TAG 10
MONTAG - V

Wir durchsuchten jede Brücke, jede Treppe und jedes Haus. Die meisten Häuser waren leer. Die Elfen hatten vor ihrer Abreise einen Großteil ihrer Truhen geleert.

Wir hielten vor dem Geschäft eines Waffenschmieds. Es war das einzige Geschäft, das wir bisher gesehen hatten. Verglichen mit allen anderen Gebäuden war dieses Haus eher schlicht. Ich könnte mir vorstellen, dass der Besitzer nicht unbedingt eine Elfe gewesen war. Draußen hing ein Schild:

 

Das Einhorn

Stilvoll zuschlagen

Hartmut ging durch die Tür.

— Da drin gibt es bestimmt noch ein paar hübsche Sachen. Der Händler kann unmöglich alles mitgenommen haben, was?

— Vergiss nicht, was Alices Vater uns gesagt hat, mischte sich Ophelia ein. Wir sind nicht hier, um zu plündern.

Esmeralda ging auf die beiden zu.

Wow, das ist superehrenwert, Ophelia, vor allem für jemanden, der noch nicht einmal eine Rüstung hat.

Die ehemalige Kellnerin sah an ihrer Kleidung herunter. Dann verschränkte sie trotzig die Arme vor der Brust.

— Ich werde mich nicht an einer Plünderung eines Elfendorfes beteiligen.

Esmeralda trat näher an sie heran und flüsterte ihr ins Ohr:

Meinst du das ernst? Ich bin sicher, dass du da drin ein verzaubertes Kettenhemd finden könntest. Traumhafte Klamotten, wunderschön und superhaltbar.

Die Kellnerin blickte noch einmal an sich herunter. Wir konnten in ihren Augen sehen, wie sie mit sich rang, sahen ihren inneren Konflikt. Als sie ihre Schultern sinken ließ, war klar, wer gesiegt hatte.

Hum … nun ja, wir könnten ja mal kurz nachsehen … ob wir uns irgendetwas … ausleihen können. Ja, ich meine ausleihen.

Sie hob ihren Kopf und nickte entschlossen.

— Was wir uns auch nehmen, wir werden es eines Tages zurückgeben, o.k.?

Esmeralda nickte lächelnd.

Aber sicher. Eines Tages.

 

Eigentlich hätte einer der beiden anwesenden Kapitäne in die Diskussion eingreifen müssen. Aber mit Blick auf meine jämmerliche Rüstung (voller Rost und negativer Verzauberungen, die sogar für einen Noob beschämend gewesen wären), fand ich es ehrlich gesagt schwierig, etwas dagegen einzuwenden. Außerdem stand ja auf dem Schild: Stilvoll zuschlagen“. Ich liebe stilvolles Zuschlagen. Wer liebt es nicht? Es ist toll, eine ganze Horde von Zombies zu erschlagen, aber wozu soll das gut sein, wenn man dabei nicht voll cool aussieht? Der Name des Geschäfts allerdings ließ mich noch ein wenig zögern. Das Einhorn. Und als wir einmal drinnen waren … bestätigten sich meine Zweifel, und all meine Träume lösten sich in Luft auf.

Hartmut hatte richtig vermutet, und der Händler hatte offensichtlich versucht, alles mitzunehmen. Da dies sich jedoch als unmöglich erwies, hatte er Einiges zurücklassen müssen. Auf dem Boden verstreut lagen alle Arten von Rüstungsteilen herum: Umhänge, Stiefel, Armbänder, Halsketten, Helme und Gamaschen, fast alles verzaubert oder mit positiven Effekten versehen. Ich hätte mir eine brandneue Rüstung zusammenstellen können … aber ich bin kein großer Freund von Rosa oder Lila oder Himmelblau. Diese ganzen Pastelltöne, nein, wirklich nicht. Ich mag auch keine Kätzchen, Vögelchen, Kaninchen, Schmetterlinge, Einhörner oder Seepferdchen …

Ich habe einmal behauptet, dass ich einfach alles tragen würde, Hauptsache, die Ausrüstung sei in gutem Zustand. Ich ziehe diese Aussage zurück. Es gibt schließlich Grenzen, und vor so einer stand ich hier. Unmöglich, sie zu überwinden!

Angesichts dieses ganzen Horrors konnten die Jungen den Mädchen nur dabei zusehen, wie diese sämtliche süßen Teile anprobierten, sich im Kreis drehten und sich über die Farben, die Motive und so weiter ausließen.

Es erschütterte mich zutiefst, dass sie sich die Sachen nach ihrem Aussehen und nicht nach ihrer Wirksamkeit aussuchten. Wussten sie denn eine gute Verzauberung nicht zu schätzen? Ich bin bereits seit geraumer Zeit mit Mädchen zusammen, aber es gelingt mir immer noch nicht, sie zu verstehen. Alice schien die einzige zu sein, die sich auch für die Macht ihrer Kleidung interessierte. Sie suchte sich eine aus, die nicht ganz so aussah, als stamme sie aus einer Theateraufführung für Kleinkinder. Die anderen aber … Bah, ihr könnt es euch kaum vorstellen: Esmeralda trug Armstulpen und Lederstiefel, die aussahen, als wären sie aus Kaninchenfell.

Und die beiden anderen … Nein, ich kann es nicht beschreiben. Mir fehlen die Worte.

— Gut, das ist eine ziemliche Katastrophe, sagte Max. Vielleicht können wir die Sachen einfach umfärben?

— Gefärbt oder nicht, ich werde niemals etwas tragen, das sich Sirenenflügel schimpft, antwortete Mastoc. Oder Feenregenbogenmantel oder Schmetterlingsarmband …

— Wir könnten alles umbenennen, sagte Hartmut. Dazu brauchen wir nur einen Amboss und Oh, aber was rede ich da! Hat sich erledigt. Die meisten Sachen können jedenfalls nur mit einem sehr hohen Craftinglevel umgefärbt werden.

— He, Jungs, das nächste Mal habt ihr bestimmt mehr Glück, was?, gluckste Esmeralda und zwinkerte uns zu.

Mastoc seufzte tief.

Ja, ja. Lauf du nur in Kaninchenpantoffeln herum, so lange du kannst. Die Monster werden einen Noob, der sich so furchterregend kleidet wie du, wahrscheinlich als erstes angreifen.

Esmeralda drehte sich zu ihm um und versetzte ihm einen Schubs.

Idiot! Sie sind mit Echo I verzaubert. Weißt du, was das bedeutet? Es wird die Macht meiner Lieder stärken.

Mastoc hielt seine Hände abwehrend in die Höhe.

Ich flehe dich an! Ich habe solche Angst, dass du mir mit deinen magischen, kaninchenpantoffelverstärkten Liedchen wehtust! Mit den Liedern, die du noch gar nicht kannst! N-nein, bitte niiicht wehtun!

Sie schubste ihn erneut.

— Es gibt heilende Lieder, weißt du? Du willst doch so was wie ein Kampfpanzer werden! Glaubst du wirklich, dass deine Lebensleiste sich von selbst erholen wird? Was passiert denn, wenn du keine Tränke mehr hast? Wer wird dich dann wohl heilen? Noob! Ich denke dabei doch nur an dich!

— Oh… jetzt komme ich mir aber vor wie ein Blödmann.

Hurrmph!

O.k., sie haben die Verzauberungen wohl doch nicht vollkommen ignoriert. Vielleicht bin ich ja nur neidisch. Aber alles wird gut, und meine Stunde wird kommen. Eines Tages werden wir eine echte Rüstung finden.

In einem Geschäft, das von einem Underlord geführt wird. Das sind die Jungs mit Brustpanzern aus schwarzem Eisen, die die Toten befehligen. Ich habe etwas darüber in Max‘ Enzyklopädie der Untoten gelesen.

Egal, im Moment würde ich hier jede Rüstung nehmen, solange sie nicht glitzert oder wie ein Regenbogenfisch aussieht. Ist das denn wirklich zuviel verlangt?

Auf der Ladentheke stand ein Trank. Hartmut nahm einen Schluck. Nicht schlecht. Das Getränk war aromatisiert und schmeckte nach Mondbeeren. Hartmut schnappte sich auch den Hut, der auf dem Tresen lag, und setzte ihn auf.

— Ich gehe mal nachschauen, was die Ritter gerade so treiben.

Er stolzierte zur Tür, drehte sich zu uns um und tippte sich grüßend an seinen neuen Hut, bevor er verschwand.

Als Hartmut weg war, hatte ich dann wirklich Pech, denn Esmeralda hatte einen Bogen entdeckt, einen OP*-Bogen sogar! Er lag einfach da in einer Truhe. Hätte es nicht ein superstarkes Schwert oder so etwas Ähnliches sein können?!

Ihre Augen weiteten sich, als sie die Truhe öffnete, und sie schrie begeistert auf.

Wow! Der ist ja un-gggllauublich nutzlos! Jawohl! Es ist besser, wenn ich ihn sofort an mich nehme! Es wäre schade, wenn dieses jämmerliche Stück Holz eure Inventare verstopft!

Alice sollte ihn bekommen, sagte Max.

Er nahm seine Brille ab und sah Esmeralda an, als wäre er ein strenger Lehrer und sie eine ungezogene Schülerin.

— Das hat mehr Sinn. Sie ist die einzige, die wirklich gut mit einem Bogen umgehen kann.

— Gut, was hältst du denn von folgendem Sinn?, erwiderte Esmeralda. Mit diesem OP-Bogen werde auch ich gut schießen können! Warum sollten wir all unsere goldenen Eier ins selbe Nest legen?

Schon gut, mischte sich Alice ein. Sie kann den Bogen behalten.

Sie stand etwas weiter von uns entfernt in einem dieser Gebäude, die wie Pavillons aussehen und die es überall im Dorf gab. Vom Balkon aus blickte sie über den Silberwald.

Eigentlich wollte ich sie fragen, warum sie so finster dreinblickte, doch die Aussicht von diesem Balkon aus ließ mich alles vergessen. Der Silberwald erstreckte sich unglaublich weit in den Westen und die Baumgipfel formierten sich zu einem endlosen Ozean …

Von hier aus konnten wir die steil aufragende Bergkette gut sehen. Die Gipfel von Ao. Keine Landkarte könnte jemals ihre Ausmaße gerecht wiedergeben, ganz zu schweigen von diesem fantastischen Ausblick.

 

In diesem Augenblick begriff ich, wie unfassbar gigantisch diese Bergkette wirklich war … Jetzt erst konnte ich mir vorstellen, wie schwierig es sein müsste, diese Bergkette zu besteigen. Die steilen Felsabhänge und tiefen Täler, durch die die Schneestürme peitschten, mussten es nahezu unmöglich machen, einen der Gipfel zu erklimmen. Und plötzlich dachte ich an Pierre …

Dieser Tempel muss irgendwo dort liegen, sagte ich und stellte mich neben Alice auf den Balkon. Glaubst du, er hat gewusst, wie schwierig der Aufstieg sein würde? Er muss es doch gewusst haben, oder?

Die anderen hatten natürlich keinen Schimmer, wovon wir redeten. Ich hatte ihnen gestern von Urf und seinem Angriff auf uns erzählt, aber Pierre und seine Quest, die darin bestand, einen dieser Gipfel zu besteigen, hatte ich mit keinem Wort erwähnt.

— Ich habe immer gewusst, dass Pierre kein schlechter Junge war, sagte Esmeralda. Stressig? Klar. Gestört? Vielleicht. Aber ein Monster? Ganz sicher nicht.

— Ich habe die Ritter über diese Berge reden hören, sagte Max. Dort soll es nur so von den fiesesten Untoten, die man sich vorstellen kann, wie Vampiren und ähnlichem, wimmeln. Darunter sollen auch welche sein, die dich mit einem einzigen Blick in einen Stein verwandeln können.

Als fühlte ich mich nicht schon schlecht genug …

Verglichen mit dem, was Pierre durchstehen musste, verlief unsere Reise bisher wie ein Kindergeburtstag. Wenigstens war dieser Typ S bei ihm. Bestimmt haben sie sich sorgfältig vorbereitet, bevor sie dort hochgeklettert sind. Ich glaubte mich an Leute in Eulenfeld erinnern zu können, die von einem Geschäft gesprochen hatten, in dem man eine entsprechende Winterausrüstung kaufen konnte. Oder bildete ich mir das alles nur ein, nur um mich besser zu fühlen?

— Wir könnten auch dorthin gehen, sagte Mastoc. Mit unserer Hilfe können wir den Leuchtturm mindestens doppelt so schnell anzünden und wären früh genug zurück, um ihn leuchten zu sehen.

Das wäre schön, antwortete ich. Aber ich bezweifle, dass die Ritter damit einverstanden wären. Wie sollen wir so schnell dorthin kommen? Vielleicht würde es mit ein paar Tränken der Schnelligkeit …

— Macht euch doch um ihn keine unnötigen Sorgen, unterbrach mich Max. Erinnerst du dich noch an seinen Gesichtsausdruck während der Übungen in der Schule? Er war immer unglaublich konzentriert. Bisher hat er überlebt, warum sollte er gerade jetzt scheitern?

Alice nickte zustimmend, ohne sich zu uns umzudrehen.

Das sehe ich auch so. Sein größter Fehler war sein übergroßes Selbstvertrauen. Das hat ihn beeinträchtigt. Er hat sich überschätzt. Deshalb konnte ich ihn bei unserem Duell besiegen. Doch als ich ihn das letzte Mal sah, schien er mir verändert. Er war … nicht mehr dieser Draufgänger von früher.

Also hat auch sie es bemerkt, dachte ich, sagte aber nichts.

Ophelia stellte sich neben Alice an die Brüstung.

— Hoffentlich kommt er zurück. Dorfstadt braucht ihn.

— Da habe ich ja überhaupt noch nicht drüber nachgedacht, sagte ich. Fünfzehn von uns gehen in die Hauptstadt, stimmt‘s? Bei einem erneuten Angriff wird keiner von uns da sein.

— Das wird schon gut gehen, antwortete Max. Alices Vater und ein Großteil der Legionäre werden dort sein. Im Übrigen gab es in letzter Zeit ohnehin kaum Angriffe. Man sagt, der Augenlose habe sich zurückgezogen, was bisher aber niemand geglaubt hätte.

Ja.

Noch immer auf die Brüstung gestützt, betrachtete ich erneut die Berge. An einer bestimmten Stelle, in einer Gletscherspalte knapp unterhalb des höchsten Gipfels, glaubte ich einen goldenen Lichtschein aufblitzen zu sehen. Ganz kurz erschien die ganze Gegend wie durch tausend Fackeln erleuchtet. Angestrengt versuchte ich, das Licht erneut zu erspähen, doch vergeblich. Alles blieb dunkel …

Esmeralda stellte sich zu uns.

— Was für eine großartige Aussicht! Schaut euch nur mal diesen Fluss an. Seht mal, da sind gar keine Boote am Ufer festgemacht! Ich frage mich, ob die Elfen auf diese Weise weggefahren sind?

Sie drehte sich zu uns um.

— Wer hat Lust, mit mir schwimmen zu gehen? Die Ritter werden sicher nichts dagegen haben, wenn wir kurz das Dorf verlassen, oder?

Hartmut war in diesem Augenblick, als sie ihren Vorschlag machte, wieder zu uns gestoßen.

— Ich glaube, sie werden es noch nicht einmal bemerken. Sie sind alle in ein Tagebuch vertieft, das von einer Elfe zurückgelassen wurde. Wie es aussieht, haben sie etwas Wichtiges entdeckt. Sie wollten mir aber nichts verraten.

— Also gehen wir!, sagte Esmeralda.

Angesichts unserer mangelnden Begeisterung fügte sie noch hinzu:

Was denn? Der Fluss liegt direkt auf der anderen Seite der Mauer. Es wird schon nichts passieren.

 

 

* Falls ihr es nicht wisst: OP bedeutet Over Powered (superstark).

In einem Computerspiel! Das kann ja nur Betrug sein!