Um halb zehn treffen sich Sophie und Pirlo am Fahrstuhl. Geplant war das nicht. Es fällt auch nicht besonders angenehm aus. Zumindest nicht für Pirlo.
»Erwischt.« Sophie grinst.
»Wobei?«
»Beim Zuspätkommen. Es ist nach neun. Und zwar deutlich.«
Pirlo zieht eine Augenbraue hoch. Immerhin ist er überhaupt mal wieder da. Das sollte eigentlich schon genug Anlass für Jubel geben. Und nicht etwa für Sticheleien. »Wenn ich zu spät bin, bist du es auch.«
»Kann sein. Dann müssen wir eben beide in die Kaffeekasse einzahlen.«
»Oder keiner.«
Sophie lacht. »Das kannst du schön vergessen, Toni. Die Kaffeekasse gibt es überhaupt nur wegen dir und deiner Unpünktlichkeit. Wir haben gesagt, dass wir um neun Uhr hier sind. Und neun meint neun. Das hat irgendwer sogar auf den Notizzettel geschrieben, der auf der Kasse klebt.«
»Ja. Du.« Der Aufzug kommt. Beide steigen ein. Pirlo nimmt noch einen Anlauf. »Ich finde unsere gleiche Unpünktlichkeit hebt sich auf.«
»Und ich finde, dass neun Uhr neun Uhr heißt und unpünktlich ist, wer danach hier ist. Du kommst da nicht mehr raus, Herr Dr. Pirlo. Meinen Strafpunkt akzeptiere ich gern und gut gelaunt. Zumal es dann jetzt eben eins zu acht steht.«
»Oder null zu sieben«, brummt Pirlo trotzig. »Jedenfalls, wenn man richtig zählt.«
Der Aufzug hält. Als Sophie die Kanzlei betritt, zwinkert sie dem schon am Empfang sitzenden Wang zu. »Der neue Zwischenstand ist eins zu acht.«
»Ist notiert«, vermeldet Wang.
»Eigentlich ist es null zu sieben«, grummelt Pirlo.
Weder Sophie noch Wang gehen darauf ein. Dann kommt Sophie aber doch wieder aus ihrem Büro zurück. »So, die Aktentasche ist abgestellt, der Kaffee ruft!«
Sie tritt auf Pirlo zu und kneift ihn in die bärtige Wange. »Sei nicht so griesgrämig, Pirlo. Noch kannst du die Wette ja gewinnen. Zwei Strafpunkte hast du noch gut. Wenn ich auch keine Zweifel daran habe, wer hier am Ende den Abend für die beiden anderen im Paradise Now bezahlen muss.«
»Getränke übrigens inklusive«, vermerkt Wang von seinem Platz hinter dem Tresen.
»Selbstverständlich«, brummt Pirlo.
Sophie lacht. Dann holt sie ihm einen Kaffee.
»Hier. Du siehst aus, als könntest du ihn brauchen.«
»Du meinst, wild entschlossen, hier gleich richtig durchzustarten und mindestens ein Dutzend neue Mandate zu akquirieren?«
Sie schüttelt den Kopf. Der blonde Zopf fliegt. »Eher so, als würdest du sonst gleich im Stehen einschlafen.«
Pirlo ringt sich ein schiefes Grinsen ab. Als er bemerkt, dass sie ihn besorgt ansieht, quält er auch noch ein Augenzwinkern hinterher. »Alles in Ordnung. Gleich bin ich in Topform.« Er hebt die von ihr übergebene Kaffeetasse mit Fortuna-Aufdruck. »Erst recht damit.«
Sie zögert. Dann kehrt dieses ihr eigene Lachen zurück, das er so sehr schätzt. Wenn auch nicht gerade jetzt.
Kurz darauf ist Sophie in ihrem Büro verschwunden. Wangs Finger klackern am Empfang über die Tastatur. Pirlo sitzt in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer und pustet über die Tasse mit dem Kaffee. Bis zum Ende des Vormittags werden noch ein paar weitere folgen, so wie das in diesen Tagen eben immer ist, selbst wenn er sich keine Illusionen darüber macht, dass er damit einen Phantomschmerz bekämpft. Das Problem liegt nicht im Wachwerden, sondern im Wachbleiben. Er schläft nicht mehr. Und das seit Wochen. Stattdessen umkreist er die immer gleichen Sorgentempel. Ebenfalls seit Wochen. Und ohne jede vernünftige Aussicht auf Besserung.
Als er den nächsten klaren Gedanken fasst, ist beinahe eine ganze Stunde vergangen, ohne dass Pirlo einen Anruf getätigt oder eine E-Mail geschrieben hätte. Einfach so also, ganz ohne jeden Einfluss auf neue Mandanten oder Mandate. Die es allerdings dringend braucht. Viel zu tun hat Pirlo sonst nicht gerade. Nicht mehr jedenfalls seit dem Desaster bei der Verteidigung von Faruk Maliki. Zwar war es gelungen, einen Freispruch für den Mandanten zu erreichen. Das Lob dafür galt allerdings allein Sophie. Die Presseberichterstattung feierte sie dafür, dass sie im Prozess schonungslos die Wahrheit aufgedeckt hatte, selbst wenn das bedeutete, dass sie sich gleichzeitig gegen ihren Vater und gegen ihren Chef stellen musste. Längst schrieb der Boulevard nicht mehr über das »Blonde Babe«. Sophie war zwischenzeitlich »Rechtsanwältin Knallhart, die dahin geht, wo es weh tut«. Und Pirlo war der Depp. Derjenige, der sich erst zulasten seines Mandanten hatte täuschen lassen und der dann zu allem Überfluss auch noch der entscheidenden Zeugin hinterherrannte, als Sophie sie der Lüge überführt hatte. Allerdings war diese Zeugin aber eben auch nicht irgendwer, sondern Alena, die Frau, der Pirlo zwei Wochen zuvor am Meer noch gesagt hatte, dass er sie liebe.
Seitdem hängt nicht nur Pirlo in der Luft. Sondern auch alles, was er tut. Oder besser: Was er nicht tut. Besonders viel ist nämlich nicht gerade los. Insofern es der Kanzlei gelungen ist, ihre Mandanten zu halten, wollen sie nur noch von Sophie vertreten werden. Pirlo kann es ihnen noch nicht einmal verübeln. Für ihn bleibt daher die undankbare Aufgabe, sich um neue Fälle zu kümmern, was gar nicht mal so leicht ist, wenn keiner mit einem sprechen will. Dass Pirlo nicht mehr richtig schlafen kann und stattdessen nachts gedankenverloren durch die Stadt wandert, verbessert diesen Zustand denkbar wenig.
Umso mehr ist er überrascht, als Wang in der Tür auftaucht und erklärt, dass jemand einen dringenden Termin brauche. Jetzt sofort. Und ausdrücklich bei Pirlo selbst.
Kurz irritiert Pirlo zwar noch Wangs offensichtliche Verwunderung darüber, dass tatsächlich jemand mit seinem Chef zu tun haben will. Dann gibt er sich aber einen Ruck und schleppt sich in den Besprechungsraum. Dort, am Ende des großen, eleganten Holztisches, sitzt Emre Ben Hamid. Pirlo erkennt ihn sofort. Daran ändert auch eine schwarze Corona-Maske nichts. Ihre Blicke treffen sich. Trotzdem sagt keiner etwas, ehe Wang den Raum vorsichtig verlassen hat.
»Emre«, murmelt Pirlo überrascht.
»Ramzes«, erwidert Emre. Dann geht er auf Pirlo zu und drückt ihn an sich. Pirlo lässt es geschehen. Den Gedanken daran, dass das seit einer Ewigkeit der erste nahe Körperkontakt ist, schiebt er beiseite.
»Ist es in Ordnung, wenn ich die Maske ablege?«, fragt Emre.
»Sicher«, antwortet Pirlo. »Wir sind hier alle mehrfach geimpft.«
Emre nickt, nimmt die Maske ab und verstaut sie sorgfältig in einer Tasche seines cremefarbenen Mantels. Dann sieht er Pirlo direkt an. »Ich bin seit gestern Beschuldigter in einem Strafverfahren.«
Pirlo wartet. Er kennt Emre schon seit der Grundschule. Die Familien haben sogar noch länger miteinander zu tun. Was aus Pirlos Sicht immer schon für die Ben Hamids sprach, ist, dass sie zwar erfolgreiche Gangster sein mögen, aber nie so wirken wollen. Womit sie quasi das Gegenmodell zu Pirlos eigenen Brüdern leben.
Emre streicht sich über den sauber gestutzten Bart. »Du hast sicher mitbekommen, dass gestern in Pempelfort ein Testzentrum gebrannt hat.«
»Ja. Ich wohne in der Ecke.«
Emre hält Pirlos Blick fest. »Heute Morgen standen zwei Polizisten bei mir vor der Tür. Sie sagen, dass ich der Brandstifter gewesen sein soll. Morgen soll ich bei ihnen zur förmlichen Vernehmung auftauchen.«
»Haben sie dich als Beschuldigten belehrt?«
»Du meinst von wegen Recht zu schweigen, Möglichkeit der Rücksprache mit einem Anwalt und so weiter?«
»Genau.«
»Ja, haben sie. Alles Weitere wollen sie dann morgen auf der Wache besprechen. Wobei mir einer zum Ende noch einmal zugeraunt hat, dass sie sowieso schon wissen, dass ich es war.«
Pirlo wartet wieder. Diesmal kommt von Emre aber nichts mehr. Pirlo fragt daher selbst nach: »Haben sie recht?
Emre lächelt kurz. »Spielt das denn eine Rolle?«