Als sie zum Wohnmobil zurückkam, saß Tillmann am Tisch und blickte ihr lächelnd entgegen. Es kostete sie eine enorme Willenskraft, ihm nicht entgegenzuschleudern, dass sie von seinem falschen, verlogenen Spiel wusste. Am liebsten hätte sie ihm in sein scheinheilig lächelndes Gesicht geschlagen.
»Ich dachte schon, du bist getürmt und hast mich hier sitzenlassen.«
Sie rang sich so etwas wie ein Grinsen ab. »Dann pass mal auf, dass du dich mir gegenüber gut benimmst. Nicht dass deine Befürchtungen noch wahr werden.«
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und öffnete die Camping-App, auf der noch die Liste der Plätze zu sehen war, die ihren Suchkriterien entsprachen. Tillmann erzählte derweil von der Wohnwagenabstell-Aktion des Nachbarn. Evelyn hörte ihm nur mit einem Ohr zu und sagte ab und zu »ach« und »okay«.
Als sie die Liste betrachtete, spürte sie sofort wieder Unruhe in sich aufsteigen. Nur vier Plätze, die nach ihrer Überzeugung als nächster Tatort in Frage kamen. Erneut dachte sie darüber nach, ob es nicht völlig verrückt war, was sie vorhatte, und ob sie nicht doch die Polizei über ihre neueste Erkenntnis informieren musste . Immerhin war sie damit wahrscheinlich ein gutes Stück weiter als die gesamte Soko Camping . Und sie würde entscheidend dazu beitragen, dass ein Serienmörder gefasst wurde. Aber dieser Serienmörder konnte ihr Bruder sein, und sie musste mit ihm sprechen, bevor er verhaftet wurde. Und das ging nur, wenn die Polizei erst nach diesem Gespräch erfuhr, was sie herausgefunden hatte.
Am liebsten wäre sie sofort aufgebrochen und hätte die vier Campingplätze nacheinander abgefahren, bis sie Fabian gefunden hätte.
Aber da war noch Tillmann, und das Wissen um seine schäbigen Lügen setzte ihr spürbar zu.
Sie riss sich von den Gedanken los und widmete sich wieder der Liste.
»Was tust du gerade?«, erkundigte sich Tillmann.
»Ich suche das nächste Ziel aus.«
»Okay. Nach welchen Kriterien gehst du vor?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich denke, er bewegt sich wieder in Richtung Westen, und ich versuche mir vorzustellen, wohin er sich wenden könnte. Letztendlich habe ich aber keinen konkreten Anhaltspunkt, und meine Auswahl ist mehr oder weniger zufällig.«
Zumindest der erste Teil dessen, was sie gesagt hatte, entsprach der Wahrheit.
Evelyn schaute sich die Adressen der vier verbliebenen Campingplätze an und markierte sie mit kleinen Kreuzen auf der Karte. Wenn Fabian seiner bisherigen Logik folgte, bewegte er sich nicht in einer geraden Linie, sondern im Zickzackkurs in Richtung Westen, was zwei der Plätze ausschloss, denn sie befanden sich östlich des letzten Tatorts in Neuharlingersiel. Blieben zwei weitere. Beide lagen von Fabians letztem Standort aus gesehen südwestlich. Beide waren nicht weit von ihrem jetzigen Standort entfernt, einer bei Aurich und einer bei Emden.
Instinktiv entschied sie sich für Emden.
Sie malte einen Kreis um die Stadt an der Emsmündung und warf den Stift auf den Tisch.
»Wir fahren nach Emden.«
»Okay«, sagte Tillmann ohne Anzeichen von Verwunderung. »Einfach so, oder hast du doch irgendetwas gefunden, das dich vermuten lässt, der Täter würde dort als Nächstes auftauchen?«
»Es liegt in der richtigen Richtung. Wenn denn meine Theorie stimmt, dass er sich weiter westlich bewegt.«
»Okay. Dann brechen wir morgen früh also auf.«
»Nein, ich möchte gleich losfahren.«
»Gleich? Warum denn das? Ich meine …« Er machte eine ausholende Geste. »Er könnte doch auch genauso gut hier sein. Warum sonst sind wir hierhergefahren?«
»Trotzdem. Es ist so ein Gefühl.«
Tillmann schüttelte energisch den Kopf. »Evelyn, es ist bald Abend. Bis wir dort angekommen sind, ist es schon so spät, dass wir sowieso nichts mehr tun können. Ich mache ja alles mit, aber nun sei doch bitte vernünftig und sieh ein, dass das wirklich völliger Quatsch ist.«
Sosehr es ihr widerstrebte, musste sie ihm recht geben. Auch wenn es sie fast verrückt machte zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit nicht gering war, dass Fabian sich auf dem Campingplatz hinter Emden befand, würde sie an diesem Tag tatsächlich nicht mehr viel erreichen können.
»Also gut«, gab sie nach. »Aber dann brechen wir morgen sehr früh auf.«
Im nächsten Moment überlegte sie, wie es wohl sein würde, neben einem Mann im Bett zu liegen, von dem sie nun wusste, dass er sie auf übelste Art hintergangen hatte. Und das vielleicht nur, um sich einen beruflichen Vorteil zu verschaffen.
Sie erhob sich, und als Tillmann sie fragend anschaute, sagte sie: »Ich gehe noch eine Runde über den Platz, bevor ich hier durchdrehe.«
Auch Tillmann stand auf. »Ich komme mit.«
Nachdem sie ein Stück weit gegangen waren, wobei sich Evelyn, um den Schein zu wahren, die männlichen Camper näher anschaute, sagte sie: »Ich wundere mich, dass dein Chef dir so einfach freigegeben hat. Ich meine, du gehörst zu der Soko, die in diesem Fall ermittelt. Dass ich ausfalle, dürfte für ihn verschmerzbar sein, aber du bist doch einer seiner Top-Ermittler.«
»Ja, zuerst wollte er auch nicht. Erst als ich ihm gesagt habe, dass ich bei dir bin, weil es dir im Moment nicht so gut geht, hat er nachgegeben. Ich denke, er hat ein Faible für dich.«
»Das finde ich sehr rücksichtsvoll von ihm. Vielleicht sollte ich ihn anrufen und mich bei ihm bedanken.«
»Das würde ich nicht tun.«
»Aber warum? Ich finde, das verlangt der Anstand.«
»Ja, vielleicht. Aber es könnte ihm einfallen, dass es dir doch gut genug geht, um mich sofort wieder zurückzubeordern.«
»Aber wenn er dir gerade erst eine Verlängerung …«
Tillmann blieb stehen und sah sie eindringlich an.
»Evelyn, bitte. Du weißt, ich räume dem, was du hier tust, keine allzu großen Chancen ein, aber trotzdem ist es nicht ganz ungefährlich, denn wie der Zufall es will, könntest du dem Mörder tatsächlich begegnen. Das würde mir permanent im Kopf herumgehen, und ich würde verrückt werden, wenn ich nicht wüsste, wo du gerade bist und was du tust, und vor allem, wenn ich wüsste, dass ich im Zweifelsfall nicht eingreifen könnte.«
Sie tat so, als müsse sie eine Weile darüber nachdenken, und genoss es auf eine fast schon boshafte Art, wie Tillmann sich wand und versuchte, sie davon abzuhalten, Hagemeier zu kontaktieren.
»Aber wenn er tatsächlich ein Faible für mich hat, wie du meinst, und ich sage ihm, dass ich mich wohler fühle, wenn du noch zwei Tage bei mir bist, dann müsste er doch darauf eingehen, oder?«
»Ja, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.«
»Also gut. Aber da du sowieso bald wieder zurückmusst, rufe ich ihn morgen an und bedanke mich.«
Sollte er darüber brüten, wie er aus dieser Nummer wieder herauskam. Wobei sie sich zudem die Frage stellte, wie er glauben konnte, mit seinen Lügen durchzukommen. Er musste doch damit rechnen, dass die Rede bei ihrer nächsten Begegnung mit Hagemeier noch einmal auf das Ergebnis der Anfrage bei ihrem Provider kommen würde.
Sie kamen an einer zum Campingplatz gehörenden Pizzeria vorbei, die geöffnet hatte, und Tillmann schlug vor, dort etwas zu essen. Der Gedanke, mit ihm zusammen gemütlich in dem Restaurant zu sitzen, kam ihr zwar reichlich abwegig vor, aber sie sah ein, dass es kein vernünftiges Argument dagegen gab. Also stimmte sie zu, und gemeinsam betraten sie das Lokal.
Tillmann war bemüht, das Gespräch auf andere Themen als die Mordserie und Evelyns Bruder zu bringen, was aus seiner Sicht verständlich und Evelyn ganz recht war.
Sie unterhielten sich über gemeinsame Unternehmungen und Bekannte, hier und da versuchte Tillmann sich an einem Scherz, merkte aber bald, dass es Evelyn nicht nach Lachen zumute war, und gab es wieder auf. Insgesamt verbrachten sie eine knappe Stunde in dem Restaurant, in der Evelyn eine halbwegs leckere Pasta und Tillmann eine große Pizza aß. Dazu tranken sie gemeinsam eine Flasche Cà dei Frati , ein Lugana di Sirmione aus Italien, der Evelyn so gut schmeckte, dass sie noch eine Flasche zum Mitnehmen orderte, bevor sie gingen.
Als sie wieder an ihrem Wohnmobil ankamen, saßen ihre Nachbarn vor dem Wohnwagen und winkten ihnen lächelnd zu.
Die Sonne war schon seit geraumer Zeit am Horizont verschwunden, und die Dämmerung brach herein. Dennoch waren es nach Evelyns Schätzung noch deutlich über zwanzig Grad.
»Ich hole einen Öffner und Gläser«, sagte Tillmann. »Wir sollten den Wein trinken, bevor er warm wird.«
Evelyn wusste, dass es besser gewesen wäre, sie hätte sich mit dem Alkohol zurückgehalten, aber bei dem Gedanken daran, irgendwann neben Tillmann zu liegen, erschien es ihr ratsam, die nötige Bettschwere zu haben, um schnell einschlafen zu können.
Nachdem Tillmann die Flasche geöffnet und die Gläser zwei Finger breit gefüllt hatte, prostete er ihr zu.
»Auf dich, Evelyn. Und darauf, dass diese schlimme Zeit bald vorüber ist. Wer weiß, vielleicht geht es dir danach ja sogar besser als in den letzten beiden Jahren.«
»Ja, wer weiß. Vielleicht klären sich in den nächsten ein, zwei Tagen tatsächlich einige Dinge auf.« Auch sie hob ihr Glas und prostete ihm zu.
Noch während sie trank, spürte sie, dass das Handy in der Gesäßtasche ihrer Jeans vibrierte. Sie hatte vorsichtshalber den Ton abgestellt und das Gerät nicht auf den Tisch gelegt. Eine kluge Entscheidung, wie sich kurz danach herausstellte, als sie wie nebenbei das Telefon aus der Tasche zog, einen kurzen, bewusst desinteressierten Blick darauf warf und es dann wieder wegsteckte.
Der verpasste Anruf war von Ulrich Meier gekommen, also von Tillmanns Chef Hagemeier. Das konnte nur eines bedeuten, und dieses Wissen machte sie fast verrückt.
Sie wartete etwa eine halbe Stunde, dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf und machte sich auf den Weg zur Toilette. Noch bevor sie das Gebäude erreicht hatte, zog sie das Telefon aus der Tasche und klickte auf den verpassten Anruf von Hagemeier.
Es läutete viermal, sechsmal, neunmal. Dann gab sie auf. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass Hagemeier wohl zwischenzeitlich nach Hause gegangen sein musste. Leise fluchend steckte sie das Telefon wieder ein. Sie ärgerte sich, dass sie das Gespräch nicht sofort angenommen hatte. Nun würde sie erst am nächsten Morgen erfahren, was Hagemeier wollte.
Sie sparte sich den Weg bis zur Toilette und wartete einfach zwei Minuten, bevor sie zurückkehrte. Allerdings erst, nachdem sie ein weiteres Mal vergeblich versucht hatte, den Chef des KK 11 zu erreichen.
»Das ging aber schnell«, bemerkte Tillmann, als sie sich ihm gegenüber wieder an den Tisch setzte.
Sie sah ihn an und musste alle Kraft aufwenden, weiterhin ruhig zu wirken. Während sie zur Weinflasche griff und ihr Glas bis zur Hälfte füllte, überlegte sie, ob sie diese Beherrschung auch noch nach ihrem Telefonat mit Hagemeier aufbringen würde.
Sie wusste es nicht.
Erneut sah sie Tillmann an und spürte, dass sie bereits anfing, ihn für das, was er getan hatte, zu hassen.