Teil 3
Die Schamangst verstehen

Aber auch du, Mensch, der du dieses Treiben missbilligst: du hast keine Entschuldigung. Wenn du solche Leute verurteilst, sprichst du damit dir selbst das Urteil; denn du handelst genauso wie sie. – Römer 2,1 GN

7. Die Botschaften der Schamangst

Sie haben gelesen, was geschieht, wenn die gesunden Schamgrenzen einer Person verletzt werden. Dazu haben wir Ereignisse und Lebenssituationen geschildert, die als beschämend erlebt werden oder in denen ein Kind krank machende Schamgefühle entwickeln kann. Beschämt zu werden ist eine entwürdigende Erfahrung, die einem Menschen das gesunde Selbstwertgefühl raubt und zu dem inneren Glaubenssatz führt: „Ich BIN falsch.“

Daraus entspringt die Angst, so etwas noch einmal erleben zu müssen. Es ist die Befürchtung, dass meine schwache, unvollkommene Persönlichkeit wiederum sichtbar wird und ich dafür verachtet und vielleicht nochmals erniedrigt werden könnte. Diese Schamangst wird zum Wächter des Verletzten. Mit großer Energie verfolgt sie ihre Aufgabe: „Diese verkehrte, unfähige Person darf nie mehr sichtbar werden! Dann kann ihr keiner mehr wehtun. Dann ist sie sicher vor jeder Form von Erniedrigung.“ Dieser Schutz ist notwendig, aber keine gute Lösung, da es mit der Zeit recht anstrengend wird, mit dieser Angst zu leben und ihren Botschaften zu folgen.

Um die Reaktionen einer beschämten und verletzten Person zu verstehen, habe ich das Bild einer größeren Burganlage vor Augen. Es ist faszinierend, wie Burgen angelegt wurden, um den Bewohnern ein maximales Maß an Sicherheit zu geben. Manche wurden ursprünglich als Fluchtburg gebaut, in der sich die Bevölkerung aus der näheren Umgebung bei einem Angriff verschanzen konnte. Man brauchte einen sicheren Schutz vor denen, die kamen, um zu plündern und zu morden. Das Motiv für den Bau war die Angst vor Zerstörung und Demütigung.

Schaut man größere Burgen und Festungsanlagen an, fällt ein bestimmtes Muster auf. In der Mitte oder an der unzugänglichsten Stelle findet man die Kernburg. Sie ist meist der älteste Teil der Anlage und ausgerüstet mit besonders dicken Mauern und starken Toren. Sie bot Sicherheit für alles besonders Wertvolle und Schützenswerte.

Die Überlegung war, dass man sicherer ist, wenn die Feinde erst gar nicht bis dorthin vordringen konnten. Also bauten nachfolgende Generationen in gehörigem Abstand eine Mauer um diesen Burgkern. Diese Mauer hielt die Feinde noch mehr auf Abstand und man konnte von dort aus gut auf Angreifer schießen. Die Mauer gab den Bewohnern mehr Sicherheit und mehr Freiraum. Aber die Angst vor Übergriffen war damit nicht bewältigt. Also wurde eine weitere Mauer vor der ersten Mauer errichtet, es folgten dann vielleicht noch ein Schutzwall, ein Wassergraben, eine Mauer usw. So entstanden im Laufe der Jahrhunderte sehr eindrucksvolle Wehranlagen. Irgendwann ging es den Besitzern nicht mehr nur um den Schutz. Der Ausbau der Burg wurde zu einer Machtdemonstration, um die Untertanen zu beeindrucken und mögliche Feinde abzuschrecken.

Das Leben der Beschämten gleicht einer solchen Burganlage. Um ihr Innerstes, ihr liebenswertes, verletztes Herz zu schützen und mögliche Grenzverletzer fernzuhalten, bauen sie Mauern und Wälle. Im Herzen, in der „Kernburg“, regiert die Schamangst und sorgt dafür, dass die „Wehranlage“ beeindruckend ist und bleibt. Das beschämte Innerste dieser Menschen bleibt so geschützt und verborgen und schwer zugänglich. Manchmal wissen diese Menschen nicht einmal selbst, wie es in ihnen aussieht. Sie nehmen nur die starke Angst wahr, die etwas Wertvolles, aber Verwundetes unbedingt schützen soll. Da sie ihr Inneres oft nicht kennen, geschweige denn darüber reden wollen, bleibt der Angst nichts anderes übrig, als die sichtbaren „Schutzmauern“, sprich Verhaltensmuster, auszubauen und zu stärken, um so die innere Sicherheit zu erhöhen und gleichzeitig nach außen kompetent und stark zu erscheinen.

Aus dem Erlebten heraus entwickelt die Angst Glaubenssätze, wie ich als Person sein muss, um nicht wieder beschämt zu werden, Sätze wie: „Ich bin verkehrt, darum muss ich …“, „Niemand darf sehen, dass ich ein Versager bin, darum muss ich …“ Da die Angst eine große Energie hat, wird sie als Freund oder Schutzmacht erlebt. Beschämte verbünden sich mit diesem „Freund“ und „Wächter“ und geben ihm Macht über ihr Leben oder über bestimmte Lebensbereiche. Das alles geschieht unbewusst, intuitiv und ohne die langfristigen Folgen zu bedenken. So kann die Angst vor erneuter Beschämung das ganze Leben bestimmen und einengen. Die Person erlebt es als Schutz, aber die Festung der Schamangst ist zugleich auch ein Gefängnis, das unfrei macht.

Welche Art von „Schutzmauern“ baut nun die Angst? Sie möchte Situationen und Personen unter Kontrolle halten, Schwachstellen verbergen und kompetent und liebenswert erscheinen. Es zeigen sich drei Verhaltensmuster in unterschiedlichen Varianten und Kombinationen:

1. Durch Abschreckung Menschen auf Abstand halten: „Sei vorsichtig! Nimm dich in Acht! Wag es bloß nicht, mir zu nahe zu kommen, sonst kannst du was erleben!“ (Täterhaltung)

2. Durch Abtauchen auf Abstand gehen und sich verstecken: „Lass mich in Ruhe! Störe mich nicht. Ich bin nicht wichtig. Habe keine Erwartungen an mich, dann enttäusche ich dich auch nicht.“ (Opferhaltung)

3. Durch Anpassung eine angenehme Rolle spielen, um das Gegenüber zu beeindrucken und günstig zu stimmen: „Schau mal, wie nett (wie erfolgreich, wie gebildet, wie unentbehrlich, wie schön, wie fromm, wie einfühlsam …) ich bin.“ Sehr viele Menschen fühlen sich wohl in dieser Rolle, von der sie denken, dass das Umfeld auf sie positiv reagiert. (Retterhaltung)

Je nach Persönlichkeitstyp bevorzugen wir die eine oder die andere „Schutzmauer“, sprich Verhaltensweise, oder mischen sie miteinander. In Beziehungen bewegen wir uns oft im sogenannten „Dramadreieck“, was bedeutet, dass wir je nach Thema und Befinden blitzschnell zwischen den Rollen wechseln, um zu unserem Ziel zu kommen. In Streitgesprächen ist oft zu beobachten, wie ein Opfer zum Täter wird, ein Täter zum Retter, ein Retter zum Opfer oder auch umgekehrt. Dahinter steckt immer das tiefe Bedürfnis nach Annahme, nach Gesehen- und Verstandenwerden. Man will nicht mehr als Beschämter unterliegen.

Wenn Ihnen das etwas seltsam vorkommt, denken Sie daran: Wir haben es mit Denkweisen und Reaktionen zu tun, die in der Kindheit in emotional überfordernden Situationen ausgebildet wurden. Es sind Denkmuster, die sich als „Lösung“ einfach anboten und nicht durch bewusste Reflexion entstanden sind.

Hier nun noch einige typische Reaktionen oder „Schutzmauern“, die der Wächter „Schamangst“ hervorbringt. Im vorigen Kapitel sind bereits einige angeklungen. Beginnen wir mit den grundlegenden Reaktionen: Schweigen und Kontrolle.

Die Decke des Schweigens

Als Erstes sagt die Schamangst: „Schweige! Rede nie über das, was du erlebt hast. Du warst doch selbst schuld an dem Vorfall, oder nicht? Du wirst nur Unverständnis und Spott ernten und man wird dich wieder zum Narren machen.“ Oder sie sagt: „Wenn du redest, tut es wieder so weh wie damals, weil du nur die schmerzhafte Erinnerung aufwühlst. Aber geholfen wird dir nicht. Darum schweige und handle. Es gibt gute Möglichkeiten, wie du die anderen beeindrucken kannst. Tu das, aber rede bloß nicht über dein beschämendes Erlebnis!“ Dieses angstbesetzte Schweigen kennen alle Beschämten. Es ist das typische Kennzeichen für Scham. Manchmal ist man nahe daran, zu reden, aber dann fallen einem viele „gute Gründe“ ein, warum man doch nicht reden möchte. Lesen Sie, wie es Christine erging, die Sie im vorigen Kapitel kennengelernt haben:

Ich konnte mit niemandem reden, dafür schämte ich mich zu sehr und fürchtete, dass jemand erfahren könnte, wie es bei uns zu Hause zugeht. Ich machte alles mit mir selbst ab, was die Familie betraf, denn ich durfte „mein Nest nicht beschmutzen“, zumal mein Vater großes Ansehen im Dorf genoss. „Der gute Albert“ war u. a. Kirchenältester. Ich wollte niemandem zur Last fallen mit meinen Problemen. Nur meinen Katzen auf dem Heuboden klagte ich mein Elend. Dorthin verkroch ich mich oft vor der Gewalt meines Vaters. Später als junge Frau habe ich einiges einer Freundin meiner Mutter erzählt. Aber sie wollte es nicht wahrhaben und redete alles schön. Da machte ich ganz dicht.

Kontrolle und Perfektionismus

Die Schamangst sagt: Kontrolliere dich unbedingt. Geh kein Risiko ein. Lehne dich nie zu weit aus dem Fenster! Und kontrolliere nicht nur dich selbst, sondern nach Möglichkeit auch die anderen. Kontrolle ist dein Freund, sie wird dir sehr nützlich sein.

Und die Kontrolle sagt: Sei perfekt! Mach keine Fehler. Dann bist du unangreifbar und wirst statt Beschämung Lob und Anerkennung erhalten. Das schafft eine große Sicherheit für dein verletztes, beschämtes inneres Kind. Niemand wird es entdecken und dich für deine Schwäche verachten. Darum sei stärker, sei besser, sei schneller als die anderen. Behalte immer das Heft in der Hand und bestimme die Spielregeln. Tina beschreibt ihr Erleben so:

Scham war bis weit in mein Erwachsenen-Dasein mein Lebensgrundgefühl. Bei vielen Gelegenheiten wurde ich sehr schnell schamrot. In den ersten Jahren auf dem Gymnasium wurde ich „Rotbäckchen“ genannt. Im Erwachsenenalter wurde dieses Rotwerden dadurch verstärkt, dass man mich taktlos ansprach: „Warum wirst du denn so rot?“ So biss sich die Scham-Katze selbst in den Schwanz und beschämte mich immer wieder aufs Neue. Es war sehr schlimm für mich, darüber keine Kontrolle zu haben und in meinem schwachen Selbstwert vor anderen so sichtbar zu werden. Scham versteckt sich ja gerne, aber für mich gab es leider kein Versteck. Meine Scham war verknüpft mit der Angst, nicht zu genügen, zu versagen, zu stören, negativ aufzufallen, im Mittelpunkt zu stehen und mich damit zu offenbaren, letztlich mit der Befürchtung, tatsächlich falsch zu sein. Meine Reaktion darauf war, möglichst die Kontrolle zu behalten, indem ich alles gut und richtig machte, immer nett und freundlich war und riskante Situationen, wo ich scheitern könnte, zu vermeiden.

Selbstkontrolle und Perfektionismus sind für die Schamangst eine große Beruhigung. Aber die Schamangst fordert immer mehr Sicherheit. Und so wird die Kontrolle ausgeweitet auf Menschen, die im engeren Umfeld leben und etwas Dummes tun könnten, was auf mich zurückfällt und meine Schwäche und Fehlerhaftigkeit sichtbar machen würde. Ich muss mich dann doppelt anstrengen, um deren Fehler auch noch auszubügeln, denn andere könnten über mich negativ reden, und das wäre furchtbar beschämend. Und so zeigt sich Kontrolle in Überverantwortlichkeit und Bevormundung des Ehepartners und besonders der Kinder und manchmal auch der Mitarbeiter, für die ich mich verantwortlich fühle.

Hier noch ein kleiner Hinweis für überzeugte Perfektionisten: Wenn wir Seminarteilnehmer fragen, wer gerne mit einem Perfektionisten verheiratet sein möchte, stöhnen sie auf. Warum? Die Antworten sind immer gleich: Neben einem Perfektionisten fühlst du dich immer schlecht. Nähe leben ist schwer bis unmöglich. Aber Menschen, die Fehler machen und sie zugeben, kann man sich nahe fühlen. Die sind nicht besser als man selbst, die kann man lieben. Perfektionisten kann man vielleicht bewundern, aber mit solch einer Person zu leben und zu arbeiten, ist schwierig. Darum, liebe Perfektionisten, sagen wir Ihnen dies: Sie meinen es gut, Sie strengen sich an und geben sich sehr viel Mühe. Aber Sie wären liebenswerter, wenn Sie weniger perfektionistisch wären. Vielleicht überdenken Sie mal, was Sie lockerer angehen könnten.

Für die Kontrolle der eigenen Kinder gibt es auch scheinbar edle Motive: Eltern wollen sie vor dem Schmerz einer Beschämung und Ablehnung bewahren. Wenn sie alles richtig machen, dann werden sie nicht das erleben müssen, was man selbst erlebt hat. Die Kontrolle übersieht dabei, dass auch Überbehütung und Verwöhnung als beschämend erlebt wird, denn die Botschaft an das Kind ist: Du bist nicht fähig, für dich selbst gute Entscheidungen zu treffen; du bist nicht fähig, im Leben allein zurechtzukommen. Du brauchst jemand, der besser weiß, was für dich gut ist. Du brauchst mich! Und so bewirkt Kontrolle genau das, was sie verhüten will: Die Kinder fühlen sich beschämt und in ihrem Selbstwert zerstört, wenn man ihnen nichts oder zu wenig zutraut. Wie gehen Kinder damit um?

Kinder haben folgende Möglichkeiten, darauf zu reagieren: Wenn sie spüren, dass es ihre Entwicklung zu einer selbstständigen Persönlichkeit hemmt, werden sie sich gegen diese Art der Bevormundung wehren und den Kampf mit dem kontrollierenden Elternteil aufnehmen, um sich Respekt und Freiheit zu erkämpfen. Für Eltern, die ihre eigene Schamangst nicht bewältigt haben, kann das ein Desaster sein. Wieder haben sie versagt, wo sie es doch nur gut gemeint haben! Andere Kinder, vor allem die sensiblen, passen sich an und übernehmen die Scham der Eltern, weil sie sich schwach und ungenügend fühlen. Damit führen sie die Tradition der Minderwertigkeit und Schamangst in einer Familie fort. In vielen Familien ist diese verinnerlichte Schamkultur seit Generationen bestimmend. Kommt Ihnen das vielleicht bekannt vor?

Das Bedürfnis nach Kontrolle versteckt sich auch in diesem Verhaltensmuster:

Immer lieb sein

Die Schamangst sagt: Wenn andere sich über dich ärgern, dann werden sie dich angreifen und beschämen. Dazu darfst du einfach keinen Anlass geben. Sei nett, sei hilfsbereit, mach dich unentbehrlich!

Sehr viele Beschämte wählen diese Option. Sie treffen in der Kindheit eine Entscheidung für eine Lebensrolle, die gesellschaftlich gut akzeptiert ist und ein hohes Maß an Sicherheit vor Beschämung bietet. Vor allem beziehungsorientierte Kinder entscheiden schon recht früh: „Ich will immer lieb sein“, „Ich werde Mama und Papa keine Arbeit machen“, oder: „Ich bin nicht wichtig. Lieber schaue ich, wie ich andere retten kann, denen es schlechter geht.“ Letzteres denken die sensiblen und hochsensiblen Kinder. Dazu kann auch der Vorsatz gehören: „Lieber schweige ich und halte schlechte Kompromisse aus, auch wenn ich dadurch Nachteile habe oder wenn es auf Kosten der Wahrheit geht.“ Damit entscheiden sie sich für ein angepasstes, unterwürfiges Verhalten.

Aufgrund dieser Entscheidungen entwickeln Menschen eine Retter- und Helfermentalität, die für ihr weiteres Leben bestimmend ist. Liebenswert und diensteifrig, sind sie gern gesehene Freunde und Mitarbeiter. Es liegt uns fern, diese Menschen zu verurteilen, denn wir brauchen sie, damit unser Gemeinwesen funktioniert. Wir möchten jedoch darauf aufmerksam machen, dass viele von ihnen ihre Grenzen nicht kennen. Sie übertreiben ihre Rolle und verzehren sich im Dienst für andere und können so ausbrennen. Ihre grenzenlose Hilfsbereitschaft kann der Hinweis sein, dass eine tiefe unbewältigte Scham der Antreiber ist. Hören wir noch mal Christine zu, was sie auf die Frage antwortet: „Wozu habe ich mich entschieden, um den Makel meiner Scham und Minderwertigkeit auszugleichen?“

Um meine beschämende Familiensituation zu verbergen, übernahm ich die Verantwortung anstelle meiner kranken Mutter, um das Bild von einer intakten Familie und einem ordentlichen Haushalt nach außen zu wahren. Um keine Probleme zu machen, entwickelte ich ein starkes Leistungsdenken und wurde eine sehr gute Schülerin. Ich arbeitete immer viel, um meine Mutter zu entlasten, und entwickelte sogar einen Putzzwang. Freiwillig übernahm ich Verantwortung für die Arbeiten im Haus, auf dem Hof und dem Feld, auch wenn das gar nicht meine Aufgabe war. Selbst als junge Ehefrau vertrat ich meine Mutter aus Mitleid bei ihrer Arbeit im Viehstall, wenn sie wieder mal krank war! Immer war ich bemüht, andere zufriedenzustellen. Meinen Eltern und anderen Menschen las ich die Wünsche von den Augen ab und bot Hilfe an, oft ohne gefragt worden zu sein. Natürlich tat ich das auch für Lob und Anerkennung. Aber besonders trieben mich meine Sorgen und Ängste an. Mein Motto war: Hauptsache, ihnen geht es gut! An mein Befinden habe ich nicht gedacht, denn meine Selbstwahrnehmung war nicht entwickelt. Jahrelang war ich gefangen in meiner Rolle als Retter und Helfer.

Immer war ich freundlich und hilfsbereit, sagte nie Nein, denn Grenzen setzen konnte ich nicht. Nach außen wirkte ich stark, aber hinter der Fassade steckte immer noch ein beschämtes Mädchen mit einem sehr schwachen Selbstwert. Innerlich war ich voller Wut und Groll, da war viel Bitterkeit und auch Hass in meinem Herzen gegen meine Eltern.

Meine Ehe lief auch nicht wie gewünscht. Mein Mann hatte ein Suchtproblem, ich lebte in einer Ko-Abhängigkeit zu ihm und musste auch ihn ständig „retten“. Immer machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Mein Leben war pure Heuchelei und es war natürlich eine totale Überforderung. Was war die Folge? Irgendwann schlug das Pendel zur anderen Seite aus und ich entwickelte aufgrund meiner Minderwertigkeit eine starke „Opfermentalität“. Ich schwelgte in Selbstmitleid, litt unter Depressionen und diversen psychosomatischen Krankheiten, hatte starke Rückenschmerzen. Mit achtunddreißig Jahren wollte ich mir das Leben nehmen.

Sich unsichtbar machen und der Zwang, sich entschuldigen zu müssen

Die Schamangst sagt: Weiche einer Beschämung aus, indem du dich unsichtbar machst. Tue das, was du damals gern getan hättest: Tauche ab, geh den Menschen aus dem Weg.

Die Entscheidung „Ich wollte, ich wäre gar nicht da“, „Ich wäre am liebsten unsichtbar. Dann würde mir so etwas Schreckliches nicht geschehen“, kann weitreichende Folgen haben. Vor allem Introvertierte neigen zu dieser Entscheidung. Um nicht gesehen zu werden, scheuen sie Verantwortung und Positionen, wo man auf sie schauen könnte. Andere sind in bestimmten Situationen zeitweise nur körperlich anwesend, aber nicht innerlich. Manche bekommen dann eine Leere im Kopf und können nichts aufnehmen. Das kann eine Traumafolge sein oder ein Schutzmechanismus, um möglicherweise einer erneuten beschämenden Situation auszuweichen.

Manche Menschen fühlen sich von Anfang an nicht willkommen in dieser Welt. Das ist ihre Grundscham: eine fehlende Daseinsberechtigung. Einige leben dann im starken Rückzug, andere entschuldigen sich ständig für ganz normale Dinge. „Entschuldige, dass ich dich anrufe“, „Entschuldige, dass ich dich störe“, „Entschuldige, dass ich jetzt deine Zeit beansprucht habe.“ Kennen Sie solche Menschen? Meist sind sie liebenswert und umgänglich, aber sie können einfach nicht glauben, dass sie respektiert, geliebt und wertvoll sind für andere. Ihre Grundscham, verkehrt zu sein und abgelehnt zu werden, ist so stark, dass sie nicht sichtbar werden möchten. Sie fühlen sich grundsätzlich fehl am Platz und führen lieber ein Leben als distanzierte Beobachter. In der Rolle fühlen sie sich sicher und sie hilft ihnen, den inneren Schmerz auszuhalten.

Weil sie sich nie zugehörig fühlen, meiden sie häufig Familienfeiern und Gruppenereignisse. Aufgrund ihrer „Lass mich in Ruhe“-Ausstrahlung werden sie dann auch oft nicht angesprochen. Das bestätigt wiederum ihren Glauben, nicht dazuzugehören. Uns sind Menschen mit diesem „Makel“ begegnet, die innerlich einen „Bund mit der Einsamkeit“ oder sogar einen „Bund mit dem Tod“ geschlossen hatten. Das Schamgefühl sagt: „Bleib allein. Bring dich um, niemand wird dich vermissen.“ Eine innere Stimme kann dann sogar sagen: „Fahr schnell und setz das Auto vor den Baum, dann ist alles vorbei.“ Wir erleben in der Beratung, dass im Herzen dieser Menschen Ruhe einkehrt und der Lebenswille neu geweckt wird, wenn sie vor Gott diese Entscheidung zurücknehmen und Jesus bitten, sie zu befreien.

Niedergeschlagenheit, Selbstverdammnis, depressive Verstimmungen

Wie Sie in dem Bericht von Christine gelesen haben, kann die Schamangst auch zu einer Opferhaltung führen. Die Schamangst sagt dann: Zeige den anderen deine Schwäche und dein Unvermögen, dann werden sich die „Retter“ mit ihrem ganzen Wohlwollen über dich erbarmen und nett sein zu dir.

Ein Opfer will in seiner Schwäche gesehen werden, denn es bezieht seinen Wert daraus, bemitleidet zu werden. So pflegt es sein verletztes, kleines, stolzes Ego. Vielleicht kennen Sie Menschen mit diesem leidenden Blick, die ständig die Botschaft senden: „Mir kann niemand mehr helfen“, „Bei mir versagen alle Hilfen“, „Ich bin zu schlimm dran, als dass man mir helfen könnte. Ich bin es auch nicht wert“, oder: „Ich kriege aber auch gar nichts richtig auf die Reihe.“ Ein Opfer lebt von der mitleidsvollen Zuwendung der Retter, ist letztlich aber nicht bereit, Eigenverantwortung für sein Leben zu übernehmen. Es könnte dann ja schief gehen und dann wäre das Opfer wieder blamiert und auch noch selbst verantwortlich dafür. Lieber macht es andere für sein Elend verantwortlich und sucht nach dem idealen Retter, den es jedoch nie findet. Das Spiel mit der Schwäche ist der Schutz, um nicht noch tiefer beschämt und verletzt zu werden, sondern um positive Zuwendung zu erheischen. Nicht selten entsteht eine solche manipulative Opferhaltung durch Überbehütung und Bevormundung in der Kindheit.

Andere herabsetzen und beschämen

Neben den eher defensiven Verhaltensmustern kennt die Schamangst auch aggressive Muster. Dann gibt sie den Befehl: „Halte Menschen auf Abstand, indem du sie einschüchterst, damit sie nicht auf die Idee kommen, dass du schwach bist. Das könnten sie ausnutzen, um dich vorzuführen und zu beschämen.“ Manche Leute sind so dünnhäutig, dass sie schon bei Kleinigkeiten explodieren. Ihre Botschaft ist: „Gib acht! Halte Abstand!“ Damit tun sie das, was ihnen angetan wurde: Sie drohen und beschämen, sie schüchtern ein und können sogar handgreiflich werden. So verschaffen sie sich Respekt und sorgen für Distanz, um eine erneute Beschämung oder Überforderung zu vermeiden.

In einer Fachzeitschrift der Kriminalpolizei ging es um das Thema Gewaltprävention. Der Autor schreibt zum Gewaltaspekt: „Für uns steht nach unserem heutigen Kenntnisstand fest, dass es zwei wesentliche Antriebe für die Anwendung von Gewalt bzw. Gewalttaten gibt: a) Angst und b) Scham. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese beiden Motive in der Arbeit mit gewalttätigen Menschen häufig zu wenig oder schlimmstenfalls keine Beachtung finden. Wer kann sich auch schon vorstellen, dass ein muskulöser junger Mann von 1,87 m Größe, mehrfach aufgefallen durch Gewaltstraftaten, Angst haben soll und/oder nicht in der Lage ist, mit Peinlichkeiten angemessen umzugehen? Dabei kann die Peinlichkeit bereits in einem (länger andauernden) Blick einer anderen Person bestehen. Bei der Erklärung, Schläger haben Angst und ein erhöhtes Schamgefühl, ernten wir nicht selten erstaunte und fragende Blicke … Bringe ich einem Gewalttäter bei, mit seiner Angst umzugehen, bzw. nehme ich ihm seine Angst und mache ihn autark gegenüber übertriebenem Schamgefühl, werden sich voraussichtlich seine Aggressionen, seine Wut und Zornerlebnisgedanken verringern.“8

Schuld abwälzen auf andere

Eine Mischung aus Opferhaltung und aggressivem Verhalten ist der Grund dafür, dass manche Menschen in Konflikten endlos argumentieren. Sie können und wollen nicht verlieren. Immer setzen sie noch eins obendrauf. Sie müssen gewinnen und recht behalten. Sie sind so verwundet und bitter, dass sie keine Niederlage, keinen Schmerz mehr ertragen können. Voller Zorn und Groll haben sie sich zu dieser verbalen Abschreckungsstrategie entschieden. Für Beziehungen ist das zerstörerisch.

Um das zu veranschaulichen, hier die Geschichte eines befreundeten Ehepaars:

Als ich das Schamthema in der Seelsorgeschule hörte, war es für mich wie ein Schlüssel. Es half mir, einiges aus meiner persönlichen Geschichte zu verstehen, aber ganz besonders meinen Mann und einen Leiter, durch dessen Verhalten wir sehr verletzt wurden und irritiert waren.

In meiner Kleingruppe erzählte nach dem Vortrag ein Teilnehmer, dass er in frühster Kindheit beschämt wurde und seitdem verletzt durchs Leben geht. Er hat diese Situation bearbeitet und vergeben. Aber unter dem Verletzungsschmerz brodelte immer noch der viel stärkere Schmerz der erlebten Scham. Dieser Schmerz ist so groß, dass er ihn nicht aushalten kann und sich ständig gegen neue Beschämung wehren muss. Das geschieht besonders dann, wenn seine Frau ihn mit einem Fehler konfrontiert. Der Schamschmerz kommt in dem Moment mit solcher Wucht hoch, dass er es schier nicht aushält und aus Selbstschutz seine Frau fast zwanghaft verletzen muss, indem er sie mit ihren Fehlern konfrontiert oder sie verbal abwertet. Einfach um Vergebung zu bitten und sich zu entschuldigen, schafft er nicht. Dadurch fühlt er sich jedoch noch schlechter und es belastet die Ehebeziehung. Denn bei der Person, die er am meisten liebt und der er eigentlich nur Gutes tun möchte, gerade bei der hat er wieder versagt.

Ich verstand sofort, was bei meinem eigenen Mann ablief und warum bei uns so viele Ehegespräche nichts fruchteten. Solange wir selber gefangen sind in einer Schamerfahrung, sind wir blockiert, auf den anderen einzugehen. Die Dynamik aus Scham und Schmerz schafft Reaktionen, die Partner immer wieder auf Distanz halten, und sie verhindert echte Herzensbegegnungen und Nähe.

Meinem Mann habe ich mit tiefer Betroffenheit von diesem Erlebnis erzählt. Dadurch war ein großes Tabu ins Licht gebracht und wir konnten endlich lernen, anders damit umzugehen. Das veränderte unsere Gespräche grundlegend und ich fühlte mich endlich gehört und verstanden.

Der Ehemann beschreibt seine Erfahrung so:

„Ich will nicht immer der Schuldige sein!“, „Ich werde es ihr zurückgeben! Jede Anschuldigung wird sofort gekontert!“ Diese Sätze gingen mir in den letzten Jahren häufig durch den Kopf. Ohne Frage, wir waren in einer schwierigen Lebenssituation. Vieles war anders gelaufen, als wir es uns erträumt hatten. Ich hatte mein Bestes für unsere Kinder und für meine Frau gegeben. Ich war überarbeitet und ausgebrannt. Aber es reichte nie, ständig sollte ich noch mehr tun! Soll immer nur ich der Versager und der Schuldige sein? Nicht mit mir! So wuchs die Spannung in unserem Alltag ins Unerträgliche. Bei der kleinsten Kleinigkeit knallte es zwischen meiner Frau und mir. Einmal schloss uns unsere älteste Tochter aus Verzweiflung in unserem Schlafzimmer ein: „Ihr kommt da erst wieder raus, wenn ihr euch vertragen habt!“

Dann kam Anja mit der Lehre über die Scham von der Seelsorgeschule zurück: „Hier, hast du mal Lust, in diese CD reinzuhören …?“ Es war, als würde mir jemand die Augenbinde abnehmen, und ich konnte endlich sehen und verstehen: Es ging bei mir gar nicht darum, einen Fehler begangen zu haben, für den ich mich entschuldige und den ich wieder in Ordnung bringe. Nein, ich fühlte mich als ganzer Mensch schuldig und verkehrt. Schuldig zu sein war mein Lebensgrundgefühl! Das Gefühl, nicht genug getan zu haben: „Nächstes Mal muss es aber besser klappen! So etwas Peinliches passiert auch nur mir! Das wird mir keiner verzeihen.“ Das waren meine tiefen inneren Überzeugungen. Warum war das so? Woher kam das?

Meine Kindheit war von einer strengen christlichen Erziehung geprägt. Diese Sätze waren ständig präsent: „Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollen!“, „Wer mich nicht vor den Menschen bekennt, den werde ich auch nicht vor meinem himmlischen Vater bekennen.“ An der Kühlschranktür klebte ein großes schwarzes Auge und darunter stand: „Einer sieht dich immer!“

So wurde mein negatives Selbstbild geprägt. Ich fühlte mich unvollkommen, als Versager und vor Gott ständig schuldig. Ich kompensierte das mit großem Ehrgeiz, viel Leistung und Perfektionismus. Darüber hinaus war ich im Beruf und in der Gemeinde überangepasst und vermied Konflikte. Meine Überzeugung war: Wenn ich so lebe, dann kann mich ja niemand schlecht finden und kritisieren, oder? Kritisiert und herabgesetzt worden war ich ja schon mehr als genug. Bei Beschuldigungen erstarrte ich immer innerlich und war unfähig, klar zu denken oder zu reden.

Weil niemand fehlerlos sein kann, musste ich für mich selber Wege finden, um ein einigermaßen erträgliches Lebensgefühl zu haben. Das waren meine Lösungen:

• Fehler und Schuld, die sich nicht leugnen lassen, werden schweigend ertragen. Ein Donnerwetter lasse ich einfach über mich ergehen. Ich habe mittlerweile ja schon ein ziemlich dickes Fell.

• Fehler und Schuld werden vertuscht, verheimlicht, verdrängt und bagatellisiert. Ich will ja nicht ständig zu Kreuze kriechen.

• Schuld und Versagen meiner Frau halte ich sehr hoch und betone sie, um selber nicht so schlecht dazustehen. Ich verletze sie, um meinen Schamschmerz nicht so stark spüren zu müssen. Mein Schmerz wäre zu groß.

Für mich war es eine Kehrtwende, als ich durch die Zusammenhänge über die Scham entdeckte, dass es ein großer Unterschied ist, ob ich einen Fehler mache oder ob ich mich als ganzer Mensch schuldig fühle. Dies bei Jesus abzulegen und mich bewusst als wertvoll und „lebensberechtigt“ anzunehmen, war ein erster großer Schritt in die Freiheit. Das Schamthema war eine große Verständnishilfe für mich. Jetzt kann ich endlich meiner Frau zuhören. Ich lerne, über meine eigenen Gefühle zu reden und das ernst zu nehmen, was sie stört, und kann selber aktiv an der Lösung mitarbeiten. In schwierigen Situationen schaffe ich es zunehmend, mich zu fragen:

• Welche Gefühle habe ich gerade: Fühle ich mich ohnmächtig, ausgeliefert oder schuldig als ganzer Mensch? Warum schäme ich mich?

• Was sind die Fakten? Ist alles oder nur eine Sache, die ich gemacht habe, schlecht?

Aus dieser zweiten Perspektive heraus habe ich mich häufig wieder als handlungsfähig erlebt. Ich kann wieder Entscheidungen treffen und bin frei zu agieren. Ich lerne zurzeit:

• Es gibt immer einen Plan B!

• Ich muss nicht perfekt sein! Wenn ich 80% erreicht habe, muss ich mich nicht für die restlichen 20% aufreiben.

• Ich kann Dinge, die schief gelaufen sind, wiedergutmachen und mich entschuldigen!

• Ich kann andere um Hilfe bitten.

• Jesus hat mich am Kreuz wirklich ganz frei gemacht von meiner Schuld und Scham!

• Ich bin frei von dem Zwang, meine Frau oder andere zu beschuldigen. Ich kann mich entschuldigen und Verantwortung für meine Fehler übernehmen. Der Schamschmerz ist erkannt und gezähmt.

Religiöse Kompensation

Viele Christen verstecken ihre Scham und Minderwertigkeit hinter frommen Schlagworten. Ihre schwache Identität wollen sie durch fromme Sprüche oder religiöse Gesetzlichkeit wettmachen. Die Schamangst sagt: „Du musst geistlich stark erscheinen, so wie die anderen. Zeige keine Schwäche. Du hast doch jetzt Jesus in deinem Leben. Sei ein Überwinder!“

Manche neigen dann zur Schwärmerei: „Es ist alles super mit dem Herrn, halleluja.“ Solche Sätze sind oft ein Verleugnen ihrer schmerzhaften Realität der inneren Minderwertigkeit. Andere legen eine fromme Gesetzlichkeit an den Tag, was eine Form der Kontrolle ist. Die Schamangst sagt: „Glaube das Richtige, dann bist du okay. Dann ist Gott zufrieden mit dir.“ Irgendwie will man zur „frommen Elite“ gehören, zu denen, die es offensichtlich geschafft haben und Ansehen und Bedeutung genießen. Letztlich sind das Verhaltensmuster, um den inneren Schmerz und die innere Bedeutungslosigkeit fromm zu kompensieren.

Vielleicht sagt die Schamangst auch: „Wenn du schon nichts Besonderes bist, dann halte dich dort auf, wo du als jemand Besonderer angesehen wirst.“ Christliche Kirchen und Gemeinschaften mit bekannten Leitern und einem guten Ruf sind sehr attraktiv für beschämte Menschen. In extremen Gruppierungen finden sich viele beschämte Menschen, die sich gut fühlen, wenn sie mit dieser „Elitegruppe“ in Verbindung gebracht werden. In frommen Kreisen hört man oft: „Oh, zu dieser Gemeinde gehörst du? Das ist ja toll.“ „Mit dem Leiter arbeitest du zusammen!? Wow, das würde ich auch gerne.“ Und so fühlt man sich aufgewertet und bedeutungsvoll durch das Image der Gemeinschaft oder des Leiters. Aber es ist eine geliehene Bedeutung, eine Stärke „aus zweiter Hand“. Der Selbstwert entspringt nicht der eigenen Stärke, er kommt nicht von innen heraus, aus der eigenen Identität. Kommt dazu ein starkes Leistungsdenken oder ein gewisser Perfektionismus, werden diese Menschen Mitarbeiter, die oft keine gesunden Grenzen haben. Im Kapitel über religiöse Schamkulturen finden Sie weitere Aspekte zu diesem Thema.

Elitäre Gruppen und Vereine finden wir überall, nicht nur im religiösen Kontext. Schwache Menschen werten sich auf, wenn sie einen besonderen Leiter haben oder ihr Verein in der Gesellschaft besondere Anerkennung genießt. Das kann ein Fußballverein sein, der seinen Fans Identität gibt, oder eine besondere politische Vereinigung oder eine Band oder ein Schlagerstar oder oder … Je nach sozialem Umfeld und persönlichem Interesse finden beschämte Menschen ein breites Angebot, wo sie sich über starke Persönlichkeiten oder einen besonderen Kult aufwerten können. Aber nicht alle Menschen, die zu diesen Gruppen gehören, sind aufgrund ihrer inneren Scham dort.

Schamlosigkeit

Es gibt Menschen, die reagieren auf Beschämung völlig anders. Ihre Grenzen wurden zerstört, sie haben ihre gesunde Scham verloren. Ihre Suche nach Anerkennung und Liebe ist jedoch stärker als ihre Schamangst. Das treibt sie in emotionale und sexuelle Beziehungen, in denen sie keine Grenzen setzen können. Ihr Selbstwert ist so gering, so zerbrochen, dass er nicht schützenswert erscheint, also verhalten sie sich schamlos in der Hoffnung, dadurch etwas Bestätigung zu finden oder wenigstens eine zeitweise Erleichterung ihrer inneren Pein. Solch ein Verhalten finden wir oft nach emotionalem und sexuellem Missbrauch. Manche bauen riesige Bollwerke, um sich sexuell zu schützen, andere leben schamlos, denn eine innere Stimme sagt: „Du hast eh nichts mehr zu verlieren. Schlimmer kann es nicht werden.“ Ja, Missbrauch und Beschämung sind zerstörerisch. Schamlosigkeit ist das Zeichen, dass der Selbstwert einer Person zerstört wurde. Karin, die wir bereits kennengelernt haben, hat auf die Beschämung durch die Mutter in ihrer Jugend so reagiert:

Mein Bedürfnis nach Annahme blieb unbeantwortet. Ich war innerlich wie ausgehungert. Auf meiner Suche nach Zuneigung und Zugehörigkeit geriet ich als junger Teenager an Menschen, die dieses emotionale Loch in mir vermeintlich füllten. Doch ihr Ziel war, mich an sie zu binden und mich jahrelang sexuell zu missbrauchen. Für die massiven körperlichen und seelischen Grenzüberschreitungen gab ich ganz allein mir die Schuld, denn es wurde mir auch eingetrichtert, dass ich es schließlich wollte. Ich glaubte ihnen, denn ich war ja „falsch“ in allem, was ich wahrnahm. Diese Beschämung brannte sich noch viel tiefer in mein Inneres ein als die, die ich zu Hause erlebte. Lange Zeit hatte ich Angst, dass mir auf die Stirn – und damit für alle sichtbar – geschrieben steht, welch ein falscher, dreckiger und verachtungswürdiger Mensch ich bin. Heute weiß ich, dass ich durch diese Erfahrungen auch traumatisiert war.

Schamlosigkeit kann sich auch anders zeigen. Es gibt Menschen, die andere schamlos ausbeuten, andere belügen und betrügen. Es sind Menschen, die kein gesundes Gewissen entwickeln konnten, die gelernt haben, zuerst sich selbst zu sehen und ihren Vorteil zu suchen. Sie zeigen narzisstische Züge und definieren sich über Leistung und Erfolg, aber ihre Sozialkompetenz ist schwach. Die Bibel spricht hier von harten Herzen oder auch von zerbrochenen Herzen. Die Fähigkeit, Empathie zu zeigen und Grenzen zu achten, wurde zerstört oder hatte sich nie entwickelt. Es sind Menschen, die andere schamlos benutzen, um ihren Gewinn zu maximieren. Für manche Firmen scheinen es die idealen Manager zu sein. Vor Kurzem las ich über solche Managertypen, die ihre Grenzen ständig überschreiten. Fachlich sind sie brillant, aber moralisch und als Persönlichkeit sehr fragwürdig. Sie haben kein Empfinden mehr dafür, was sie anderen antun.

Nun haben Sie einige Reaktionen und Lebensmuster kennengelernt, die beschämte Menschen entwickeln. Vielleicht haben Sie an Menschen gedacht, auf die das eine oder andere Muster zutrifft. Interessant ist, dass wir leichter die „Mauern“ bei anderen erkennen, unsere eigenen aber nur schwer wahrnehmen. Wir sehen den „Splitter im Auge“ des anderen genau, aber unseren eigenen „Balken“ nehmen wir nicht wahr. Das hilft jedoch nicht weiter. Wir können nicht die anderen Menschen verändern, sondern nur uns selbst. Darum geben wir Ihnen nun wieder einige Fragen zur Selbstreflexion.

Fragen zur Selbstreflexion

• Was sind meine inneren Glaubenssätze über mich selbst?

• Was genau befürchtet meine Schamangst?

» Was darf nie geschehen?

• Welches sind meine Schutzmaßnahmen?

» Wie wirken sie sich aus in meinem persönlichen Leben?

» Wie wirken sie sich aus in meinen Beziehungen?

• Was könnte ich ändern?

» Welche Schritte könnte ich gehen?

Um bestimmten Verhaltensmustern auf die Spur zu kommen, sind folgende Fragen generell hilfreich:

• Wozu tue ich das?

• Was will ich erreichen?

• Was will ich vermeiden?