11. Hilfen für die Beratung

Das beschämte „innere Kind“ entdecken

Die Gebetssituationen, die wir beschrieben haben, ergeben sich meist nicht innerhalb einer Beratungssitzung. In der Regel geht dem eine längere Beratungszeit voraus, in der wir aktuelle Fragen und Nöte anschauen. Es ist uns wichtig, dass die Ratsuchenden zunächst den Zusammenhang zwischen ihren schlechten „Lebensfrüchten“ und den zugehörigen „Wurzeln“ verstehen. Dann können wir klären, ob die Wurzel eine Beschämung ist oder eine andere Verletzung. Dazu ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis.

Manfred kam in größeren Abständen zu mir. Mit etwa 60 Jahren war er Frührentner geworden, weil er immer wieder krank wurde. Das hatte dazu geführt, dass er seine Lebensenergie verlor, er war antriebslos und depressiv. Jahrzehntelang hatte er erfolgreich im Außendienst einer Firma gearbeitet. Sein Beruf hatte ihm Erfüllung gegeben und die war ihm nun genommen. Er fühlte sich unbrauchbar und überflüssig. Die Quelle seiner Identität war weggebrochen. Aus früheren Gesprächen wusste ich um sein schwieriges Elternhaus und vermutete dort die Wurzel für seine Verfassung.

Nachdem genug Vertrauen zwischen uns gewachsen war, konnte ich ihn auf die Spur bringen, die Zusammenhänge in seinem Leben zu erkennen. In einem Gespräch war er dann so weit, dass wir seine Geschichte Schritt für Schritt auf den Punkt bringen konnten. Ich stellte ihm Fragen. Seine Antworten schrieben wir auf jeweils ein Blatt Papier und legten die Blätter dann nacheinander vor ihm auf den Boden. Als sehr kognitiver Typ brauchte er eine sichtbare Struktur, um die Entwicklung in seinem Leben nachvollziehen zu können. Ich startete das Gespräch mit seinem gegenwärtigen Problem, denn wir gehen immer von der „Frucht“ zur „Wurzel“.

Berater:

„Manfred, was ist wichtig in deinem Leben? Oder wann bist du wichtig und richtig?“

Manfred:

„Gute Leistungen und perfekt sein.“
(Wir legen die ersten zwei Blätter mit diesen Begriffen auf den Boden.)

Berater:

„Okay, das ist wichtig für dich: gute Leistung bringen und perfekt sein. – Und warum sind diese Dinge so wichtig für dich?“

Manfred:

„Dann bekomme ich Anerkennung.“
(Das nächste Blatt, mit der Aufschrift „Anerkennung“, wird dazugelegt.)

Berater:

„Okay. … Bitte erkläre mir, wozu die Anerkennung für dich so wichtig ist.“

Manfred:

„Ich habe so einen schwachen Selbstwert und den will ich schützen.“ (Das nächste Blatt kommt dazu: „Selbstwert schützen“.)

Berater:

„Aha. Sag mal, warum musst du deinen Selbstwert so schützen?“

Manfred überlegt eine Weile:

„Weil ich Angst habe vor Verletzungen.“
(Blatt: „Angst vor Verletzungen“ kommt hinter die anderen.)

Manfred überlegt wieder:

„Hm … Ja, das waren so die erlebten Verletzungen zu Hause … Vor allem die Botschaften meiner Mutter, nicht nur vom Vater. Dazu kam damals eine körperliche Beeinträchtigung – die schlimmen Gefühle dazu und was darüber geredet wurde. Immer wieder habe ich gehört: ‚Du schaffst das nicht‘, ‚Das kannst du nicht‘, und in mir war ein tiefes Empfinden, minderwertig zu sein.“
(Weiteres Blatt: „Erlebte Verletzungen“ mit den Unterpunkten, „→ Minderwertigkeitsgefühle“.)

Berater:

„Okay. Das waren also die Botschaften und deine Verletzungen. Kannst du mir auch sagen, welche inneren Glaubenssätze sich durch diese Verletzungen in dir gebildet haben? Überlege mal: Welche Botschaften oder Überzeugungen leben tief in dir?“

Wieder denkt Manfred nach:

 

„Ich habe diese Sätze in mir: ‚Ich bin ein Versager. Ich bin unvollkommen und nicht wie die anderen. Ich tauge nichts. Ich habe viele Mängel.‘“

Gemeinsam arbeiten wir heraus: Die Grundlage ist mangelndes Vertrauen. Manfred kann Menschen nicht vertrauen, weil es zu Hause an Liebe und Anerkennung mangelte. Und als Resümee stehen über seinem Leben die Sätze der Eltern: Du bist ein Nichtsnutz, aus dir wird nie etwas! Verstärkt wurde die Botschaft durch einige Situationen, in denen er als Kind überfordert war, mit der Suchtproblematik des Vaters und den Konflikten der Eltern umzugehen. Dafür hatte er sich sehr geschämt und sich unzulänglich gefühlt. Das war für den Jungen der Beweis, dass er ein Versager war. (Die letzten zwei Blätter kommen dazu. Auf einem ist notiert: „In Manfred: Ich bin ein Versager. Ich bin unvollkommen. Ich bin nicht wie die anderen“ etc., auf dem anderen: „Grundbotschaft an Manfred: mangelndes Vertrauen, mangelnde Liebe und Anerkennung“ etc.)

Nun hatten wir uns von der Gegenwart durchgearbeitet bis zur kindlichen Wurzel und das überforderte, beschämte „innere Kind“ entdeckt. Manfred schaute auf die Blätter und erkannte, dass er aus Scham und der Angst vor möglichem Versagen und erneuter Scham sein übermäßiges Streben nach Anerkennung durch gute Leistungen und Perfektionismus entwickelt hatte. Solange er berufstätig war, konnte er täglich sich selbst und allen anderen beweisen, dass er gut war. Aber diese Zeit war vorbei. Er war nur noch ein kranker Rentner, der niemand mehr durch seine Leistungen beeindrucken konnte. Damit war sein schönes leistungsorientiertes Lebensgebäude zusammengebrochen. In seinem Schamangst-Zyklus war er tief in die Verliererseite eingetaucht und darin stecken geblieben. Seine angelernten Rollen, die er lange und gut gespielt hatte, waren nicht mehr möglich und er war seinen alten Glaubenssätzen und seiner schwachen kindlichen Identität ausgeliefert, nämlich ein Versager zu sein. Seine schwache Identität war täglich zu spüren – kein Wunder, dass das zur Depression führte.

Wie fand Manfred Heilung? Allein schon die Zusammenhänge zu erkennen und den Ursprung seiner negativen Glaubenssätze zu verstehen, brachte ihm Erleichterung. Manfred war als Kind über viele Jahre demütigenden Botschaften ausgesetzt gewesen. Da gab es nicht die eine Situation, an der man die Scham hätte auflösen und Trost hätte geben können.

Aber durch unser Gespräch war seine Kind-Erinnerung mit allen Gefühlen aktiviert worden. Die ganze Scham und das Elend von damals waren präsent. Manfred war nicht der Typ, der durch innere Bilder einen leichten Zugang zu Jesus hatte. Darum fragte ich: „Darf ich für dich beten?“ Er war gerne einverstanden. So legte ich meinen Arm um ihn und brachte die ganze Not des Kindes vor Gott. Ich hielt inne, um zu erspüren, was Gott-Vater dem beschämten Kind wohl sagen wollte, und sprach es laut aus: „Du warst damals überfordert, du konntest das nicht managen. Deine Eltern haben gesagt, du bist ein Nichtsnutz und du bist nichts wert, aber Gott ist dein wahrer Vater und dein Erlöser und er sagt: ‚Ich sehe, wie sehr du dich bemüht hast, kleiner Manfred. Dein Vater hatte ein Suchtproblem und du konntest ihm nicht helfen. Aber du hast dich wirklich bemüht und warst dann so enttäuscht und hast dich so geschämt, dass es dir nie gelungen ist, die Situation zu ändern.‘ Ich habe den Eindruck, dass Gott, dein Vater, sagt: ‚Manfred, ich habe großen Respekt vor dir, denn du hast dein Bestes gegeben. Aber es war die Entscheidung der Erwachsenen, sich nicht zu ändern. Du warst überfordert, du brauchst dich dafür nicht schämen. Du bist kein Versager.‘ – Kannst du das mal selbst laut aussprechen: ‚Ich war als Kind überfordert, dafür brauche ich mich nicht zu schämen. – Ich war überfordert, deshalb bin ich noch lange kein Versager.‘“ Manchmal lasse ich solche Sätze öfter laut wiederholen, bis ich den Eindruck habe, dass sie beim inneren Kind angekommen sind und die alten Glaubenssätze übertönen. Oder ich gebe es als Hausaufgabe mit, die neuen Sätze täglich zu wiederholen, bis sie verinnerlicht sind. Denn das sind die Botschaften, die das innere Kind hören muss. Als Berater oder Seelsorger haben wir die Autorität, das Kind zu segnen und es von den alten Lügen freizusprechen.

Dieses Gespräch und das Gebet haben Manfred innerlich erreicht. Sein inneres Kind fühlte sich gesehen und getröstet und sicher bei Jesus. Seine Depression verschwand nach und nach und er konnte (nach Absprache mit dem Arzt) seine Medikamente absetzen.

Die Wut rauslassen

Es kann hilfreich sein, wenn man mal richtig wütend wird auf die schlimme Situation damals. Viele Beschämte verspüren jedoch keine Wut; die Ohnmacht und die Angst überwiegen. Manche haben sich diese Gefühle auch verboten, weil sie immer lieb und nett sein wollten. Aber es war damals schlimm und gemein und unfair! Es gibt jedoch auch Persönlichkeitstypen, die darüber durchaus Zorn empfinden. Es kann manchmal eine Weile dauern, bis sie an ihren Ärger oder ihre innere Wut kommen. Wenn das „innere Kind“ dann mit dem Täter schimpfen darf und ihm oder ihr die Meinung sagen darf, ist das sehr entlastend und befreiend.

Wir machen das gerne mithilfe einer „Stuhlübung“. Für den Täter wird ein leerer Stuhl hingestellt und der oder die Ratsuchende stellt sich vor, dass dort der Täter sitzt. Nun darf man dem Täter seinen ganzen Frust sagen. Als Berater begleiten wir diese Übung, wir ermutigen oder bremsen, je nachdem, was nötig ist. Am Ende leiten wir dazu an: „Es war gut, die Wut so rauszulassen, aber nun ist es vorbei. Jetzt komm wieder im Heute an. Lass jetzt noch alle Erwartungen an die Person los. Dann wende dich ab und entferne dich langsam von ihr.“ Manchmal führen wir noch in die Vergebung, aber nicht immer. Das Vergeben kann später nachgeholt werden. Solch eine Übung ist sehr heilsam bei allen unbewältigten Verletzungen, wo noch unterdrückter Zorn schlummert.

Eine andere Methode, beschämende Familienmuster aufzudecken, ist das Familienstellen. Bei einigen Familienaufstellungen wurde sichtbar, welche verwirrenden doppelten Botschaften die Eltern gesendet hatten, und die Opfer verstanden auf einmal ihr beschämendes Familiensystem. Sie konnten in der Aufstellung ihre Gefühle und ihre Position mit Vater oder Mutter klären und kamen so zu neuer innerer Freiheit.

Eine Neubewertung der Vergangenheit

Bei den beschriebenen Hilfen geht es immer darum, den beschämenden Erlebnissen die Schwere zu nehmen, zu einer neuen Lebenssicht zu kommen und neue Entscheidungen zu treffen, die mehr Freiräume ermöglichen.

Dazu kann es auch hilfreich sein, sich die Kindheit noch einmal bewusst aus der Erwachsenenperspektive anzuschauen. Die erwachsene Person wird zum „Anwalt“ des „inneren Kindes“ und erklärt ihm, was damals eigentlich los war und dass es sich dafür nicht mehr zu schämen braucht. Das kann vor allem hilfreich sein, wenn die Scham aufgrund von Überforderung im Elternhaus oder durch Ablehnung in der Familie entstanden ist. Wie geht das praktisch?

Sie können einen verständnisvollen, tröstenden Brief an Ihr „inneres Kind“ schreiben. Nehmen Sie dazu innerlich diese Haltung ein: Ich als Erwachsener werde mich jetzt um das Kind kümmern, das ich früher war, und ihm einen verständnisvollen Brief schreiben, in dem ich erkläre, was damals abgelaufen ist und dass es völlig überfordert war, damit umzugehen. Das Schreiben hilft, sich zu konzentrieren, das Kind aufzuspüren und in eine echte Kommunikation zu kommen. Sie tun im Prinzip nichts anderes als das, was wir im Trostgebet für eine beschämte Person beten.

Schaffen Sie sich dazu einen Freiraum und machen Sie es sich bequem, um diesen sehr persönlichen Brief an Ihr verletztes „inneres Kind“ zu schreiben. Vielleicht legen Sie ein altes Kinderfoto vor sich hin, damit Sie den Adressaten lebhaft vor Augen haben. Erinnern Sie sich nun an die Zeit, wo Sie sich als Kind überfordert fühlten. Vermeiden Sie dabei traumatische Einzelerlebnisse – die Erinnerung daran könnte Sie retraumatisieren. Wenn Sie sich selbst dann wieder als Kind wahrnehmen, können Sie loslegen. Schreiben Sie anteilnehmend und kindgemäß auf, was immer so ein einsames, überfordertes Kind hören sollte, um entlastet zu werden. Gerne können Sie beim Schreiben auch öfter innehalten und nach innen lauschen, ob Ihr „inneres Kind“ einen Kommentar dazu gibt oder eine Frage stellt. Dann antworten Sie dem Kind schriftlich. So kann es zu einer richtigen inneren Kommunikation kommen. Auf diese Art können das kognitive Gedächtnis und das emotionale Gedächtnis miteinander kooperieren und bestimmte Erfahrungen neu einordnen. Damit man diesen Prozess anschließend nicht wieder hinterfragt, empfehlen wir, das Ganze von einem Seelsorger begleiten zu lassen und gemeinsam zu reflektieren, wie der Prozess gelaufen ist. So kann man auch den einen oder anderen Gedanken vertiefen.

Wahrscheinlich ist diese Aufgabe neu und sehr ungewohnt für Sie. Um Ihnen Mut zu machen, zeigen wir Ihnen hier, wie solch ein Brief z. B. an ein überverantwortliches, hochsensibles Kind lauten könnte. (Hochsensible fühlen sich als Kinder häufig unverstanden und entsprechend beschämt.)

„Liebe …! Ich schreibe dir, weil ich verstanden habe, dass es dir damals in der Familie gar nicht gut ging. Du warst sehr sensibel, sogar hochsensibel, und hast immer alles genau beobachtet und dir deine Gedanken gemacht. Darum brauchtest du einfach mehr Zeit zum Nachdenken. Oft warst du von den vielen Eindrücken auch überfordert und überstimuliert. Dann hast du bei Kleinigkeiten oder auch ohne Anlass geweint, weil du nicht wusstest, wohin mit deinen angestauten Emotionen. – Aber das ist normal für hochsensitive Kinder.

Weil du in deinem Wesen nicht verstanden wurdest, hast du dich für dich selbst geschämt. Zum Schutz hast du dich oft zurückgezogen oder du hast in Gedanken geträumt. Manchmal wurdest du auch aggressiv. Das war ein notwendiges Ventil für dich, aber die anderen haben dich dann als anstrengend, überempfindlich, nervig, nicht belastbar oder … empfunden und dich für dein Verhalten verurteilt. Das hat wehgetan und du hast dich dann geschämt, konntest aber nicht raus aus deiner Haut.

Manche haben dir verbal und nonverbal vermittelt: Du bist verkehrt / schwierig / komisch / seltsam / ein Angsthase / eine Heulsuse / eine Spaßbremse / ein schwarzes Schaf / ein Streber / oder …

Irgendwann hast du diesen Botschaften geglaubt. Du kamst dir selbst vor wie ein Versager, als verkehrt, als falsch und nicht in diese Welt passend. Du fühltest dich im Tiefsten unverstanden, verkannt und abgelehnt. Das hat sehr wehgetan, und du hast dich und deine Art selbst abgelehnt, dich dafür geschämt und wolltest gerne anders sein.

Aber heute weiß ich, dass ich damals gar nicht verkehrt war.“ (Wenn Sie vom Heute reden, wechseln Sie vielleicht in die Ich-Form.) „Vielmehr habe ich als hochsensitive Person schon immer mehr wahrgenommen als andere und brauchte einfach mehr Zeit zum Denken und Verarbeiten und Reden. Und immer noch bin ich schneller überstimuliert, weil ich innerlich so viel zu verarbeiten habe. Und dann bin ich manchmal ganz plötzlich erschöpft. Aber das ist normal für diese Menschen und kein Makel! Ich bin kein Fehler! Das gehört einfach zu meinem Leben.

Darum muss ich auch heute darauf achten, genug Zeit für mich selbst zu haben, um Dinge zu verarbeiten, weil ich sonst überreizt bin und meine Leistungsfähigkeit nachlässt. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass in meiner Kindheit und auch heute andere Menschen sich in das, wie es mir innerlich geht, nicht einfühlen können. Das muss ich so stehen lassen. Aber ich war damals nicht verkehrt und bin heute nicht verkehrt, ich bin einfach nur anders! Wir brauchen uns nicht mehr dafür zu schämen, anders zu sein!

Ich werde nun für meine hohe Sensibilität sorgen, wie eine Mutter für ihr kleines Kind sorgt. Ich werde zu mir selbst stehen und die Verurteilungen anderer nicht mehr akzeptieren. Darum kann ich heute auch die Verurteilungen und Worte ablegen, mit denen man mich abgestempelt hat und die mir wie ein Etikett anhaften. Das war die Sichtweise anderer, aber das bin ich nicht! Ich lasse mir dadurch meine Lebensfreude nicht mehr nehmen! Ich darf sein, wie ich bin!“

Vielleicht schreiben Sie an dieser Stelle die Sätze auf, die andere über Sie ausgesprochen haben, und überlegen, wie Sie diese Botschaften entmachten können. Welche symbolische Handlung könnte dabei hilfreich sein?

Symbolische Handlungen

Auch als Erwachsene sind wir beschämenden Situationen und Handlungen ausgeliefert, leider sehr oft sogar im religiösen Umfeld. Ein guter Freund von uns war viele Jahre als Pastor tätig. Er erlebte einen geistlichen Aufbruch in seiner Gemeinde, was dem Gemeinderat nicht gefiel. So wurde er von der Kirchenleitung nach einem längeren Prozess von seinem Posten entbunden. Die Art und Weise, wie mit dem Konflikt umgegangen wurde und wie er in dem Konflikt behandelt wurde, war für ihn sehr beschämend und demütigend. Er beschreibt seine Erfahrung so:

Es war gegen Ende der neunziger Jahre. Man hatte mich beschämt, eingeschüchtert und vorgeführt. Ich fühlte mich unehrenhaft aus dem Dienst als Pastor entlassen. So, als hätte ich ein schweres Dienstvergehen begangen. Es waren unterschwellige Schuldzuweisungen. Man nannte das „ungedeihliche Zusammenarbeit“.

Meine Frau und ich haben dann eine andere erfüllende Aufgabe gefunden, aber unser damaliger Supervisor empfand, dass wir nicht mutig vorwärts gingen, sondern eher wie mit angezogener Bremse unterwegs waren. Ja, die Last der Vergangenheit, die Last der erlebten Beschämung lag schwer auf uns und machte unser Denken und Handeln zäh. Meine innere Trauer und Scham zeigte sich auch in meiner Kleidung: Es war mir nicht nach leuchtenden Farben. Das geschah unbewusst. Nach einiger Zeit schlug der Supervisor vor, ob wir die Vergangenheit annehmen, womöglich ablegen und begraben wollten, um innerlich frei zu sein für das Neue.

„Aber wie macht man das?“, fragten wir uns und andere. Es müsste ein Ritual gefunden werden, um das Alte abzulegen und neue Würde zu empfangen. Wir sprachen darüber mit Freunden und fragten, ob sie uns behilflich sein könnten. Ihnen schütteten wir unser Herz aus und gingen gemeinsam in die Stille vor Jesus. Da wurde uns klar, wie es gehen könnte. Ich wollte ein Symbol finden für meine schweren Gefühle und meine Frau wollte ihre Last in einem Gebet aufschreiben. Ich suchte länger nach einem schweren Stein, aber in jener sandigen Gegend war es schwer, einen entsprechenden Stein mit großem Gewicht zu finden. Bei der Suche entdeckte ich jedoch auch ein mir wundersam erscheinendes Blatt: auf einer Seite war es grün und auf der Unterseite strahlend weiß. Es war wie eine neue Seite des Lebens. Blatt und Stein nahm ich mit. Dann legten wir alles ab auf einem Tisch, der uns als Altar diente. Wir sprachen nochmals Vergebung aus, empfingen Vergebung für unseren Anteil und Zuspruch von unseren Freunden. Dann haben uns die Freunde gesegnet. Diese Handlung hat uns innerlich freigesetzt. Nun war ich bereit für einen herrlich roten Pullover, den ich gerne trage. Die Zeit der gedeckten Farben, unbewusste Zeichen meiner Scham, war vorbei, meine Würde war wiederhergestellt.

Es gibt andere symbolische Handlungen, die hilfreich sind, um beschämende Erfahrungen zu verarbeiten und dem verletzten Herzen deutlich zu machen, dass die Macht der Scham gebrochen und die Würde wiederhergestellt ist. Manchmal benutzten wir weiße Tücher, um sie den Ratsuchenden umzulegen. Ein anderes Mal haben wir die Seminarteilnehmer kleine Stöcke sammeln lassen. Sie konnten ihre Schambotschaft darauf schreiben oder ihre inneren Antreibersätze, die aus der Scham kamen. Unser Bezugspunkt war Jesaja 9,3: „Denn du hast das Joch zerbrochen, das auf ihm lastete, und den Stab auf seiner Schulter, und den Stecken seines Treibers.“ Nach dem Vortrag konnten die Teilnehmer in kleinen Gruppen erzählen und beten und dann im Namen Jesu diese Stöcke, die symbolisch für den Stecken ihrer inneren Antreiber standen, zerbrechen. Für manche war dies der Abschluss eines inneren Prozesses, für andere der Start, ihre beschämenden Verletzungen aufzuarbeiten.

Einen ganz anderen Zugang zu ihrem verletzten Herzen hat Judith gefunden. Ihr hat es geholfen, mit Ton zu arbeiten:

Durch einen Tonworkshop auf der Zeltstadt19 2004 hatte ich gefunden, wonach ich schon so lange gesucht habe. Das Thema lautete: Meiner Sehnsucht auf der Spur. Ich saß etwas abseits von den anderen und hielt ein großes Stück Ton in den Händen. Ich ließ mich auf keine Unterhaltung mit den anderen Teilnehmern ein. Eine ganze Woche hatte ich den Ton jeden Vormittag in meinen Händen. Ich war total versunken in mich selbst. Ich formte erst ein Herz und dabei erlebte ich innerlich, wie Jesus mein Herz in seiner Hand hält, ganz behutsam und vorsichtig. Er hielt mein Herz fest, damit es nicht fällt, und er flüsterte mir zu, dass Papa im Himmel mich liebt und ich auch SEIN Herz berühren darf. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich viele Tränen vergossen. Aber die Scham hinderte mich daran.

Und ich hatte auch Angst, dass alles wieder kaputt geht. Jeden Augenblick habe ich innerlich genossen und diese Liebe aufgesaugt. Und ich habe mich getraut, mich selbst in dieses Herz hineinzumodellieren. Ich wollte nicht nur am, sondern IM Herzen meines Vaters sein. Dort kann ich nicht mehr rausfallen. Durch diese Erfahrung beim Tonen bin ich endlich angekommen. Jetzt brauche ich nicht mehr zu suchen und kann auch ganz entspannt eine Umarmung mit einem „väterlichen Segen“ von väterlichen Menschen empfangen.

In den vergangenen Jahren durfte ich immer tiefer in diese Vaterliebe Gottes eintauchen. Das gab und gibt meinem Leben ein festes Fundament. Im Alltag lerne ich heute noch, was es bedeutet, „geliebt zu leben“. Es ist dadurch so viel Freiheit und Weite in mein Leben gekommen. Ich lerne, dass ich geliebt bin und mich nicht selbst zu verdammen brauche, wenn ich Fehler mache oder mal wieder mit meinen Gefühlen kämpfe, alte Muster in mir anspringen, ich schwach bin, mich traurig oder einsam fühle.

In solchen Situationen suche ich jetzt recht schnell das Gespräch mit Dagmar oder anderen Freunden und wenn es notwendig ist, auch mal mit einem Seelsorger. Ich muss es nicht mehr allein schaffen und brauche mich auch nicht mehr zu schämen. Ich weiß, dass ich Menschen habe, denen ich sehr wichtig bin. Ich bin wichtig für andere. All die Jahre war mir gar nicht bewusst, dass in meinem Leben die Scham größer war als mein eigener Wille und der Wunsch, die alten Prägungen hinter mir zu lassen.

Helga, die durch ihren Vater zutiefst beschämt worden war, haben diese Schritte geholfen:

Der Tod meines Vaters war noch mal eine schreckliche Demütigung für mich und meinen Bruder. Um uns zu ärgern, hat er uns zwei Wochen vor seinem Tod unter fadenscheinigen Begründungen enterbt. Und das, obwohl ich mich für ihn bis zur Erschöpfung aufgeopfert hatte. Als ich das erfuhr, habe ich bestimmt zehn Minuten lang laut geschrien. Einige Monate danach habe ich einen Brief an meinen Vater geschrieben, in dem ich alles benannte, was er mir angetan hatte und was es mit mir gemacht hat. Es war ein sehr heftiger, langer Anklagebrief. Diesen Brief habe ich dann vergraben. Das war ein guter Abschluss für mich.

Meine Würde und Ehre wurden wiederhergestellt durch Annahme und Wertschätzung in guten Freundschaften. Aber auch durch liebevolle Gottesbegegnungen, durch innere Bilder und Worte der Ermutigung, besonders aus dem Buch des Propheten Jesaja. Ich habe auch Gottes Fürsorge erlebt und kann ihn nun als meinen guten Vater sehen. Ich lerne immer mehr zu begreifen, was meine Identität als Kind Gottes ausmacht. Eine Hilfe dabei ist mein Sohn, der vor einem Jahr Vater geworden ist. Wenn ich beobachte, wie er mit seinem kleinen Sohn umgeht, ist das sehr heilsam für mich, denn es ist mein Anschauungsunterricht, wie Gott mich liebt und sich um mich kümmert.

Heute muss ich mich nicht mehr innerlich verbiegen, um Annahme zu erleben. Wenn bestimmte negative Erinnerungen getriggert werden, kann ich damit zu Gott gehen und finde bei ihm Trost. Um mir den Unterschied vor Augen zu halten, habe ich zwei Bilder von mir gemalt: eines mit Ketten und eines ohne Ketten.

Die Umsetzung im Alltag lernen

Heilung und Trost zu empfangen für beschämende Erfahrungen ist sehr befreiend. Aber es ändern sich nicht automatisch unsere eingefahrenen Denkmuster und Handlungsabläufe. Es ist wie bei einer körperlichen Verletzung. Oft nehmen wir eine Schonhaltung ein, um Schmerz zu vermeiden. Wenn dann die Verletzung ausgeheilt ist, muss diese Schonhaltung wieder wegtrainiert werden. Das kann einige Zeit beanspruchen.

So ist es auch bei den seelischen Wunden. Durch beschämende und verletzende Erlebnisse entwickeln wir negative Glaubenssätze über uns selbst. Aus der Schamangst heraus treffen wir grundlegende Entscheidungen, die fortan unser Leben bestimmen. Sehr bald gehören diese Denkmuster und Handlungsabläufe zu uns. Sie werden uns so vertraut, dass wir oft gar nicht mehr merken, wie unsinnig oder überflüssig sie eigentlich sind. Diese negativen Folgen sind nicht automatisch weg, wenn wir Trost und Heilung erleben.

Wenn die Schamangst sich nur auf ganz bestimmte Situationen bezieht, ist eine Verhaltensänderung recht leicht zu lernen. Aber wenn durch die Schamangst ein ganzer Lebensstil entstanden ist, dann muss man daran arbeiten, wie jetzt das Verhalten im Alltag aussehen soll. Schritt für Schritt müssen neue Handlungsmuster eingeübt werden. Neue, Mut machende Erfahrungen helfen, das alte Muster schneller zu überwinden. Wer an seinen schlechten Mustern bereits gearbeitet hat, braucht meist nur die Trosterfahrung, um frei zu sein für das neue Leben.

Fragen zur Selbstreflexion

• Welche der beschriebenen Heilungsschritte kenne ich schon?

• Welche der beschriebenen Schritte möchte ich gehen?

• Was oder wer kann mir dabei helfen?

• Was ist mein erster oder mein nächster Schritt, um Trost und Würde zu empfangen?