TAG 10
MONTAG - VI

O.k., wir haben also nicht nur ein paar Sachen geplündert, sondern sind dann auch noch Esmeraldas Idee gefolgt und auf die andere Seite der Mauer geklettert.

Wir waren noch voll in Sichtweite des Dorfes und abgesehen von ein paar sonderbaren Tieren war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Eines der Tiere war klein, grau und hatte schwarze Ringe um die Augen; eines war dunkelbraun und so groß wie eine Kuh. Seine Hörner waren wirklich beeindruckend. Wir bleiben eine ganze Weile auf der Kaimauer sitzen, genossen den großartigen Ausblick und quatschten. Es blieb uns außer Warten ohnehin nichts zu tun. Die Ritter lasen ihr Tagebuch, und die Pferde hatten sich noch nicht ausreichend erholt. Ihre Ausdauerleiste war erst zur Hälfte gefüllt.

— Wisst ihr was, Leute? Ich glaube, jetzt habe ich alles kapiert, sagte Esmeralda. Ich meine über unsere Welt. Die Erdlinge streiten sich immer noch darüber, ob unsere Welt nun real ist oder nicht, stimmt‘s? Naja, Kalle hat mir erzählt, dass man in ihrem Spiel früher mal ein Pferd reiten konnte, ohne auch nur einmal anzuhalten. Die Pferde besaßen keine Ausdauerleiste und wurden niemals müde. Dann hat der Server die Regeln geändert. Ich glaube, das heißt Aktualisierung. Danach jedenfalls hatten die Pferde plötzlich Ausdauerleisten, damit das Spiel realistischer wurde.

Das ist aber nicht alles, was sie in ihrem Spiel geändert haben. Es gab hier und da jede Menge kleinerer Modifikationen.

Jeden Monat oder alle zwei Monate eine kleine Mod hier, eine kleine Mod da, und ganz plötzlich tauchten die Hellbeeren mit einem ganzen Haufen neuer Rezepte auf …

Mastoc war völlig verwirrt.

— Esmeralda? Worauf willst du hinaus?

— Ich will damit sagen, dass sich ihr Spiel pausenlos veränderte. An einem Tag gibt es keine Eisenrüstung aus dem Ende, am nächsten Tag schon. Aber unsere Welt war immer schon so. Sie ist immer unverändert geblieben.

— Das ist eine sehr interessante Beobachtung, sagte Max. Vielleicht solltest du Philosophin werden.

Blödsinn, aber ich meine, es muss doch etwas zu bedeuten haben.

— Du behauptest also, dass sich unsere Welt nicht verändert, wandte Mastoc ein, aber was ist dann mit Dorfstadt? Bumbi hat versucht, ein Haus aus Kuchen zu bauen. Aus Kuchen, Esmeralda! Aus Kuchen!

Esmeralda seufzte.

— Das … meine ich doch gar nicht. Ich spreche von den Gesetzen, den Regeln, verstehst du? Ach, vergiss es …

Ich versuchte gerade zu verstehen, was sie überhaupt damit sagen wollte, aber als Mastoc Dorfstadt erwähnte, konnte ich mich nicht bremsen und fragte ihn, was ich dort alles so verpasst hatte.

Er antwortete so schnell und so voller Begeisterung, als habe er schon lange auf diesen Moment gewartet. Die Worte sprudelten wie ein Wasserfall nur so aus ihm heraus …

Zunächst hat Blatt herausgefunden, wie man bessere Schwerter herstellt, dann hat Winter eine Eule gefunden, schließlich hat Perce eine geheime unterirdische Kammer entdeckt, bewacht von von einem Eisengolem, der versuchte, Pizzas herzustellen … es kann aber auch sein, dass Winter die Eule erst danach entdeckt hat. Ach ja, und die Legionäre haben ein neues Mitglied rekrutiert, ein Mädchen namens Rubinia. Sie ist ein bisschen komisch. Oh, oh, und die Eisdiele hat eine neue Eissorte! Sie heißt Pulverfass und schmeckt einfach köstlich! Sie nennen das Eis so, weil die Aromen im Mund geradezu explodieren! Es ist grau wie eine Wolke und in seinem Inneren befinden sich köstliche Schokoladenstückchen. Oh, und dann haben wir auch noch ein bisschen die Oberwelt erforscht und in einem unterirdischen Haus geschlafen. Wir haben den Legionären geholfen, Signaltürme zu errichten, die man schon von Weitem sehen kann, damit sich keiner mehr verlaufen kann. Ich habe auch ein paar Tauschgeschäfte getätigt, um mir meinen Kampfhammer und mein Schild zu kaufen. Ich möchte nämlich ein Kampfpanzer werden, wie Esmeralda das nennt, vielleicht auch ein Ritter. Doch wahrscheinlich werde ich zuerst als Soldat beginnen.

Er unterbrach sich kurz, allerdings nur, um Luft zu holen.

— Ach ja, und dann ist ein Ozelot im Dorf aufgekreuzt! Der ist bbbbblau!

Na super!, sagte Esmeralda und verdrehte die Augen. Jetzt hast du uns die Überraschung verdorben. Gut gemacht, Noob.

— Ja, wir wollten dich eigentlich damit überraschen, sagte Alice. Naja, was soll‘s, dann erzählen wir es dir eben jetzt. Wir sind über ihn gestolpert, als wir auf Erkundung in der Oberwelt waren. Offensichtlich hat auch er etwas mit der Quest zu tun.

Ich musste lachen.

Was? Willst du etwa behaupten, dass dieser Ozelot sprechen kann?

Ja, sagte Esmeralda, ich weiß. Dorfstadt ist offenbar die Hauptstadt der verrücktesten Dinge.

— Ach, glaubt mir, so sehr überrascht mich das nun auch wieder nicht. Ich habe in den letzten Tagen so viel gehört und gesehen. Also gut, es gibt also einen blauen Ozelot, der sprechen kann.

Ich zuckte mit den Schultern.

Warum auch nicht? Ich habe sogar einmal einen verwandelten Zombie und/oder ein Phantom gesehen. Oh, und Kalle ist ein Held aus einem Feenmärchen. Warum also nicht auch noch das? Vielleicht ist Mastoc in Wahrheit auch ein Enderman und heißt Eckbert? Also: Was gibt es sonst noch?

Alle blickten zu Mastoc. Doch dieser stammelte:

— W-wovon sprichst du ? Was für ein Phantom?

Ich erzählte ihnen also von dem Ding, das uns gestern angegriffen hatte, während Alice berichtete, dass sie auch schon zuvor verfolgt worden war. Es war nach der Zerstörung von Dunkelhausen. Alice und ihr Vater wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Also irrten sie ziellos durch die Oberwelt, von Hotel zu Hotel, von Dorf zu Dorf. Manchmal waren sie auch gezwungen, im Freien zu übernachten.

Doch wo sie auch hingingen, sie wurden ständig von irgendjemandem (oder irgendetwas) verfolgt. Einmal war es ein Schweinezombie in einem schwarzen Umhang; er hatte einen mit Wither XII getränkten Dolch. Ein anderes Mal trat eine finstere Gestalt wie ein Geist langsam durch die Wand und bedrohte Alice, die im Nachthemd auf ihrem Bett saß und ihr Tagebuch führte. Voll unheimlich! Kein Wunder, dass sie immer so verschlossen ist: Die Arme muss ja, nach allem, was sie durchgemacht hat, traumatisiert sein. Nur vom Zuhören kriege ich schon Alpträume.

 

Mastoc interessierte sich dagegen mehr für den Dolch.

Wither XII?!

Alice zuckte mit den Achseln.

— Das hat jedenfalls mein Vater gesagt. Er hat diesen Dolch tagelang untersucht. Das Gift war so stark, es hat sogar die Klinge angefressen, die allerdings auch nur eine maximale Widerstandskraft von 1 besaß.

— Sie wäre also schon beim ersten Schlag zerbrochen, sagte Max. Eine Einwegwaffe, die allerdings mit dem ersten Hieb tötet.

 

Er hatte jetzt den gleichen Gesichtsausdruck wie damals, als er die Blumen im Silberwald untersucht hatte.

— Wo ist der Dolch jetzt?

— Ich denke, mein Vater hat ihn noch.

Sie hockte auf der Ufermauer und starrte gedankenverloren ins Wasser, als suche sie dort eine Antwort auf ihre Fragen.

— Wir müssen davon ausgehen, dass der Augenlose bereits weiß, was wir jetzt wissen. Da wir uns alle so nahestehen, ist es durchaus möglich, dass seine Handlanger auch euch angreifen, nur um uns zu ärgern und letztlich uns zu treffen. Die Hauptstadt ist sehr groß. Es ist ziemlich leicht, in der Masse unterzutauchen, auch für einen Attentäter.

Mein Vater hat wieder und wieder gemahnt … wir werden nirgends sicher sein, auch nicht direkt vor dem Thron des Königs.

Alle schwiegen. Das mussten wir erst einmal verdauen.

Durch das Blut verbunden. Die Nachfahren der Helden. Was machte uns nur so besonders …?

Vor uns lagen nicht nur eine strenge Ausbildung und ein Studium an der Akademie, jetzt mussten wir uns auch noch vor diesen Phantomen, oder was auch immer sie waren, in Acht nehmen …

Eine ganze Weile sagte niemand auch nur ein Wort. Jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach und starrte nachdenklich ins Leere, auf die vorbeiziehenden Wolken oder auf die Wellen des vorbeiströmenden Flusses. Ein leichter Wind wehte. Jedes Mal, wenn die Blätter rauschten, blickte ich ängstlich nach oben.