung mit doppelten Botschaften gemacht:
Meine Familie hatte sich nach dem Krieg mit viel Fleiß durch eine Landwirtschaft eine Lebensgrundlage geschaffen. Das war nur möglich, weil alle mit anpackten, auch wir Kinder. Meine Mutter lebte sehr aufopferungsvoll und ließ uns Kinder das spüren. Meine Eltern erkannten auch, dass ich das Zeug hatte zu lernen und zu studieren. So schickten sie mich auf eine weiterführende Schule und erwarteten, dass ich dort gute Leistungen brachte, damit es sich auch lohnte. Wenn ich nun lernen musste, während die Geschwister und die Eltern auf dem Feld schufteten, gab es oft abfällige Bemerkungen wie: „Du sitzt ja nur herum und schaust in deine Bücher, während wir uns draußen abplagen.“ Das brachte mich als Kind in eine innere Zwickmühle. Auf der einen Seite war ich verpflichtet, einen guten Schulabschluss zu schaffen, auf der anderen Seite gab es abfällige Bemerkungen und Kritik, wenn ich genau diesem Auftrag nachkam und lernte. So fühlte ich mich ständig schuldig, weil meine Mutter so viel Arbeit hatte und ich ihr nicht genug helfen konnte. Weil es immer irgendwie verkehrt oder falsch war, egal wozu ich mich entschied, und ich keine praktikable Lösung fand, diesen Zwiespalt zu überwinden, kam ich zu der Schlussfolgerung: „Ich bin verkehrt, ich tauge nicht.“ Und dafür habe ich mich geschämt und mich selbst für meine Unfähigkeit verurteilt.
Die innere Zerrissenheit zwischen zwei gegensätzlichen Erwartungen oder Aufträgen konnte ich nie auflösen. Ich habe ein Studium abgeschlossen und liebe meinen Beruf. Aber jeder Tag kostet mich sehr viel Kraft. Ich habe bis heute große Probleme, eine Entscheidung zu treffen, weil ich immer unsicher bin, was richtig ist. Ich wäge die Argumente lange ab, und wenn ich dann meine Entscheidung endlich getroffen habe, hinterfrage ich sie anschließend wieder und zermartere mir das Hirn, ob ich nicht doch hätte anders entscheiden sollen. Was ich auch mache, es fühlt sich immer irgendwie verkehrt an. Ständig fühle ich mich schuldig, nicht das Richtige getan zu haben oder zu tun.
Diese sensible Frau und aufrichtige Christin konnte den Erwartungen der Eltern nie genügen und verband damit Schuldgefühle. Ihr inneres Dilemma wollte sie ständig durch Schuldbekenntnisse und Buße auflösen. Aber sie wurde nicht frei, weil keine echte Schuld vorlag, sondern eine Verwirrung, die das Kind überforderte. Auch hier hatte das Verhalten der Eltern bewirkt, dass Susanne sich schuldig fühlte, ohne schuldig zu sein. Susanne war jedoch beschämt, denn ihre innere Überzeugung war: „Ich bin ein Versager, ich bin verkehrt.“ Diese Sätze sind der typische Hinweis auf Scham durch Überforderung. Sie war erleichtert, als sie diesen Zusammenhang verstand.
Es gibt noch andere Botschaften von Eltern und Großeltern, die sich nett anhören, aber Scham auslösen. Dazu gehören manipulierende Aussagen wie: „So etwas macht doch mein liebes Mädchen (oder mein guter Junge) nicht.“ – Das hört sich erst mal gut an, oder? „Du bist doch mein liebes Mädchen“ klingt wie eine Wertschätzung. Aber dieses „liebe Mädchen“ (oder „mein guter Junge“) darf keinen eigenen Willen haben und nicht sie selbst sein. Der entsprechende Tonfall und die Blicke der Erwachsenen signalisieren eindeutig: „Ich weiß, wie du sein solltest! Tue, was ich will! Wehe, du triffst eigene Entscheidungen und du enttäuschst mich! Du weißt doch, ich habe dich sooo lieb – solange du richtig funktionierst!“
Das Kind hört eine doppelte Botschaft und spürt: „Wenn ich ich selbst bin und tue, was ich gut finde, dann setze ich damit die Liebe der Eltern oder der Großeltern aufs Spiel. Dann bin ich nicht mehr ihr erwünschtes ‚liebes Kind‘, sondern eine Enttäuschung. Und dafür schäme ich mich, dass ich es nicht schaffe, die gute Tochter oder der gute Sohn zu sein, den sie verdienen – bei allem, was sie für mich tun!“ Um nicht beschämt dazustehen, ordnen sich die Kinder oft dem Willen des Erwachsenen unter und verzichten auf ihre eigene Meinung und die Äußerung ihrer Bedürfnisse. Auch hier steckt das Kind in einer Zwickmühle, die es alleine nicht auflösen kann. Und da es für dieses Dilemma keine Lösung findet, schämt es sich dafür. Die Folge kann eine tiefe Verunsicherung sein, sodass die betroffene Person nicht mehr weiß: Bin ich richtig? Wann bin ich richtig? Wenn ich auf die Erwartungen der Erwachsenen eingehe oder wenn ich tue, was ich mir vorgenommen habe? Entweder brechen sie irgendwann mit diesen verwirrenden Erwachsenen oder sie leben äußerlich angepasst, aber innerlich mit tiefem Zorn.
Wieder sehen wir: Auch wenn ein Kind nicht schuldig ist, sorgen die Erwachsenen, die Eltern, die Lehrer, die Kameraden dafür, dass es sich schuldig fühlt. Man fühlt sich schuldig und weiß nicht, warum. Und dann schämt man sich, weil man anscheinend zu dumm ist, die Ursache zu erkennen. Kennen Sie das? Das ist eine wichtige Botschaft für alle Beschämten: In bestimmten Situationen haben andere dafür gesorgt, dass Sie sich so schlecht fühlen! Sie haben vielleicht durch Ihr Verhalten oder auch nur durch Ihre bloße Anwesenheit den Anlass gegeben, aber es gab keinen echten Grund! Sie wurden schuldlos schuldig gesprochen! Also blieb nur die kindliche Schlussfolgerung: Etwas an mir ist ganz falsch. Oder: ICH BIN verkehrt! Mit diesen Glaubenssätzen hüllen Sie sich in eine Schamwolke ein, die Sie ein ganzes Leben begleiten kann.
Falls Ihnen solche Situationen einfallen, dann sprechen wir Ihnen zu: „Sie waren damals einfach nur ein ganz normales Kind! Sie haben sich ganz normal verhalten! Sie waren okay! Nur nach der verdrehten Ansicht gewisser Erwachsener durften Sie so nicht sein. Aber deren Sichtweise war verkehrt und unangemessen! Ihre kindlichen Gefühle und Ihre Sicht der Dinge waren richtig!“
Über manchen Familien liegt eine Wolke von Scham wie eine schwere Decke, nicht greifbar, aber ständig präsent. Man merkt es daran, dass man Probleme hat, persönlich offen zu reden, über sich selbst, über die Familiengeschichte oder über bestimmte Verhaltensmuster. Gewisse Themen oder Fragen sind einfach tabu. Man bewegt sich immer nur an der Oberfläche. Diese Haltung kann auch einem Familienmotto entspringen. Durch die nonverbalen Botschaften der Eltern und Großeltern weiß jeder, wie weit man gehen darf. Es befindet sich ein „Elefant im Wohnzimmer“, aber keiner redet darüber. Man spürt, es gibt etwas zu verbergen. Etwas, was schon länger zurückliegt und für die Familie so ungeheuerlich, so peinlich und beschämend war, dass entschieden wurde, nie darüber zu reden.
Das Muster finden wir, wenn es bei den Vorfahren etwas zu verbergen gibt wie Gefängnisaufenthalte, Morde und Selbstmorde oder tragische Unglücke, finanziellen Bankrott und peinliche Krankheiten. Oder dass der angesehene Vater oder Großvater ein Nazi war. Man redet nicht über uneheliche Geburten, Abtreibungen, außereheliche Beziehungen, Inzest und sexuellen Missbrauch. Man will sein Gesicht wahren und die Schamangst befiehlt: Das war so peinlich, das muss unbedingt verheimlicht werden, das darf nie nach außen dringen! Dieses Thema oder diese Person ist tabu, wir reden nicht darüber. Manchmal wurde von den Betroffenen sogar ein Schweigegelübde gefordert oder man hat es gemeinsam beschlossen. In manchen Familienkreisen gibt es bestimmte Personen, die eine Wächterfunktion haben und kontrollieren, dass niemand etwas ausplaudert oder unangenehme Fragen stellt.
Das Familiensystem hat sich eine Regel oder ein Motto gegeben: Nach außen müssen wir stark und perfekt erscheinen. Keiner darf etwas Negatives erzählen, was an der Ehre der Familie kratzt. Eltern meinen, ihre Kinder vor den beschämenden Fakten bewahren zu müssen, aber das gelingt nicht. Diese Art Scham wird vor allem durch beredtes Schweigen an die nächsten Generationen weitergegeben. Schweigen bewirkt das Gegenteil von dem, was man eigentlich möchte. Nicht bewältigte Scham vergräbt sich tief und bringt Menschen hervor, die durch ihre Macht gebunden sind. Wir sprechen hier auch von einem Bindungssystemtrauma7, das vererbt wird. Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden?
Würde man die Sache offen machen, könnte man das Problem anpacken und bewältigen. Manche verweigern sich dem und sagen, es sei eine Beschmutzung der Familie, wenn man die Probleme der Vergangenheit anschaut und darüber redet. Aber wenn nicht geredet wird, können Familienmitglieder innerlich daran zerbrechen und psychisch krank werden.
Hilfe gibt es z. B. durch Familienaufstellungen, die diese Geheimnisse und verborgenen Dynamiken deutlich machen. Es ist erschreckend, was da manchmal zutage kommt. Aber es ist auch sehr heilsam, wenn man die Familienschuld und die Familienscham endlich benennen kann. Als Christen können wir dann erleben, wie durch Jesus Vergebung und Heilung geschieht.
Es ist erstaunlich, wie viele Deutsche kein gesundes Selbstbewusstsein haben, wenn es um die eigene Nation geht. Wie geht es Ihnen damit? Können Sie mit innerer Überzeugung sagen: „Es ist gut, dass ich Deutscher bin! Ich freue mich über mein Land. Wir leben hier unter so großem Segen. Und wie die Schweizer es tun, könnte ich diese Überzeugung auch durch eine Deutschlandfahne in meinem Vorgarten zeigen“? Was empfinden Sie bei diesen Sätzen? Können Sie innerlich zustimmen oder spüren Sie ein inneres Unbehagen, einen inneren Widerwillen, ein Gefühl von Peinlichkeit und Scham?
Seit 1945 tragen viele Deutsche ein Schampaket mit sich, das mittlerweile über einige Generationen vererbt wurde. Vielen ist es unangenehm, wenn das Thema „gesundes Nationalbewusstsein“ angesprochen wird. Im Radio hörte ich kürzlich ein Interview mit einem Mann, der sich für seine deutsche Nationalität schämt, seitdem er als Teenager eine Fernsehserie über den Holocaust gesehen hat. Das war für ihn ein einschneidendes Erlebnis und seitdem schämt er sich dafür, Deutscher zu sein. Vielen wird es ähnlich gehen.
In diesem Zusammenhang möchte ich an die Fußballweltmeisterschaft 2006 erinnern, die in unserem Land ausgetragen wurde. Viele Tausend Gäste kamen nach Deutschland, um das Ereignis mit uns zu feiern. Die Fanmeilen in den Großstädten waren voller Menschen. Die Gäste, die ein gesundes Nationalbewusstsein mitbrachten, feierten einfach öffentlich und ganz selbstverständlich so, wie sie es gewohnt waren, sie liefen fahnenschwenkend und singend durch die Straßen. Es dauerte etwas, bis die Deutschen sich davon anstecken ließen, denn auf Berliner Straßen zu marschieren, dabei zu jubeln und Fahnen zu schwenken, das gehörte sich nicht für Deutsche. So etwas verbanden wir mit den Nazis, für deren Handeln wir uns zu Recht zutiefst schämen. Damit wollten wir auf keinen Fall identifiziert werden. Es wurde deutlich, dass das kollektive Schamempfinden hierzulande noch nicht heil ist von der so schändlichen Nazi-Vergangenheit.
Christa und ich sehen das fröhliche Erleben von 2006 als ein Geschenk Gottes an unsere Nation. Es brachte für unser beschämtes Volk einen Lichtblick und auch etwas Heilung unserer zerbrochenen Würde. Trost und Wiederherstellung wurden für alle ansteckend vermittelt. Dieses Erleben hatte eine andere heilsame Qualität als all die wichtigen Vertragsabschlüsse der Nachkriegszeit. Für weitere Heilung von unserer nationalen Scham müssten noch mehr solcher Ereignisse stattfinden. Denn unsere Würde wird wiederhergestellt, wenn andere uns glaubwürdig erleben lassen, dass wir okay sind, wie wir sind, und wir uns unbeschwert unseres Lebens und unseres Seins freuen dürfen. Auch darüber, dass wir Deutsche sind!
• Fühlte ich mich in meiner Familie zugehörig oder eher fremd und ausgegrenzt?
• War ich anders als die anderen und wurde deshalb beschämt?
• Gab es in meiner Familie Erwartungen, denen ich nicht genügen konnte? Habe ich mich oft überfordert und unzulänglich gefühlt? Inwiefern waren damit auch Schamgefühle verbunden oder der Gedanke, nie genügen zu können?
• Gab für mich in der Kindheit überfordernde Lebenssituationen, denen ich nicht gewachsen war? Habe ich mich für meine Unzulänglichkeit geschämt?
• Welche inneren Glaubenssätze über mich selbst habe ich dadurch entwickelt?
• Welche unguten Verhaltensmuster habe ich entwickelt, um mich nicht mehr schämen zu müssen?