TAG 10
MONTAG - VII

Einige Minuten später frischte der Wind auf und die Blätter über dem Kai erzitterten heftig. Mir erging es nicht anders. Auf das Schlimmste gefasst, blickte ich nach oben. Beim nächsten Windstoß erreichte uns von flussabwärts ein sehr eigenartiges Geräusch, fast wie von einer Fledermaus, aber sehr viel lauter.

 

Kiii-uuu …

 

Aus dem Sitzen schnellte ich buchstäblich einen Block weiter. Keine Ahnung, wie mir das gelungen war. Ich schaute mich um und versuchte zu ergründen, woher das Geräusch wohl kam. Als es erneut ertönte, zuckte ich erschreckt zusammen.

 

Kiii-uuuuuuuuu…

Kii-kii-kii-kii-kii-kii-kii!

Alle, bis auf Lola und Alice, sprangen gleichzeitig auf. Ophelia zog ihr Schwert. Esmeralda brachte sich hinter Mastoc in Sicherheit, Max versteckte sich hinter Esmeralda, und Hartmut, der noch immer seine Saftflasche in Händen hielt, duckte sich hinter Max.

— Was ist das für ein Geräusch?, fragte Lola neugierig. Ganz offensichtlich war sie kein bisschen erschreckt.

— Ich glaube, das ist ein Vogelblock, sagte Alice.

Sie zeigte auf einen großen violetten Busch ganz in der Nähe.

Und dann sah ich ihn. Flussabwärts, oben auf einem Strauch, saß eine viereckige, rötliche Gestalt. Ich rannte. Ich rannte so schnell wie ein Enderman, der ins Schwimmbad eingeladen wird. Ich rannte einfach los und rempelte Hartmut dabei an. Mit gellender Stimme kreischte er:

— Minus! Du Vollnoob!

 

Vor lauter Aufregung, endlich einen Vogelblock zu Gesicht zu bekommen, hatte ich ihm seinen geliebten Mondbeerensaft aus der Hand geschlagen. Bis heute kannte ich einen Vogelblock nur vom Hörensagen und ich musste unbedingt feststellen, ob es sich in Wahrheit nicht einfach nur um einen fedrigen Miniaturblock mit Flügeln handelte. Nichts sollte mich aufhalten können, mein Ziel zu erreichen. Nix. Jaja, ich weiß, ich habe nichts falsch geschrieben, aber das habe ich nur getan, um euch klarzumachen, wie aufgeregt ich tatsächlich war.

Und das hier ist er, in seinem Nest. Genauso hatte ich ihn mir vorgestellt. Alle meine Freunde rannten zu mir und wir begafften gemeinsam dieses seltsame Tier. Habt ihr schon einmal acht Dorfbewohner oben auf einem Busch hocken sehen? Ich erspare mir den Versuch, es euch aufzuzeichnen.

— Er sieht ganz aufgeregt aus, sagte Lola und streichelte ihm den Kopf.

— Ja, weil sein Nest zerbrochen ist, sagte Alice und kniete sich neben ihm hin.

— Oh nein!

Lolas Lächeln wich einem Blick voller Mitleid.

— Dann bauen wir ihm jetzt sofort ein neues Heim, oder?

— Ich vermute, du kennst das Rezept für ein Vogelnest, entgegnete ich dümmlich. Idiotischerweise hatte ich wieder einmal die Fähigkeiten der talentierten Lola Diamant unterschätzt.

Ihr Lächeln war plötzlich wieder zurück.

Aber natürlich war ihr Lächeln wieder zurück.

— Zufälligerweise kenne ich tatsächlich eines.

Innerhalb einer Minute hatte Lola mit bloßen Händen ein ganz neues Nest gebaut und und es gegen das alte ausgetauscht.

Sofort beendete der Vogelblock sein nerviges Gepiepse und begann, richtig schön zu trällern. Das hörte sich ungefähr so an:

kii-kuu-kii-kuu-kii-kuu-kuu, kii-kii-kuu-kii-kuu…

Äh, ich glaube, das war schon alles. Falls noch etwas passierte, habe ich es vergessen, denn das hatte mich doch ziemlich umgehauen.

— Lola, äh … wie hast du bloß dieses Nest gemacht?

— Das ist toll, oder? Das ist meine Kompetenz: Handwerk.

Damit kann ich jeden beliebigen Gegenstand bis zu einer Größe von maximal 3 × 3 ganz ohne Werkbank craften. Ich habe mir gedacht, es könnte nützlich sein, falls man mal mitten in einer Schlacht etwas herstellen muss. Rubinia hat es mir beigebracht.

Verstehe!

Während ich in der Oberwelt war und mein Ding machte, haben auch meine Freunde ihr Ding gemacht und ebenfalls neue grundlegende Fähigkeiten erlernt. Natürlich sind es, so wie bei mir, erst einmal nur die Grundfertigkeiten, die aber für den Stand, dem sie sich später anschließen möchten, von entscheidender Wichtigkeit sind.

— Kalle hat mir gesagt, dass unsere Taten verraten, ob man zur Elite gehört oder nicht, sagte Esmeralda. Mit Kompetenzen kann man aber mehr als nur eine Waffe schmieden oder Blöcke verschieben. Sogar jedes Monster beherrscht mindestens einen besonderen Trick. Ist das nicht peinlich? Bisher hatten wir nicht eine einzige coole Angriffstaktik, im Grunde waren wir noch blöder als ein Schleim …

Da war was dran, sie hatte recht. Ohne Kompetenzen ist jeder einzelne so dumm und unfähig wie Urg der Barbar, der, ich zitiere ihn wörtlich, nichts anderes kann als „böse Sachen angreifen“ und „gute Sachen essen“.

Mehr macht Urg nicht, er „greift böse Sachen an“ und „isst gute Sachen“. Ehrlich gesagt, er ist noch nicht einmal besonders gut darin, Monster anzugreifen. Gute Sachen essen kann er noch weniger, wie man auf Seite 33 Band VII seiner Abenteuerreihe nachlesen kann:

Hunga? Hmm. Ich glaube, Nooberie wird mein neues Lieblingswort!

Auf jeden Fall sollten wir uns weniger wie der oben genannte Schweinebarbar, sondern mehr wie die Monster, gegen die wie kämpfen müssen, verhalten. Creeper sind gefürchtet wegen ihrer Fähigkeit, dein Haus zu zerstören, und Endermen, weil sie sich nach Belieben in dein Zimmer teleportieren können. Wenn wir wirklich dabei helfen wollen, die Welt zu retten (oder wenigstens unser Dorf zu beschützen), sollten wir uns bemühen, wenigstens deren Level zu erreichen. Das ist es, was wir endlich machen müssen. Jetzt können wir zwar zwei Schwerter gleichzeitig schwingen, machen langsam Fortschritte mit unserer Ausrüstung oder craften Gegenstände ganz ohne Werkbank, aber das kann ja nur der Anfang sein!

Sollte also irgendein Handlanger-Noob von Herobrine meine Worte in diesem Augenblick lesen, seid gewarnt, ihr kleinen Noobs, seid auf der Hut und sehr, sehr erschrocken!!

Wir sind nicht mehr die Bauern, die schon ein einfaches Holzschwert fürchten.

Wir sind auf dem Weg zum Adel, zur Elite, um die uns sogar die feinsten Herren beneiden werden.

— Guckt mal!, sagte Mastoc.

Neben dem verzauberten Eisenschild schwang er jetzt noch einen gewaltigen Kampfhammer. Mit vorgehaltenem Schild zielte er auf einen Baum und rammte den Hammer in den Stamm. Sein Spezialangriff war so heftig, dass der ganze Baum erzitterte. So sieht also die Kraft eines Schildkämpfers aus.

Was Max angeht, so wird er jetzt von einer Fledermaus namens Knabberle begleitet. Dieses sehr besondere Tier befehligt er durch seine Kompetenz Gefährte. Seine Biss-Angriffsstärke ist eher schwach, aber es kann auch als Kundschafter vorausgeschickt werden. Außerdem kann es dank seiner Krallentatzen auch Gegenstände tragen. Der Nutzen einer Transport-Fledermaus ist schier unbegrenzt … Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, dass sie ihrem verletzten Verbündeten Tränke der Heilung bringen könnte. Kurz, ein Tier als Gefährten zu beherrschen, ist die erste Ausbildungsstufe für jeden angehenden Zauberer.

Max hob seine Hand und schickte Knabberle flatternd in den Himmel.

Das Tier reagierte auf die kleinsten Gesten von Max und veränderte entsprechend seine Flugbahn. Bald zeigte uns die Fledermaus wilde Sturzflüge und Loopings … und hätte Esmeralda fast ein paar Haare ausgerissen.

— Hurrmph! Das ist doch jetzt eine wirklich gute Gelegenheit, meinen neuen Bogen auszuprobieren, schimpfte sie.

Die Fledermaus brachte sich rasch auf Maxs Schulter in Sicherheit und quietschte jämmerlich.

Mastoc hatte Schild und Hammer wieder verstaut und wühlte nun in seiner Gürteltasche herum.

— Ääh … ich dachte, ich hätte noch einen dieser köstlichen Muffins?

Esmeralda wischte sich hektisch einige Krümel von ihrem Umhang.

Genau in diesem Augenblick näherte sich Alices Vater auf der Suche nach uns. Er schien unsere neue Bekleidung gar nicht zu bemerken und regte sich auch nicht darüber auf. Er kam einfach nur mit dem üblichen mürrischen Gesicht auf uns zu. Nun ja, schon etwas mürrischer als gewöhnlich.

— Los kommt! Wir müssen sofort aufbrechen!