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Als Evelyn zu Hause ankam, war es kurz nach dreizehn Uhr. Tillmanns Worte hallten noch immer in ihr nach. Aber es war nicht nur das, was er an beruflichen Folgen auf sie zukommen sah, sollte sie Kleinbauers Gutachten wirklich abgeben. Fast mehr noch beschäftigte sie das, was er über ihre Gedanken zu Fabian gesagt hatte, und ihre Antwort darauf.

Nahm sie mittlerweile wirklich gedanklich in Kauf, dass Fabian vielleicht der gesuchte Serienmörder sein könnte, nur um ihre Theorie nicht aufgeben zu müssen, dass doch er es gewesen war, den Grövich am See gesehen hatte? Dass er lebte und in ihrer Nähe war? Dass er Hilfe brauchte?

Evelyn ging in die Küche und schaltete den Kaffeevollautomaten an. Sie hatte noch nichts gegessen, verspürte aber überhaupt keinen Appetit. Ein starker schwarzer Kaffee würde ihr jetzt guttun.

Kurz darauf saß sie am Tisch, ihr aufgeklapptes Notebook vor sich, die Tasse mit dem dampfenden Kaffee daneben. Sie hatte den Ordner mit Fabians Fotos geöffnet, und während sie eines nach dem anderen anklickte, dachte sie an die Situationen, in denen die Aufnahmen entstanden waren. Sie betrachtete ein Bild, das Fabian auf einem kleinen Flugplatz vor einer Propellermaschine zeigte. Er trug einen roten Overall und hatte das Gurtzeug angelegt, mit dem der Tandem-Master ihn kurz nach der Aufnahme für den gemeinsamen Fallschirmsprung mit seinen Gurten verbunden hatte. Nachdem Fabian selbst viele Jahre lang keinen Fallschirmsprung mehr durchgeführt hatte, war seine Lizenz erloschen, und er durfte das Flugzeug nur noch mit einem ausgebildeten Tandem-Master verlassen. Der Sprung war ein Geburtstagsgeschenk von Evelyn. Es war der letzte Geburtstag vor Fabians Verschwinden gewesen.

Irgendwann, mittlerweile waren fast zwei Stunden vergangen, schloss sie den Foto-Ordner, öffnete den Browser und ließ sich die neuesten Meldungen über den Camper anzeigen. Einige der Plattformen gaben sich zumindest den Anschein einer seriösen Berichterstattung, andere überschlugen sich förmlich vor effekthascherischen Schlagzeilen. Zum neuesten Fall gab es nur einige Kurzmeldungen, dass der Camper wahrscheinlich ein weiteres Opfer gesucht hat, die Tat jedoch vereitelt werden konnte. Einzelheiten dazu sollten bald folgen.

Vermutlich hielt die Pressestelle der Polizei die Details dazu bewusst noch zurück.

Kurz nach sechzehn Uhr rief Tillmann an.

»Die Bremer Kollegen haben den Mann befragt, der letzte Nacht so beherzt eingegriffen hat. Sie haben ihm das Phantombild gezeigt.«

»Und?«, fragte Evelyn aufgeregt. »Was hat er gesagt?«

»Er hat den Angreifer sofort darauf erkannt und meinte, das Phantombild treffe das Aussehen des Täters recht gut, bis auf eine Sache: Der Mann habe eine Narbe am Hals.«

»Eine Narbe …«

»Ja. Dein Bruder hatte keine Narbe, oder?«

»Nein, aber das schließt ja nicht aus, dass er es trotzdem ist. Im Gegenteil. Wenn Fabian noch lebt, muss es einen Grund dafür geben, dass er sich nicht bei mir gemeldet hat. Eine solche Narbe könnte auf eine schwere Verletzung hindeuten. Vielleicht hat er wirklich sein Gedächtnis verloren?«

»Du hattest Grövich explizit nach Narben gefragt, und er war sicher, keine gesehen zu haben, aber das will nicht unbedingt etwas heißen. Je nachdem, wo am Hals die Narbe sich befindet, kann sie verdeckt gewesen sein, als der Mann vor Grövich stand. Aber wenn deine Theorie mit dem Gedächtnisverlust stimmen würde, was ist mit den Nachrichten, die du bekommen hast?«

»Ich weiß es doch auch nicht.« Sie hörte selbst, dass sie verzweifelt klang.

»Okay, Vorschlag: Wollen wir einen Abstecher an die Weser machen?«

»Zu dem Zeugen?«

»Ja.«

»Selbstverständlich, wann?«

»Ich hole dich in einer halben Stunde ab.«

»Ich danke dir!«, sagte sie, und es kam von Herzen.

 

Jasper Kriebich begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln, als er die Tür seines Hauses in der Nähe der Dreienkamp-Schule in Schwanewede öffnete. Evelyn kannte die Immobilienpreise in dieser Region nicht, aber ein Anwesen wie das von Kriebich hatte sicher einen Preis, der mit einem normalen Gehalt kaum zu stemmen war.

Das eineinhalbstöckige, weiß verputzte Gebäude war recht breit und thronte inmitten eines großen Grundstücks. Auf der rechten Seite schloss sich eine Doppelgarage mit Satteldach an, deren bogenförmige Tore aussahen, als seien sie gerade erst neu eingesetzt worden. Eine breite, geschwungene Auffahrt führte zur Garage, ein schmalerer Weg aus hellem Naturstein teilte den gepflegten Rasen in der Mitte des großzügigen Vorgartens und führte zur Eingangstür aus massivem, dunklem Holz. Alles an diesem Haus deutete auf Wohlstand hin.

Kriebich war Ende vierzig, hatte eine sportlich-schlanke Figur und volle, dunkle Locken. Sein markantes, leicht gebräuntes Gesicht tat ein Übriges, dass Evelyn ihn wahrscheinlich für einen Italiener oder Spanier gehalten hätte, wenn sie ihm irgendwo zufällig begegnet wäre.

Nur das breite Pflaster auf seiner linken Wange und das geschwollene, gerötete linke Auge sowie der dunkel verfärbte Bereich darunter trübten das Bild.

»Herr Hauptkommissar Tillmann, nehme ich an?«, sagte er, bevor er sich Evelyn zuwandte und ihr die Hand entgegenstreckte. »Und Sie sind sicher eine Kollegin von Herrn Tillmann?«

Evelyn ergriff die Hand. Kriebichs Händedruck war fest, aber nicht unangenehm. »Nein, mein Name ist Evelyn Jancke, ich bin Psychologin.«

»Oh, das ist sehr fürsorglich, aber ich hatte schon einen Psychologen hier. Mir geht es gut. Kein Trauma, keine Angstzustände.« Erneut zeigte Kriebich sein Lächeln, das Evelyn auf eine angenehme Art berührte. In der nächsten Sekunde war dieses Gefühl jedoch schon wieder verflogen und machte der unangenehmen Nervosität Platz, die sie bereits gepackt hatte, als sie in Oldenburg losgefahren waren. Sie war hier, um etwas über einen Mörder zu erfahren, der sich vielleicht als ihr Bruder Fabian herausstellte.

»Frau Jancke ist in anderer Funktion hier«, erklärte Tillmann. »Sie unterstützt die Sonderkommission, die mit diesem Fall betraut ist, bei den Ermittlungen.«

»Na, dann: herzlich willkommen. Aber bitte, treten Sie doch ein.«

Sie folgten Jasper Kriebich durch eine großzügige, helle Diele in ein Wohnzimmer, das etwa die Größe von Evelyns kompletter Wohnung hatte. Blickfang des Raumes war ein großer, offener Kamin mit terracottafarbenem Sims, auf dem mehrere Schwarz-Weiß-Fotografien in silbernen Rahmen standen.

Die helle, u-förmige Wohnlandschaft davor bot nach Evelyns Schätzung Platz für mindestens acht Leute.

An den Wänden hingen mehrere Pop-Art-Gemälde in verschiedenen Größen. Mit ihren knalligen Farben bildeten sie einen starken Kontrast zu den weißen Wänden und dem hell gefliesten Boden. Der ganze Raum wirkte auf Evelyn wie von einem Innenarchitekten entworfen, allerdings ohne dabei steril und unpersönlich zu wirken.

Kriebich deutete auf die Wohnlandschaft. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

»Nettes Haus«, bemerkte Tillmann, nachdem er sich gesetzt hatte, und sah sich in dem großen Raum um.

»My home is my castle«, entgegnete Kriebich lächelnd und ließ sich Tillmann gegenüber nieder. Dann schaute er sich ebenfalls in seinem Wohnzimmer um, als müsse er sich in Erinnerung rufen, wie es hier aussah.

Tillmann nickte. »Sieht recht kostspielig aus, Sie scheinen gut zu verdienen.«

Kriebichs Lächeln verlor ein wenig an Natürlichkeit. »Von einem normalen Menschen würde ich diese Bemerkung als übergriffig empfinden, aber Sie als Polizist haben natürlich andere Beweggründe. Ja, es stimmt, das alles hat eine ganze Stange Geld gekostet. Ich hatte Glück mit meiner Softwarefirma. Wir haben ein Personal-Modul für SAP entwickelt – das ist der Weltmarktführer in Software für die Steuerung von Geschäftsprozessen –, das mittlerweile international von großen Unternehmen und Konzernen eingesetzt wird. Vor zwei Jahren habe ich die Firma für einen geradezu obszön hohen Preis verkaufen können. Seitdem gönne ich mir die eine oder andere Annehmlichkeit.«

»Sie sind also Privatier?«

Kriebichs Lächeln wurde wieder herzlicher. »Wenn Sie es so nennen wollen, ja. Ich bezeichne mich lieber als Rentner. Aber genug über mein Auskommen. Sie sagten am Telefon, Sie möchten sich mit mir über die letzte Nacht unterhalten.« Er zuckte mit den Schultern. »Das tue ich gern, aber eine Kollegin und ein Kollege von Ihnen haben mir schon alle Fragen gestellt, die mir dazu einfallen.«

»Das waren Kollegen aus Bremen. Wir kommen aus Oldenburg, wo die ersten Morde eines Serientäters verübt wurden, bei dem es sich vielleicht um denselben Kerl handelt, dem sie in der vergangenen Nacht begegnet sind.«

»Verstehe. Und wie das meist so ist, läuft die Kommunikation zwischen den einzelnen Stellen nicht so optimal, wie man sich das wünschen würde. Deshalb wollen Sie sich ein eigenes Bild machen. Dabei fällt mir ein, ich habe Sie noch gar nicht gefragt, ob Sie etwas trinken möchten. Bitte entschuldigen Sie, ich bin sonst ein besserer Gastgeber, aber offensichtlich hallen die Erlebnisse der letzten Nacht doch noch ein wenig in mir nach. Also: Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, danke«, erwiderte Evelyn, bevor Tillmann etwas sagen konnte. »Aber die letzte Nacht ist das richtige Stichwort.« Dieses ganze Geplänkel dauerte ihr zu lange. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

»Sie haben den Täter aus nächster Nähe gesehen. Würden Sie ihn auf einem Foto wiedererkennen?«

Zum ersten Mal, seit sie angekommen waren, wurde Kriebichs Miene ernst. »Ja, das würde ich. Er war mir nahe genug, um mir ein paar Blessuren beizubringen, als ich ihn daran gehindert habe, diesen anderen Mann niederzustechen.«

Evelyn sah zu Tillmann hinüber, der verstand. Er schaltete den mitgebrachten Tablet-PC an und tippte darauf herum. »Ich zeige Ihnen vier Fotos von Männern, die für die Tat in Frage kommen. Vielleicht haben wir Glück, und Sie erkennen den Mann auf einem von ihnen.«

Er legte das Tablet vor Kriebich auf den Couchtisch. »Um zum nächsten Foto zu kommen, wischen Sie einfach nach links.«

Evelyns Herz hämmerte so heftig, dass sie das Gefühl hatte, jeder im Raum müsse es hören.

Kriebich betrachtete schweigend das erste Foto, das nicht Fabian zeigte. Schon nach zwei, drei Sekunden wischte er weiter. Bei der zweiten Aufnahme schüttelte er entschlossen den Kopf, dann fiel sein Blick auf Bild Nummer drei, und auf seiner Stirn zeigten sich tiefe Falten. Sekunden verrannen, in denen Evelyn das Atmen vergaß, während sie immer wieder zwischen Kriebichs Gesicht und dem Foto auf Tillmanns Tablet-PC hin und her sah. Dem Foto, das Fabian zeigte.

»Hm, also …«, murmelte Kriebich, als rede er mit sich selbst. »Ich glaube, der ist es auch nicht, aber er sieht ihm ähnlich.«

»Das Foto ist schon etwas älter, fast drei Jahre. Vielleicht hat er sich verändert. Könnte das sein?«

Kriebich rieb sich mit der Hand nachdenklich über das Kinn. Evelyn hätte ihn am liebsten angeschrien, er solle endlich etwas sagen.

Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube, das ist er nicht. Wie gesagt, er gleicht ihm, aber …«

»Liegt es vielleicht an den Haaren und der Narbe?«, fragte Evelyn.

»Nein, ich weiß nicht genau, was es ist … Vielleicht ist es die Nase, die anders ist. Die ist breiter als auf diesem Foto und nicht so gerade.«

»Wie nach einem gebrochenen Nasenbein?«

»Nein.« Kriebich schüttelte erneut den Kopf und sah von Tillmann zu Evelyn. »Ich bin recht sicher, dass das nicht der Mann ist, es sei denn, in seinem Gesicht hat sich seit der Aufnahme das eine oder andere verändert. Für mich sieht der Mann auf dem Bild aus wie ein Bruder des Kerls, dem ich letzte Nacht begegnet bin.«

Evelyn drehte den Kopf zur Seite und presste die Lippen zusammen, während Tillmann das Tablet wieder an sich nahm und sagte: »Okay, das war’s auch schon. Vielen Dank, dass Sie sich die Fotos angesehen haben.«

Kriebich sah überrascht aus. »Das war alles? Keine Fragen zu letzter Nacht?«

»Sie sagten doch, die Bremer Kollegen waren schon hier und haben alle möglichen Fragen gestellt. Die Berichte dazu kann ich mir aus der Datenbank holen. Uns ging es ganz speziell um die Männer auf den Fotos.«

»Okay. Aber dass Sie dafür die Strecke von Oldenburg hierhergefahren sind … Ich meine, das hätten wir auch per Mail machen können.«

»Diese Fotos dürfen nicht per Mail verschickt werden«, erklärte Tillmann.

Evelyn stellte sich beiläufig die Frage, ob das tatsächlich so war oder ob Tillmann einfach eine plausible Erklärung abgeben wollte.

»Ja, die Vorschriften …« Kriebich schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. »Also gut. Kann ich Ihnen denn wirklich nichts anbieten? Einen Kaffee vielleicht?«

»Nein, danke«, sagte Tillmann. »Ich denke, wir brechen dann auch wieder auf.«

Es dauerte einen Moment, bis Evelyn registrierte, dass Tillmann mit ihr gesprochen hatte. Sie nickte hastig. »Ähm, ja.«

Als Kriebich sie kurz darauf zur Tür begleitete, sagte er: »Ich wundere mich, dass Sie mir nicht Ihre Visitenkarten geben und etwas sagen wie: Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie uns an. «

Tillmann verzog das Gesicht zu der Andeutung eines Lächelns. »Das hätte ich vor der Tür schon noch gemacht. Wenn Sie genügend Krimis im Fernsehen gesehen haben, dann wissen Sie, dass die Ermittler das immer erst tun, bevor sie sich abwenden und gehen. Das ist rein dramaturgisch der beste Moment.«

Er griff in die Innentasche seines Jacketts, zog eine Karte heraus und reichte sie Kriebich. Der nahm sie und richtete seinen Blick dann auf Evelyn. »Und Sie?«

Das ist nicht nötig , wollte sie sagen. Sie können den Hauptkommissar anrufen. Doch als sie den Blick sah, mit dem Kriebich sie anschaute, griff sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans und zog ein paar schon recht lädierte Visitenkarten heraus. Sie suchte eine aus, die in einem noch halbwegs annehmbaren Zustand war, und gab sie Kriebich.

Der nahm sie und ließ sie gemeinsam mit der von Tillmann in seiner Hosentasche verschwinden, ohne einen Blick darauf zu werfen.

»Danke schön. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Rückfahrt.« Und während er Evelyn wie zufällig ansah, fügte er hinzu: »Wenn ich helfen kann, melde ich mich.«