Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Ihr Heuchler! Ihr seid wie die weiß getünchten Grabstätten: Von außen erscheinen sie schön, aber innen ist alles voll stinkender Verwesung. Genauso ist es bei euch: Ihr steht vor den Leuten als solche da, die Gottes Willen tun, aber in Wirklichkeit seid ihr voller Auflehnung und Heuchelei. – Matthäus 23,27–28

8. Gefangen im Schamangst-Zyklus

Die Angst vor Versagen und erneuter Beschämung sagt: „Streng dich an. Gib alles. Bring Top-Leistungen, dann wirst du die Anerkennung und Liebe finden, die dir in der Kindheit versagt war und nach der du dich so sehr sehnst. Alle werden gut von dir sprechen, keiner wird wagen, dich erneut abzulehnen und zu beschämen. Deine Ehre wird wiederhergestellt sein.“ Das klingt sehr verlockend, aber die Angst täuscht Sie. Es ist eine Lüge, die Ihnen einflüstert, dass Ihr Wert und Ihr Ansehen in dem bestehen, was Sie leisten.

Wer dieser Lüge glaubt, zahlt einen hohen Preis. Oft sind diese Menschen in einem Teufelskreis von Leistung und Scham gefangen. Sie haben ein Lebensmuster, das wir als Schamangst-Zyklus9 bezeichnen. Grundlage ist, dass eine Person glaubt, wertlos zu sein, und gleichzeitig von einer großen Liebessehnsucht getrieben wird. Aus dem heraus entwickelt sie eine beeindruckende Außenansicht, geprägt von guten Leistungen und Erfolg. Das ist ihre „Gewinnerseite“. Aber daneben gibt es auch die inoffizielle Seite mit Verhaltensweisen, die man lieber niemanden sehen lassen möchte. Das ist ihre „Verliererseite“, die oft nur sie allein kennt und vielleicht Menschen, die ihr nahestehen.

In der oberen Hälfte finden wir die Verhaltensmuster der Gewinnerseite. Jedoch ist nicht die Freude an der Leistung, die Freude am Ausüben von Gaben der Antrieb, sondern eine tiefe Schamangst. Sie nährt ständig die Gedanken: „Ich muss mich anstrengen. Fehler zu machen und Schwäche zu zeigen ist nicht erlaubt. Dafür könnte ich beschämt werden. Darum ist mein Leben ein ständiger Kampf.“ So eine getriebene Person ist unfähig, zur Ruhe zu kommen und zufrieden zu sein mit sich selbst. Anderen gegenüber ist sie grundsätzlich misstrauisch und muss die Kontrolle behalten. Der Glaube an sich selbst, ein gesunder Selbstwert, kann sich nicht entwickeln, weil man bei Vergleichen mit anderen immer schlechter abschneidet als die anderen. Oft beurteilt man sich selbst nach dem Schwarz-weiß-Prinzip: Was nicht hundertprozentig gut ist, taugt nicht.

Die Folgen dieses Leistungsdenkens sind hart. Aus einem „Ich möchte Liebe und Anerkennung erhalten“ wird ein getriebenes „Ich muss …“ Und im Hintergrund suggeriert ständig eine tiefe Angst: „Alles darf passieren, aber nicht ‚das Eine‘“… Überlegen Sie einmal, was in Ihrem Leben auf keinen Fall passieren darf! Die Folgen dieses anstrengenden Lebens sind Erschöpfung, eine wachsende innere Leere, oft auch innere Wut. Solch ein Lebensstil kann schon in jungen Jahren zu Depressionen und zum Burnout führen, weil die tiefe innere Liebessehnsucht nicht gestillt wird und man sich seine Wertlosigkeit und sein Versagen immer wieder selbst bestätigt.

Aus der Erschöpfung heraus kippt man ins Gegenteil und lässt sich gehen. Jede Stärke ist dahin, man fühlt sich als „Verlierer“. Gefühle der Erschöpfung, der inneren Leere, der Unzufriedenheit fordern ihren Tribut. Diese Phasen kennen nur die Betroffenen selbst und vielleicht die nächsten Angehörigen und Freunde. Was geschieht auf dieser verborgenen Seite des Lebens?

Nachdem man so viel geleistet hat, muss man sich zur Entspannung etwas gönnen. Anerkennende Worte der anderen klingen vielleicht nach, aber sie werden als hohl und leer empfunden. „Das kann ja nicht stimmen, wenn die wüssten, wer ich wirklich bin …!“ Also tröstet man sich selbst und verliert dabei leicht das Maß. Jeder hat so seine geheimen Tröster: Alkohol, Filme, Essen, Süßigkeiten, Chips, Sex, Pornografie, Internetspiele, Drogen, Kaufen … Und was ist das Ergebnis? Man erschrickt darüber, was man getan hat, und schämt sich erneut und tiefer für sein Verhalten und für sich selbst. „Wie konnte ich mich nur so gehen lassen?“ Damit hat man sich selbst wieder bestätigt, eigentlich ein Versager zu sein. Niemand darf das merken! Und so entwickelt sich ein Doppelleben, man ist gefangen in einem Teufelskreis von Erfolg und Versagen.

Menschen, die im Schamangst-Zyklus stecken, leiden oft an diesen Symptomen: Schuldgefühle, Depressionen, Selbsthass, Burnout, Süchte. Sie fühlen sich verlassen von Gott und Menschen, niemand scheint ihre Not zu sehen und keinem können sie vertrauen. Trotz aller Anstrengung und Erfolge haben sie immer das Gefühl, zu kurz zu kommen und das Ziel nicht zu erreichen. Je mehr sie dies realisieren, umso mehr strengen sie sich an und missachten dabei ihre Grenzen und die Grenzen anderer. Anja, eine junge Mutter, beschreibt ihren Kreislauf so:

Wenn meine innere Leere kommt, dann muss ich mir etwas gönnen. Ich genieße das Essen, es tut mir so gut! Also esse ich noch etwas mehr und dann noch etwas mehr und noch etwas. Manchmal esse ich so viel, dass mir schlecht wird. Einige Wochen später passen mir die Kleider nicht mehr. Hilfe! Ich habe übertrieben, ich hab mich gehen lassen, ich finde mich schrecklich! So mag ich mich überhaupt nicht! Ich fühle mich zu dick – was denken wohl die anderen? Nein, ich mag nicht mehr! Ich kann auch anders. Ich reiße mich zusammen. Ab morgen! Ab morgen mache ich eine Diät. Ab morgen mache ich Sport. Ich werde es denen schon zeigen, dass ich es geschafft habe, dass ich es wert bin. Die Diät beginnt. Der Sport beginnt. Am Anfang bin ich begeistert und motiviert. Ich habe mich radikal entschieden: entweder ganz oder gar nicht. Also esse ich fast gar nichts mehr. Mein konsequentes Verhalten gibt mir jetzt Wert, auch wenn es immer schwerer wird durchzuhalten. Aber ich habe ja schon etwas abgenommen, alle bewundern mich und sagen, wie toll ich bin. – Na ja, vielleicht gönn ich mir jetzt doch etwas. Nur eine Kleinigkeit. Aber – ich kann mich nicht bremsen. Nach meinem Alles-oder-nichts-Prinzip ist das jetzt sowieso egal. Aber ab morgen, da lebe ich wieder konsequent! Morgen! Aber heute stopfe ich alles in mich hinein, was ich finden kann. – Wie hasse ich mich jetzt dafür! Ich gehe nicht mehr aus dem Haus. Ich schäme mich so. So darf mich niemand sehen. Wenn die wüssten …! Aber ab morgen – da ist wieder alles anders. Da werde ich das wieder schaffen.

Eine andere Erfahrung hierzu:

Meine Familie war Anfang der 50er-Jahre aus Sachsen in den Westen geflüchtet. Wir hatten nur das Nötigste und es wurde von allen Kindern Mitarbeit und Fleiß erwartet. Ich war nicht dumm, brachte aber ständig schlechte Noten in Deutsch nach Hause. In der Schule beschämte mich der Lehrer und zu Hause gab es vom Vater regelmäßig ein Donnerwetter und sogar Schläge für meine schlechten Leistungen. Nie hat mir jemand geholfen und gezeigt, wie ich es hätte besser machen können. Heute weiß ich, dass ich eine Lese-Rechtschreib-Schwäche hatte und mich zusätzlich unser sächsischer Dialekt und die deutsche Schreibweise verwirrten. Angst und Scham waren meine ständigen Begleiter.

In meiner Ausbildung habe ich mich dann wahnsinnig angestrengt, denn ich wollte nie mehr vorgeführt, nie mehr kritisiert werden. Auf einer Fachschule lernte ich Betriebsleiterin und Fachberaterin. Meine Abschlussprüfung war purer Stress, weil die Anforderungen der Schule jedes Jahr hochgeschraubt wurden und wir vor allen anderen zeigen mussten, was wir konnten. Ich lernte wie verrückt, hatte aber innerlich den Eindruck, dass ich nichts konnte, sondern ein Versager war und es sowieso nicht schaffen würde. Schon die Prüfungsprobe war für mich ein Albtraum, denn ich erlebte, wie meine Mitschüler von den Lehrern vorgeführt und kritisiert wurden. Manche rannten heulend raus. So etwas wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Mein innerer Schambecher war schon randvoll. So hatte ich für den Prüfungstag alles super perfekt vorbereitet. Und ich erhielt tatsächlich sehr gute Noten! Für den Moment fühlte sich das richtig gut an. Ich hatte das Unmögliche geschafft! Ich hatte Erfolg! Ich war sichtbar und ganz oben auf der Gewinnerseite. Erwartungsvoll kam ich am Abend nach Hause. Aber mein Vater sagte nur: „Dann kann ich jetzt ja sterben“, und legte sich wieder hin. Ich brach zusammen.

Ich erhielt eine Stelle als Fachlehrerin für Hauswirtschaft. Der Unterricht und vor allem die Lehrproben waren für mich ein fürchterlicher Stress. Heute weiß ich, dass ich eine gute Lehrerin war, aber der Erfolg heilte nicht meine innere Scham. Mit 22 Jahren hatte ich durch den Stress ein offenes Magengeschwür. So einen Stress kann man nur begrenzt durchhalten, dann kommt die Erschöpfung. Bei mir kam sie regelmäßig nach jedem Leistungshoch. Ich war dann emotional und körperlich ausgeknockt und meiner inneren Leere und Unzufriedenheit ausgeliefert. Alle Anerkennung von Menschen klang für mich leer und unecht. Die kannten mich doch gar nicht wirklich! Wenn die wüssten …! Ich zweifelte alles an und glaubte nicht, irgendetwas gut gemacht zu haben, geschweige denn, selbst gut zu sein.

Am Tiefpunkt dieser Phase greifen viele zu falschem Trost, um ihre Depression und Einsamkeit zu betäuben und sich Gutes zu tun. Für den Augenblick scheint das erfüllend zu sein, aber niemand darf das wissen. Ich hatte keine falschen Tröster, ich wurde regelmäßig krank. Mein Körper streikte, weil meine Seele so erschöpft war. Dafür habe ich mich dann geschämt, denn es bewies, wie schwach und untauglich ich eigentlich bin! Am Tiefpunkt hatte ich nur das eine Ziel: wieder auf die Beine zu kommen, um zu funktionieren und den anderen zu beweisen, dass ich doch etwas kann. Und so startete mein Schamangst-Zyklus von Neuem.

Was wünschte ich mir eigentlich? Was hätte ich gebraucht? Anerkennung und Trost von meinen Eltern waren mir versagt geblieben. Also hoffte ich, dass mein Mann mir Trost geben könnte und mein beruflicher Erfolg meinen inneren Mangel ausfüllen würde. Ich dachte, dass auf diese Weise meine Würde glaubwürdig wiederhergestellt und dass sich damit endlich dieses widerwärtige Gefühl verlieren würde, unwert und falsch zu sein. Aber leider ging meine Rechnung nicht auf. Bei jeder neuen Aufgabe ging das Spiel von vorne los. Schweißausbrüche, Übelkeit, Durchfall. Ich schaffte es nicht, mich daraus aus eigener Kraft zu befreien.

Heilung kann geschehen, wenn ich es mir eingestehe, dass ich hilflos bin und meine Selbsterlösungsstrategien nichts bringen. Ich wusste nicht, wie ich die Angst, Fehler zu machen und beschämt dazustehen, ablegen konnte. In dieser Phase habe ich als junge Frau zu Jesus geschrien, dass er mir helfen soll. Und er hat tatsächlich mein Herz tief berührt durch den Dienst einer Frau, einer geistlichen Mutter, die mir zuhörte und meine Not verstand. Ihr Gebet legte die Grundlage für meine Selbstannahme. In den folgenden Jahren wurde mein Herz immer wieder berührt durch liebevolle Menschen und ich wurde zunehmend frei von der tiefen Scham. Mehr und mehr durften Fehler geschehen, ohne dass ich vor Scham versinken wollte. Es ist für mich heute nicht mehr schlimm, wenn mal was daneben geht oder wenn ich etwas falsch schreibe oder wenn ich im Seminar nicht alle Fragen beantworten kann. Fehler passieren immer, das darf sein, denn im Herzen weiß ich: Gott ist an meiner Seite und er ist für mich. Ich bin angenommen und geliebt – Gott sei Dank!

Wenn Sie in der Verliererseite feststecken und vielleicht sogar in Süchten verstrickt sind, sollten Sie sich professionelle Hilfe suchen. Sie brauchen eine kompetente Person, die Ihnen hilft, Ihre Scham zu bewältigen, und die Ihnen sagt, wie Sie sinnvoll entspannen können. Sie brauchen Anleitung, wie Sie Ihre Bedürfnisse wahrnehmen und gut für sich selbst sorgen können und wie Sie Grenzen setzen. Und wenn sich ein altes Muster wieder meldet, dann brauchen Sie jemand, der Sie auffängt und Ihnen Mut macht. So werden Sie mehr und mehr frei von den alten Mustern und ihr beschämtes Herz begreift: Ich brauche mich nicht dauernd anzustrengen, sondern auch wenn ich versage, bin ich geliebt und angenommen!

Fragen zur Selbstreflexion

• Finde ich mich im Schamangst-Zyklus wieder?

• Welche Lebensmuster finde ich auf meiner „Gewinnerseite“?

• Welche Muster zeigen sich in meiner verborgenen „Verliererseite“?

• Wer könnte mir helfen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen?