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Evelyn betrachtete die Karte von Norddeutschland, die vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet war. Mit einem schwarzen Stift hatte sie darauf die Campingplätze markiert, auf denen der Täter bisher zugeschlagen hatte, und die Punkte dann miteinander verbunden. Nun versuchte sie, ein Muster in der gezackten Linie zu entdecken, was ihr aber nicht gelang. Schließlich gab sie auf. Letztendlich war ihr klar, dass die Polizei das ebenfalls schon getan hatte. So wie alles, was sie unternehmen würde.

Es war zum Verzweifeln. Es gab außer den Campingplätzen und der Tatsache, dass ein Messer als Waffe benutzt wurde, zumindest nach ihrem Wissensstand keine Gemeinsamkeiten und damit nichts, woraus sich irgendeine Logik hätte ableiten lassen, der der Täter folgte. Nicht einmal die Orte, in deren Nähe die Plätze lagen, ließen Rückschlüsse auf sein nächstes Ziel zu, an dem er womöglich wieder morden würde. Aber es musste ihn geben, diesen roten Faden, so viel hatte sie bei ihrer Zusammenarbeit mit der Polizei und speziell mit Tillmann gelernt. Dass ein Serienmörder seine Opfer vollkommen wahllos aussuchte, passierte äußerst selten. In den allermeisten Fällen folgten diese Täter einem bestimmten Muster. Die Kunst lag darin, es zu erkennen.

Evelyn lehnte sich zurück, schloss die Augen.

Konzentriere dich. Du bist Profi. Die meisten Serientäter verarbeiten mit dem, was sie tun, traumatische Erlebnisse. Was kann jemanden dazu bringen, Menschen auf Campingplätzen mit einem Messer zu ermorden? Ist derjenige selbst auf einem Campingplatz mit einem Messer bedroht worden? Nein, das reicht nicht aus, um einen derartigen Rachefeldzug zu starten. Er müsste schon verletzt worden sein. Vermutlich schwer verletzt. Und zwar wahrscheinlich irgendwann in den vergangenen ein bis drei Jahren …

»Mist«, sagte sie laut, als ihr bewusst wurde, dass sie genau diese Gedanken schon nach den ersten beiden Morden mit den Ermittlern ausgetauscht hatte. Die hatten daraufhin alle in Betracht kommenden Krankenhäuser Norddeutschlands nach männlichen Patienten mit Stichverletzungen abgesucht, aber in keinem waren sie fündig geworden. Nein, so kam sie nicht weiter.

Evelyn öffnete die Augen und richtete den Blick wieder auf die vor ihr ausgebreitete Karte. Vielleicht musste sie die Sache ganz anders angehen. Vielleicht sollte sie überlegen, nach welchen Gesichtspunkten Fabian vorgehen würde. Auch wenn es ihr noch immer unsagbar schwerfiel, Fabian mit diesen furchtbaren Taten in Verbindung zu bringen, musste sie sich dazu zwingen, denn das war etwas, bei dem sie der Polizei einen Schritt voraus war. Tillmanns Kollegen hatten keine Ahnung von Evelyns Verdacht und konnten dementsprechend auch nicht mit dieser Prämisse an den Fall herangehen. Was sie wieder zu Tillmann zurückbrachte.

Gerhard Tillmann, der wegen ihr seine Karriere aufs Spiel setzte, obwohl er offenbar der Überzeugung war, sie hänge einem Hirngespinst nach und sie müsse endlich loslassen.

Es klopfte an ihrer Wohnungstür. Während sie aufstand und zur Tür ging, nahm sie sich vor, die Hausverwaltung darauf hinzuweisen, dass der Hauseingang stets geschlossen sein sollte, damit nicht jeder x-beliebige Fremde im Haus herumlaufen konnte.

Vor der Tür stand Tillmann. Als wären ihre Gedanken sein Stichwort gewesen. »Wir haben Rückmeldung von den italienischen Kollegen, und ich dachte, ich erzähle dir gleich persönlich davon.«

»Oh! Und?«

Tillmann deutete an ihr vorbei in die Wohnung. »Darf ich reinkommen?«

»Natürlich, entschuldige.«

Tillmann hatte erst ein paar Schritte gemacht, als Evelyn schon nachhakte. »Also, wer ist dieser Camper

Tillmann zog einen Zettel aus der Hosentasche, faltete ihn auseinander und las vor: »Laut der angegebenen Adresse ein Dottore Massimo Gattana, ein Internist aus San Giovanni Lupatoto, das liegt in der Provinz Verona.«

»Und weiter?«, hakte Evelyn nach, der dieser Name natürlich nichts sagte.

»Nichts weiter. Ich hatte es schon befürchtet. Der Dottore hat für die Zeiten der Morde ein wasserdichtes Alibi. Zudem hasst er Camping, und die einzige Stadt, die er bisher in Deutschland besucht hat, ist München.«

»Aber …«

»Das Kennzeichen wird noch überprüft, wir gehen jedoch davon aus, dass es gestohlen ist und es keine Verbindung zu Herrn Gattana gibt. Wie gesagt, ich habe es befürchtet. So blöd kann niemand sein, dass er mit seinem auf ihn gemeldeten Kennzeichen herumfährt und Menschen umbringt.«

Evelyn dachte eine Weile nach, bevor sie sagte: »Aber du siehst auch, dass es immer noch Fabian sein könnte, der …«

»Nein, Evelyn.« Tillmann machte zwei Schritte und stand direkt vor ihr. Er nahm ihre Hände in seine und sah ihr tief in die Augen.

»Evelyn, bitte. Ich habe mitgemacht, solange es ging, aber du musst jetzt wirklich damit aufhören. Nur weil ein Phantombild eine entfernte Ähnlichkeit mit deinem verschwundenen Bruder hat, heißt das doch nicht, dass er tatsächlich plötzlich nach zwei Jahren wieder aufgetaucht ist und Menschen auf Campingplätzen umbringt. Selbst die beiden Zeugen, die den Täter aus der Nähe gesehen haben, sagen aus, dass sie nicht glauben, dass es Fabian ist. Du …«

»Es ist mir egal, was die Zeugen gesagt haben, nachdem ich diese Nach…«

»Nein, lass mich bitte ausreden! Du verrennst dich da in etwas, das dich mehr und mehr runterzieht. Auch Gersmann ist aufgefallen, dass du dich in den letzten Tagen seltsam benimmst, und er macht sich ernsthafte Sorgen um dich. Mein Chef wollte von mir wissen, ob es vielleicht besser ist, wenn wir die Zusammenarbeit mit dir ruhen lassen, bis du dich wieder gefangen hast. Und der hat keinen blassen Schimmer von deinen … Ideen. Er hat lediglich die Veränderung an dir bemerkt. Du musst wirklich damit aufhören.«

Evelyn hatte ihn nicht unterbrochen. Nicht weil sie ihn ausreden lassen wollte, sondern weil ihr vor Unglaube über das, was sie von Tillmann hörte, schlicht die Worte fehlten. Langsam fing sie sich wieder und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, was du da sagst. Und dass du dabei mit keinem einzigen Wort die Nachrichten erwähnst, die mit F. unterschrieben sind und den …«

Tillmann ließ sie los und hob die Hand. Dabei sah er sie, die Stirn gerunzelt, mit halb zusammengekniffenen Augen an. »Moment, stopp! Von welchen Nachrichten sprichst du? Du hast Nachrichten bekommen? Wieso, zum Teufel, weiß ich davon nichts?«

»Wie, welche Nachrichten ? Was meinst du damit?«

Tillmann schüttelte den Kopf und schnaubte. »Evelyn! Du hast doch gerade von Nachrichten gesprochen, die mit … F. unterschrieben sind. Was sind das für Nachrichten?«

»Wie, was für Nachrichten?«, wiederholte sie, und es war ihr egal, dass ihre Stimme schrill klang. »Willst du mich jetzt völlig fertigmachen? Die Nachrichten von dem anonymen Absender natürlich, die ich dir gezeigt habe. Von F. Du sagst, du weißt davon nichts? Wenn du versuchst, witzig zu sein, kann ich dir garantieren, dass das gerade der falscheste Moment ist, den du dir dafür aussuchen konntest.«

»Komm, setzen wir uns erst mal.« Tillmann deutete auf die Couch, nahm Evelyn gegenüber in einen Sessel Platz und sah sie besorgt an. »Okay, jetzt atme mal tief durch, und dann versuchen wir es noch mal. Also: Was ist das mit diesen Nachrichten? Wann hast du sie bekommen und von wem? Und warum tust du so, als müsste ich davon wissen?«

»Weil ich sie dir gezeigt habe, verdammt nochmal«, schrie sie so plötzlich los, dass Tillmann zusammenfuhr. »Bist du denn vollkommen verrückt geworden? Oder willst du mich verrückt machen? Das kann doch nicht wahr sein, Gerhard! Und der Anruf? Von dem weißt du dann wahrscheinlich auch nichts, oder?«

Tillmann ignorierte, dass sie ihn angeschrien hatte, und hob erneut die Hand, als könne er damit diesen Wahnsinn stoppen. »Okay, beruhige dich bitte und hör mir zu, Evelyn. Ich weiß nicht, was gerade los ist, und ich gestehe, dass ich mich im Moment ziemlich hilflos fühle. Aber wir kriegen das in den Griff. Ich versichere dir, ich weiß nichts von Nachrichten, die du bekommen hast. Und auch nichts von einem Anruf. Und bitte, reg dich jetzt nicht wieder auf, das ist alles überhaupt nicht schlimm und sicher ein Resultat des wahnsinnigen Stresses, dem du in den letzten Tagen ausgesetzt warst. Du dachtest wahrscheinlich, du hättest mir von diesen Nachrichten erzählt, weil du das vorhattest, und dann hast du es einfach vergessen. Oder vielleicht … Wer weiß, vielleicht habe ich es vergessen. Aber das ist alles nicht dramatisch. Viel wichtiger ist, dass du mir jetzt sagst, was es mit diesen Nachrichten auf sich hat. Und mit dem Anruf.«

Evelyn starrte Tillmann eine ganze Weile an, dann sagte sie: »Das ist doch vollkommen verrückt«, stand auf, ging zum Sideboard, auf dem ihr Smartphone lag, und kehrte damit zur Couch zurück. »Aber gut, spielen wir das durch, was immer du mit diesem Theater auch bezweckst.«

Nachdem sie sich hingesetzt hatte, entsperrte sie das Telefon, navigierte mit zwei Klicks zu den eingegangenen Nachrichten und betrachtete die Liste. Sie starrte darauf. Fünf Sekunden, zehn … dann scrollte sie hektisch die Liste nach unten durch. Sie musste mehrmals ansetzen, weil ihre Finger zitterten. Als sie unten angekommen war, scrollte sie wieder zum Anfang, schloss die App und öffnete sie erneut. Immer fahriger wurden ihre Bewegungen, sie hörte sich selbst aufstöhnen, blickte zwischendurch zu Tillmann hinüber, der ihr mit trauriger Miene zuschaute, und wieder auf das Display. »Nein, nein, nein«, hörte sie sich sagen, während sie den Nachrichteneingang schloss und die Anrufliste öffnete, wo sie das gleiche Prozedere wiederholte.

Schließlich ließ sie das Telefon sinken und sah Tillmann an. Sie spürte, dass alle Kraft sie verließ.

»Evelyn?«, fragte Tillmann behutsam. »Was ist? Du machst mir ein wenig Angst.«

»Weg«, antwortete sie so leise, dass Tillmann sich nach vorn beugte und sagte: »Was? Ich habe dich nicht verstanden.«

»Weg«, wiederholte sie lauter, und dann schrie sie es ihm entgegen. »Die verdammten Nachrichten sind weg. Und der Anruf auch.«