Evelyn hatte im Schalander ihren Stammplatz, einen bestimmten Barhocker hinter einem rechtwinkligen Knick des Tresens. So konnte sie sehen, wer das Lokal betrat, und mit Tom plaudern, wenn er einen Moment Zeit hatte.
Der Barkeeper hatte sogar schon mal einem Gast ein Bier dafür ausgegeben, dass er sich auf einen anderen Hocker setzte, als sie hereingekommen war.
Jasper Kriebich saß auf dem Hocker neben ihrem angestammten Platz, und während Evelyn auf ihn zuging, fragte sie sich, ob das ein Zufall war.
»Evelyn, schön, Sie zu sehen«, sagte Kriebich lächelnd, stand auf und zog ihren Hocker so weit zurück, dass sie sich daraufsetzen konnte.
»Hallo, ja, auch schön, Sie zu sehen«, antwortete sie und nahm Platz.
»Falls Sie sich wundern, dass ich ausgerechnet hier sitze … Ich dachte mir, wenn Sie öfter hier sind, haben Sie vielleicht einen Lieblingsplatz, und siehe da …« Er deutete auf ihren Hocker, während Tom grinsend einen Weißwein vor ihr abstellte, den sie noch gar nicht bestellt hatte. Als sie ihn fragend ansah, sagte er: »Der Herr hat dein Lieblingsgetränk für dich geordert.«
»Danke«, entgegnete sie, und an Kriebich gewandt: »Verwöhnen Sie jede Frau so, mit der Sie sich auf ein Glas treffen?«
Er grinste. »Selbstverständlich, sogar meine Mutter und meine Schwester.«
Er hob sein Rotweinglas. »Zum Wohl. Ich freue mich, dass wir hier zusammensitzen.«
Auch Evelyn griff nach ihrem Glas, prostete ihm zu und nahm einen Schluck.
»Sie haben eine Schwester?«
»Ja, Michi. Sie ist drei Jahre jünger als ich und neben meiner Mutter der wichtigste Mensch in meinem Leben.« Sein Lächeln wurde breiter. »Freunde von mir behaupten, dass ich deshalb noch immer Single bin, weil ich bisher keine Frau gefunden habe, die eine perfekte Mischung aus meiner Mutter und meiner Schwester ist.«
Evelyn lächelte.
»Aber bitte, erzählen Sie mir doch ein bisschen über sich«, forderte Kriebich sie auf.
Wie schon bei ihrem Telefonat am Tag zuvor, zögerte Evelyn.
»Vielleicht machen wir es andersherum«, sagte Kriebich, als er ihr Zögern bemerkte. »Lassen Sie mich Ihnen ein wenig von mir erzählen.«
»Okay«, sagte Evelyn. »Gerne.«
»Also gut. Ich habe angefangen als Personalentwickler in einem mittelständischen Unternehmen und …« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist Blödsinn. Wenn ich möchte, dass Sie mir so weit vertrauen, dass Sie mir von diesem Mann erzählen, dessen Foto ich gestern gesehen habe, dann ist es nur fair, wenn ich etwas Persönliches mit Ihnen teile.« Kriebich griff nach seinem Glas und nahm einen großen Schluck, bevor er es wieder abstellte.
»Ich erwähnte ja schon, dass ich eine Schwester habe, die mir sehr viel bedeutet.« Erneut machte er eine Pause, in der er seine Hände betrachtete.
»Es gab eine Situation in meinem Leben, die ich so gerne rückgängig machen würde, dass ich ohne Einschränkungen alles dafür geben würde. Es ist etwa sechs Jahre her. Michi hatte damals einen recht seltsamen Freund, der sie ins Drogenmilieu hineinzog. Es fing mit Gras an, dann folgte Koks. Ich habe ihr immer wieder ins Gewissen geredet und versucht, sie dazu zu überreden, sich von dem Kerl zu trennen und mit dem Mist aufzuhören, aber …«
Kriebich griff wieder nach seinem Glas.
»Jedenfalls rief Michi mich eines Nachmittags an, während ich mich auf eine wichtige Verhandlung vorbereitete, die eine halbe Stunde später beginnen sollte. Sie sagte, sie habe sich mit Kai – so hieß ihr Freund – gestritten, und fragte, ob ich sie von seiner Wohnung abholen könne.
Ich habe ihr erklärt, dass das nicht ginge, weil ich das Meeting nicht verschieben könne. Ich sagte, sie solle sich ein Taxi rufen, ich würde die Kosten übernehmen.«
Erneut der Blick auf seine Hände. Dieses Mal dauerte es länger, bis Kriebich weitersprach. Es fiel ihm sichtlich schwer. »Um es kurz zu machen: Sie hat kein Taxi gerufen. Der Kerl hat sie mit Crystal Meth vollgepumpt. Eine Überdosis, an der sie fast gestorben wäre. Sie lag tagelang im Koma und danach noch mehrere Wochen im Krankenhaus. Ich habe sie im Stich gelassen, Evelyn. Als meine Schwester mich zum ersten Mal wirklich gebraucht hätte, habe ich ihr nicht geholfen, weil mir ein Geschäftstermin wichtiger war. Das habe ich mir nie verziehen.«
Evelyn wartete eine Weile, dann fragte sie: »Und sie? Michi? Hat sie Ihnen verziehen?«
Kriebich nickte. »Ja, sie hat von Anfang an gesagt, dass es nicht meine Schuld gewesen sei. Und ich glaube auch, dass sie das wirklich so sieht. Aber für mich fühlt es sich nicht so an. Ich werde diese Schuld für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen.«
Eine Weile blickten sie aneinander vorbei und hingen ihren Gedanken nach, bis Evelyn aus einem Gefühl heraus sagte: »Ich hatte einen Bruder, zu dem ich auch so ein gutes Verhältnis hatte wie Sie zu Ihrer Schwester. Der Mann auf dem Foto gestern, das ist mein Bruder.«
Kriebich nickte. »So etwas in der Art habe ich mir schon gedacht. Ich habe die Trauer in Ihren Augen gesehen und den Schmerz. Sogar wenn Sie versucht haben zu lächeln. Ich hätte auf Ihren Mann getippt. Möchten Sie mir von ihm erzählen?«
»Eigentlich nicht«, sagte sie, fügte aber gleich darauf hinzu: »Aber vielleicht doch.«
»Tun Sie es, bitte. Ich bin mir nämlich nicht zu hundert Prozent sicher, dass der Mann auf dem Foto, also Ihr Bruder, nicht doch derjenige ist, dem ich letzte Nacht die Tour vermasselt habe.«
»Was? Aber warum haben Sie dann gesagt, er sei es nicht?«
Kriebich zuckte mit den Schultern. »Weil ich vorsichtig bin mit Beschuldigungen. Solange ich mir nicht absolut sicher bin, würde ich nie behaupten, er war es.«
»Aber Sie denken … Sie halten es für möglich, dass es Fabian gewesen sein könnte?«
»Wie ich schon sagte, es ist eine deutliche Ähnlichkeit da. Je nachdem, was der Mann in den vergangenen Jahren erlebt hat …«
»Das ist … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, gestand Evelyn.
»Ein Vorschlag: Ich höre Ihnen zu, und wenn Sie wollen, vergessen wir das alles anschließend wieder. Dann haben Sie es sich zumindest mal von der Seele geredet. Glauben Sie mir, ich weiß, wie wichtig das ist. Was halten Sie davon?«
Evelyn dachte nur einen Moment lang nach.
Dann begann sie, Jasper Kriebich von ihrem Bruder Fabian zu erzählen.
»Das ist ja eine unfassbare Geschichte«, sagte Jasper Kriebich hörbar beeindruckt, als Evelyn fertig war. Im Großen und Ganzen hatte sie ihm alles wahrheitsgemäß berichtet. Lediglich die Situation, in der Tillmann war, hatte sie verschwiegen. Kriebich schien sich zu ihrer Erleichterung entweder keine Gedanken über die Tatsache zu machen, dass einerseits die Polizei nichts von Evelyns Verdacht wusste, andererseits aber mit Tillmann ein Polizist sie zu ihm begleitet hatte. Oder aber er sagte bewusst nichts dazu, um sie nicht in Erklärungsnot zu bringen. Wobei sie ihm eher Letzteres zutraute.
»Das heißt also im Klartext, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Entweder ist Ihrem Bruder etwas zugestoßen und er lebt nicht mehr, oder aber er lebt und bringt Leute um.«
Als Evelyn nicht reagierte, sagte er: »Entschuldigen Sie bitte, das muss sich für Sie brutal anhören, aber ich neige dazu, Fakten beim Namen zu nennen, und das sind nun mal die möglichen Szenarien.«
»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Er lebt und war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort.«
In dem Moment, als sie es aussprach, ahnte sie, was Kriebich ihr entgegnen würde, was auch prompt so kam. »Das könnte man mit viel Wohlwollen noch für die Sache am See gelten lassen, aber ich habe gesehen, wie dieser Kerl auf einen Mann mit einem Messer losgegangen ist. Und ich habe seine zugegebenermaßen halbherzigen Schläge gespürt.«
»Halbherzig?«, fragte Evelyn, weil es sie interessierte, was er damit meinte, aber auch, weil das eine Gelegenheit war, um kurz das Thema zu wechseln.
»Ja. Ich hatte das Gefühl, er hatte kein Interesse daran, mich anzugreifen und ernsthaft zu verletzen. Es ging ihm nur darum, wegzukommen und zu verhindern, dass ich ihn festhalte. Das habe ich auch der Polizei gesagt.«
»Ich verstehe. Aber so verwunderlich ist das ja auch nicht. Er war überrascht und wollte nur noch entkommen. Aber wo Sie es gerade erwähnen: Hatten Sie keine Angst, dass er Sie verletzen oder sogar töten könnte? Immerhin hatte er ein Messer und war ja offensichtlich bereit, jemanden damit umzubringen.«
Kriebich stieß ein kurzes Lachen aus. »Natürlich hatte ich Angst. So sehr, dass ich mich danach erst mal hinsetzen musste, weil mir die Knie heftig gezittert haben. Aber das ändert ja nichts an der Tatsache, dass ich gesehen habe, wie jemand bedroht wurde. Da konnte ich doch nicht weitergehen und so tun, als wäre das nicht passiert. Ich hätte mir für den Rest meines Lebens Vorwürfe gemacht, wenn der Kerl den Mann wirklich umgebracht und ich nicht zumindest versucht hätte, es zu verhindern.«
»Trotzdem war das sehr mutig von Ihnen und etwas, das nur die Wenigsten getan hätten.«
»Ja, vielleicht, mag sein. Aber lassen Sie mich zu Ihrem Bruder zurückkommen. Ich möchte Ihnen dabei helfen herauszufinden, was mit ihm passiert ist und ob er möglicherweise doch derjenige ist, der hier sein Unwesen treibt.«
»Das … ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber ich denke, das muss ich allein tun. Ich möchte nicht, dass jemand da mitreingezogen wird, und schon gar nicht jemand, den ich praktisch kaum kenne.«
»Hm … Was ist mit dem Polizisten?«
»Tillmann? Was soll mit ihm sein?«
»Sind Sie mit ihm zusammen?«
»Nein, wir sind nur gute Freunde«, erklärte Evelyn und fügte leise hinzu: »Genau genommen ist er mein einziger Freund.«
»Er wäre gern mehr.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte sie, überrascht darüber, dass Kriebich das aufgefallen war.
»Es war nicht zu übersehen, als Sie beide bei mir waren. Ich habe die Blicke bemerkt, mit denen er Sie angeschaut hat. Ganz sicher: Er ist in Sie verknallt.«
Evelyn musste über diese Formulierung schmunzeln, die sie selbst zum letzten Mal gebraucht hatte, als sie noch in Uni-Hörsälen saß.
»Wir waren mal zusammen«, sagte sie. »Aber das ist schon eine ganze Weile her.«
»Lassen Sie mich raten: Es ist in die Brüche gegangen, nachdem Ihr Bruder verschwunden ist?«
Evelyn trank einen großen Schluck und stellte das Glas wieder ab. »Ja. Wie so vieles andere auch.«
»Ich würde Ihnen wirklich gern helfen.«
»Wobei?«
»Dabei, herauszufinden, ob Ihr Bruder noch lebt oder nicht.«
Sie stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Ach ja? Und wie wollen Sie das anstellen?«
»Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber spontan würde ich sagen, indem wir denjenigen finden, mit dem ich meinen kleinen Fight hatte. Den Camper .«
»Ach so, okay«, sagte sie, als sei das das Selbstverständlichste der Welt. »Nicht zu fassen, dass ich nicht selbst schon längst auf diese Idee gekommen bin. Oder die Polizei. Ich muss gleich Tillmann anrufen und ihm den Vorschlag machen, den Serienkiller doch einfach mal zu finden.«
Kriebich erwiderte geduldig: »Sie sind Psychologin, Evelyn, also brauche ich Ihnen nicht zu sagen, was Sie da gerade tun. Und es ist auch in Ordnung. Ich weiß, wie sehr Sie das alles belastet. Trotzdem wiederhole ich mein Angebot: Ich würde Ihnen gern dabei helfen herauszufinden, ob Ihr Bruder noch lebt und ob er vielleicht tatsächlich derjenige ist, den ich in der vorletzten Nacht davon abgehalten habe, einen Menschen zu töten.«
»Aber warum wollen Sie das tun?«
»Sagen Sie’s mir. Vielleicht einfach, um ein wenig von dem wiedergutzumachen, was ich meiner Schwester angetan habe, als ich sie im Stich ließ.«
»Ja, vielleicht. Aber ich glaube, Hauptkommissar Tillmann kann mehr erreichen, weil ihm ganz andere Mittel zur Verfügung stehen.«
Ihr Smartphone, das sie vor sich auf der Theke abgelegt hatte, informierte sie über das Eintreffen einer Nachricht. Sofort griff sie danach und sah auf das Display. Der Absender war anonym. Der Text lautete:
Du musst mich aufhalten. Bitte.
F.
Ihre Hand begann zu zittern. Sie ließ sie langsam sinken und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte Kriebich neben ihr.
Evelyn hörte die Frage, aber sie reagierte nicht. Sie musste Tillmann diese Nachricht zeigen, das war ihr mit einem Schlag klar. Er kannte sie besser als jeder andere, und nur er konnte ihr raten, wie sie mit dieser Nachricht und der Schlussfolgerung, die diese fünf Wörter nach sich zogen, umgehen sollte. Sie musste zu ihm. Sofort.
Kriebich legte ihr die Hand auf den Unterarm und sagte: »Evelyn. Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, wenn Sie mich lassen.«
»Danke, das ist …« Sie stopfte das Handy in ihre Handtasche. »Danke, aber ich muss jetzt gehen.«
Er zog die Hand zurück. »Schon gut. Sie haben ja meine Telefonnummer. Rufen Sie mich einfach an, wenn Ihnen danach ist. Jederzeit.«
»Danke.« Sie stand auf und verließ Sekunden später das Lokal.
Draußen angekommen, dachte sie kurz darüber nach, ob sie Tillmann anrufen solle, entschied sich aber dagegen. Sie hoffte darauf, dass er zu Hause war. Falls nicht, konnte sie immer noch zum Telefon greifen.
Du musst mich aufhalten. Bitte.
Wenn diese Nachricht wirklich von Fabian stammte, konnte sie nichts anderes bedeuten, als dass er tatsächlich der Kerl war, der von Campingplatz zu Campingplatz zog und dort Menschen ermordete.
Etwas Furchtbares musste mit ihm passiert sein … Sie durfte gar nicht anfangen, darüber nachzudenken ….
Aber was auch immer geschehen war – irgendwo in Fabian steckte noch ein Teil des Menschen, den sie sehr geliebt hatte. Auch das sagte ihr die Nachricht. Dieser Teil erkannte, wie schrecklich das war, was er tat, und er wollte, dass man ihn aufhielt. Dass sie ihn aufhielt.
Für die Fahrt zu Tillmann brauchte sie fünfundzwanzig Minuten. Sie hatte Glück, er war zu Hause.
Als er die Tür seiner Wohnung im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses im Oldenburger Stadtteil Donnerschwee öffnete, sah er Evelyn mit ernster Miene wortlos an.
»Ich möchte mich bei dir entschuldigen«, sagte sie. »Du hattest recht mit dem, was du gesagt hast, und ja, ich habe die ganze Zeit über gewusst, dass du niemals mit Kleinbauer über private Dinge von mir reden würdest. Dafür kenne ich dich gut genug. Aber ich musste dich trotzdem fragen, einfach, um auch den kleinsten Zweifel auszuräumen. Ich wünschte, du könntest das verstehen. Das alles belastet mich …«
»Es ist gut«, sagte Tillmann, machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in die Arme. »Ich habe überreagiert, und das tut mir leid. Ich verstehe dich. Du bist in einer Extremsituation.« Er löste sich von ihr. »Komm rein.«
Als sie die Wohnung betrat, in der Tillmann seit vielen Jahren lebte, überlegte sie, wie lange es her war, seit sie zum letzten Mal hier gewesen war. Es mussten fast zwei Jahre sein, und dennoch kam es ihr vor, als seien gerade mal ein paar Wochen vergangen.
Es hatte sich seitdem kaum etwas verändert. Das Wohnzimmer war relativ klein, aber stilvoll und modern eingerichtet. An den in hellen Erdtönen gestrichenen Wänden hing neben zwei signierten Drucken von Udo Lindenberg noch immer ein auf A0 vergrößertes und gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto von ihnen beiden. Es war in Rom vor dem Trevi-Brunnen aufgenommen worden und zeigte sie lachend in enger Umarmung.
Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen.
Evelyn riss den Blick von dem Foto los und setzte sich auf die dunkelblaue Zweisitzer-Couch.
»Ich habe wieder eine Nachricht bekommen«, sagte sie.
»Mist. Von F.?«
»Ja.«
»Was steht drin?«
Sie reichte Tillmann ihr Smartphone. Er nahm es und las laut vor: »Du musst mich aufhalten. Bitte. F.«
»Du musst mich aufhalten?« , wiederholte Tillmann, legte das Handy auf den Tisch und sah Evelyn an. »Das klingt verdammt danach, als ob der Schreiber dieser Nachrichten tatsächlich unser Täter ist.«
»Ja, ich weiß. Was ich aber nicht weiß, ist, was ich jetzt tun soll.« Sie senkte den Kopf und sagte leise: »Aber das ist noch nicht alles. Ich habe auch einen Anruf mit unterdrückter Nummer erhalten.«
»Wann?«
»Heute Nachmittag.«
»Heute Nachmittag?«, wiederholte er ungläubig. »Und warum sagst du mir das erst jetzt?«
»Hast du vergessen, wie wir heute Vormittag auseinandergegangen sind? Du hast mich aufgefordert zu gehen. Ich dachte, ich belästige dich nicht damit.«
»Aber das ist doch …« Tillmann hob abwehrend beide Hände und ließ den Kopf sinken. »Das ist jetzt unwichtig. Wer hat angerufen, und was hat er gesagt?«
»Ich weiß nicht, wer es war. Er hat nichts gesagt. Nur geatmet.«
»Geatmet?«
»Ja, laut. So, als ob er schlecht Luft bekommt. Es war unheimlich.«
»Und dann?«
»Ich habe ihn gebeten, etwas zu sagen, und dann hat er aufgelegt.« Sie wusste selbst nicht, warum sie ihm nur die halbe Wahrheit erzählte, und fügte hinzu: »Nachdem ich gefragt habe, ob er Fabian ist.«
»Das klingt ziemlich seltsam.«
»Ja, ich weiß.«
Eine Weile sahen sie in Gedanken versunken aneinander vorbei, dann gestand Evelyn leise: »Ich habe Angst, Gerhard.«
Tillmann ging um den Tisch herum, ließ sich neben ihr auf der Couch nieder und legte vorsichtig einen Arm um sie. »Das kann ich verstehen. In den letzten Tagen ist einiges geschehen, das wirklich furchterregend ist.«
»Seit zwei Jahren habe ich Angst vor dem Moment, in dem es den Beweis dafür gibt, dass Fabian tatsächlich tot ist. Ich habe Angst davor, dass es irgendwann an meiner Tür klingelt und zwei Polizisten stehen mit betretenen Mienen vor mir und fragen, ob sie reinkommen dürfen. Ich fürchte mich vor der Endgültigkeit, die das bedeuten würde. Aber die Angst, die ich jetzt habe, ist eine andere. Jetzt habe ich Angst um ihn und um mich.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe in den letzten beiden Jahren oft darüber nachgedacht, wie es weitergehen soll. Was mir mein Leben noch wert ist. Aber ich glaube, es gab keinen einzigen Zeitpunkt, an dem ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hätte, es zu beenden. Wenn sich aber herausstellen sollte, dass es wirklich Fabian ist, der diese Menschen so brutal und bestialisch umgebracht hat … Ich weiß nicht, wie ich damit weiterleben soll.«
Tillmann beugte sich nach vorn und drehte sie an den Schultern ein wenig zu sich herum. »Evelyn, so was darfst du nicht sagen. Nicht einmal denken.« Er atmete keuchend durch. »Du bist forensische Psychologin und zudem seine Schwester. Der Mensch, dem er am meisten vertraut. Wer sollte ihm besser helfen können als du, wenn es wirklich Fabian ist?« Er deutete auf das Smartphone auf dem Tisch. »Und wenn der Anruf und diese Nachrichten von ihm sind, dann ist das doch der Beweis dafür, dass er das auch weiß. Egal, was mit ihm passiert ist, er bittet dich um Hilfe. Würdest du sie ihm wirklich verweigern, indem du dein Leben wegwirfst?«
»Nein«, antwortete sie, »du hast recht.«
»Natürlich habe ich recht.«
Sie sahen sich in die Augen. »Danke, dass du mir nicht mehr böse bist. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn es dich nicht gäbe.«
»Ich bin froh, dass du zu mir gekommen bist und dass du weißt, dass ich immer alles für dich tun würde.«
Evelyn beugte sich ein wenig nach vorn, so dass ihr Gesicht sich seinem näherte. Ihr Blick blieb auf Tillmanns Augen gerichtet, bis sie sich so nahe waren, dass sie nichts mehr erkennen konnte. Sie schloss die Augen, und ihre Lippen fanden seinen Mund zu einem langen, zärtlichen Kuss.
Als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder voneinander lösten, sagte sie: »Hast du noch immer das gleiche bequeme Bett?«
»Ja«, sagte er, und seine Stimme klang heiser.
Sie stand auf und streckte ihre Hand nach ihm aus. »Dann lass uns dorthin gehen.«
»Evelyn, bist du sicher, dass …«
»Ganz sicher«, antwortete sie, nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich.