Während die Sonne unterging, sprach Brio, der den Platz des Bürgermeisters eingenommen hatte, über unseren Sieg: wie gut die Leute reagiert hätten; dass die Monster nach der Lektion, die wir ihnen erteilt hätten, es nie wieder wagen würden zurückzukehren; dass der Bürgermeister sich bald erholen würde; dass fünfzehn der besten jungen Rekruten von Dorfstadt bald in die Hauptstadt aufbrechen würden. Am Vorabend unserer Abreise in einigen Tagen würde es zu unseren Ehren eine Feier geben. Während Brio sprach, verschlang ich wie alle anderen meinen Kuchen. Aber nicht irgendeinen Kuchen! Das, was Brio da vorhin gezaubert hatte, übertraf sogar meine Rüstung und auch das Pilzragout.
Der vorübergehende Bürgermeister fuhr fort:
— … und ich möchte mich bei allen Legionären bedanken. Als die Schule Feuer gefangen hatten, besaßen sie die Geistesgegenwart, die Flammen mit Wasserbombenpfeilen zu löschen. Diese Pfeile erzeugen bei ihrem Aufprall eine Wasserquelle, wirken also ähnlich wie ein geworfener Wassereimer. Diese Nachricht wurde von lautem Beifall begleitet.
— Zum Abschluss möchte ich euch noch etwas gestehen, fügte Brio hinzu. Es wird euch schockieren, daher entschuldige ich mich dafür im Voraus.
—Wir wollten euch nicht täuschen, sagte Alice, wir wollten euch nur schützen.
Beide ergriffen je eine Flasche Milch und tranken sie vor allen Leuten aus.
Vor dem verdutzten Publikum erzählte Brio dann die Geschichte der Elfen der Dämmerung, wer sie waren, warum sie schwarz gekleidet waren und woher sie in Wahrheit kamen …
— Wir lebten zwar in Dunkelhausen, doch unsere wirklich Heimat war das nicht. Ursprünglich stammen wir von einer Insel im Nordosten, von der Insel Ioae. An einer ihrer Küsten, geschützt von einer ausgedehnten Bucht, liegt unser gleichnamiges Dorf. Leider wurde unsere Spezies ausgelöscht. Wir wurden immer als Bedrohung empfunden, woran sich bis heute nichts geändert hat. Weil wir Reliquien besitzen und über Generationen altes Wissen verfügen, das dabei helfen kann, den blinden Hexenmeister zu besiegen, sucht er uns noch immer.
Brio hielt kurz inne.
— Vor langer Zeit kannte man mich unter dem Namen Ezael von Wirbelsturm, Hochvogt der Adelsfamilie von Schaumnacht.
Er wies auf Alice.
— Und … das ist Ossana von Schaumnacht, Gräfin von Ioae.
Stille.
Darum also war Elric so höflich zu ihr, dachte ich.
Ich stolperte wie ein lädierter Eisengolem auf Alice zu.
— Du bist … so etwas wie eine Prinzessin?
Sie schüttelte den Kopf.
— In unserer Gemeinschaft ist eine Gräfin keine wichtige Person. Im Übrigen ist es ohne Bedeutung, denn von Ioae ist nichts geblieben. Die ganze Insel liegt in Schutt und Asche …
— Sie gehörte zwar früher nur zum niederen Adel, fügte Brio hinzu, aber ich bin davon überzeugt, dass sie heute die ranghöchste, noch lebende Adlige ist. Die meisten von uns sind bei der Zerstörung von Ioae ums Leben gekommen, einschließlich der gesamten königlichen Familie und der meisten großen Häuser …
— Genau deshalb hat sie auch so viele Anhänger im Westen, mischte sich Elric ein. Und das ist auch der Grund, warum ich euch persönlich in die Hauptstadt geleite.
— Sie haben es also also gewusst, stellte ich fest.
— Ja. Ich wusste, dass sie einen guten Grund hat, ihre wahre Identität geheimzuhalten. Ich hatte nicht das Recht, sie zu verraten.
Er lächelte.
— Zwar glaubt im Westen kaum jemand an die Prophezeiung, doch viele halten sie für die einzige, die die überlebenden Elfen der Dämmerung noch für unsere Sache gewinnen kann.
Er wurde wieder ernst und stellte sich direkt vor ihr auf.
— Haltet Ihr das für möglich?
Alice senkte die Augen und biss sich auf die Lippe.
— Ich glaube nicht.
— Es ist wenig wahrscheinlich, sagte Brio. Sie haben sich von unseren Traditionen losgesagt. Sie sind davon überzeugt, dass die königliche Familie für die Zerstörung von Ioae mitverantwortlich ist. Es war unser König, der viele dazu ermuntert hatte, sich für die alten Künste zu interessieren und so die Wut des Augenlösen auslöste. Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas mit diesem Krieg zu tun haben möchten.
Elric nickte.
— Wahrscheinlich habt Ihr recht. Aber wir sollten es dennoch versuchen, natürlich nur, wenn sie damit einverstanden ist.
— Wartet mal, warf Mastoc ein. Brio ist also gar … nicht dein … Vater?
— Nicht mein richtiger Vater, aber ich habe ihn immer als Vater angesehen. Mein richtiger Vater ist kurz nach meiner Geburt bei einem Duell mit dem Underlord gestorben.
Jetzt verstand ich auch, warum sie diesen Underlord so erbittert verfolgt hatte …
— Ich habe ihrer Mutter geschworen, sie zu beschützen, sagte Brio, und das tue ich immer noch. Als Ioae im Meer versank, habe ich sie auf den Arm genommen und bin mit ihr und anderen in einem Boot geflohen …
— …
— …
Alice ist also nicht nur eine Elfe, sondern auch noch eine zu einem untergegangenen Elfenreich gehörende Adlige? Eine der letzten Überlebenden eines Volkes, das laut Brio nur Leid und Zerstörung erfahren hatte? O.k, ich hatte in letzter Zeit schon einige Überraschungen erlebt, aber das war jetzt doch ziemlich viel auf einmal. Ich musste mich auf Mastoc stützen. Mein treuer Freund war jedoch genauso schockiert wie ich.
— Jetzt könnte ich echt ein Eis vertragen, stotterte er.
— Allerdings, sagte ich und nickte zustimmend.
Kalle legte seine Hand auf Brios Schulter. Er sprach ganz anders als die Ritter, war aber in seiner Rolle ebenso bestimmt:
— Eine tragische Geschichte. Ihr habt Schlimmes durchgemacht, und ich schwöre bei meinem Schwert, dass ich der Existenz des Augenlosen ein Ende setzen werde. Doch bei allem, was ihr verloren habt, solltet ihr wissen, dass ihr hier eine Familie gefunden habt, nicht nur unter den Legionären. Auch diese Dorfbewohner zählen auf euch. Ich bin mir sicher, dass sie euch gehorchen werden, bis der Bürgermeister wieder gesund ist. Ihr habt schon so viel für uns alle getan.
Auch Esmeralda ergriff das Wort.
— Ich habe zwar noch nie Elfen gesehen, aber Brio hat uns niemals im Stich gelassen. Zugegeben, er war in der Schule sehr streng zu uns, aber er hat am eigenen Leib erfahren, wozu der Augenlose fähig ist, und er wusste, dass es für unser Überleben nötig war. Ich bin mir sicher, dass wir das heute ohne ihn nicht durchgestanden hätten.
Dann schenkte sie uns ihr strahlendstes Lächeln.
— Außerdem verdanken wir ihm diesen wunderbaren Kuchen! Esst ein Stück davon und stimmt mir zu: Brio ist genauso ein Dorfbewohner wie wir!
Eigentlich mussten die Dorfbewohner gar nicht mehr überzeugt werden, denn für sie war er längst der zweite Bürgermeister. Es dauerte nicht lange und alle stürzten sich mit den unterschiedlichsten Fragen auf ihn und Alice. Einige versuchten sogar, ihre Ohren anzufassen.
Flaco löste sich aus der Menge und ging mit leuchtenden Augen und weit geöffneten Armen auf Lola und Ophelia zu.
— Habt ihr Lust auf neue Kleider?! Morgen Abend wird es ein kleines Fest zu Ehren unseres Sieges geben! Es soll ein letzter Abschiedsgruß werden, bevor ihr alle …
Er wischte sich eine Träne von der Wange.
— Für euren Aufenthalt in Aetheria braucht ihr etwas besonders Schickes. Diese Kleider, die ich für euch gemacht habe, sind dort voll angesagt.
Er lächelte wieder.
— Sir Elric persönlich hat mir bei der Herstellung beratend zur Seite gestanden!
— Ich werde euch auch einige traditionelle Tanzschritte des Westens zeigen, sagte Elric. Ihr solltet sie beherrschen, wenn ihr euch bei Feierlichkeiten angemessen verhalten wollt.
Alice war vollkommen überwältigt.
Sie war als Elfe wiedergekommen (wirklich eigenartig, so über sie zu sprechen) und sah aus wie aus einer anderen Welt.
— Ich kann immer noch nicht glauben, dass du eine Elfe bist, sagte Esmeralda. Ich wusste immer, dass du anders bist als wir, aber doch nicht so. He, äh … deine Ohren, sind die … irgendwie normal?
— Gräfin Elfe?, frotzelte Hartmut. Puh! Was kommt denn danach? He, was?!
Er biss in sein mit Hellbeeren gefülltes Muffin.
— Unglaublich, sagte er zu Mastoc. Wen interessieren schon Elfen, wenn es Köstlichkeiten wie diese gibt?! Ich fasse es nicht, dass dein Rezept wirklich funktioniert hat. Hurrr! Diese Schmiede ist nützlicher, als ich dachte.
Mastoc hielt ein Buch in die Höhe, das Rezeptbuch seiner Mutter.
— Willst du noch ein paar mehr craften?
— Und ob ich will!
— Ich schließe mich euch mal an, Leute, sagte Max.
Das Funkeln in seinen Augen verriet mir, dass er wahrscheinlich ein zweites Mal versuchen wollte, einen Prismarinstock herzustellen.
Sie haben mich nicht einmal gefragt,
ob ich mitkommen möchte.
Da ich aber die Schmiede habe,
bin ich sowieso mit dabei.