Alice war mit Wither II getroffen worden.
Das sollte aber kein Problem sein. Wir hatten beide genug Mittelchen dabei, um diese Krankheit zu heilen. Wir hatten einige Flaschen Milch mitgenommen, sie musste also nur eine davon trinken, und die Effekte wären verschwunden. Doch die Flasche, die sie jetzt in der Hand hielt, enthielt keine Milch. Sie öffnete stattdessen den Verschluss einer S-III. Ihre Gesundheitsleiste füllte sich auf.
Das verstand ich nicht.
Ein Trank der Heilung konnte zwar die durch Wither verursachten Schäden heilen, den Effekt selbst aber nicht beheben. Warum trank sie nicht einfach Milch?
Sie begann erneut zu zittern.
Ich war völlig durcheinander, als sie einen weiteren Trank zu sich nahm. Diesmal war es ein S-II.
— Alice, äh … vielleicht wäre es besser, wenn du einen der anderen Tränke nehmen würdest. Du weißt doch, die weißen.
— Nein. Pass auf, ich habe es dir noch nie erzählt, aber … äh … ich werde nämlich sehr krank, wenn ich Milch trinke.
— … Davon habe ich ja noch nie gehört.
Ich blickte auf ihre Gesundheitsleiste.
— Was meinst du genau mit krank?
— …
Keine Antwort.
Ich beobachtete sie eine Weile dabei, wie sie Tränke der Heilung I, II und III hinunterkippte. Dann hatte sie alle aufgebraucht. Der Wither war noch da und knabberte unbeirrt an ihren Lebenskräften.
— Der Debuff hat eine verlängerte Dauer, sagte sie. Aber nicht für lange, eine Minute höchst …
Seufzend gab ich ihr meine Tränke der Heilung, die sie einen nach dem anderen herunterschüttete. Aber natürlich konnten auch sie das Unvermeidliche nur hinausschieben.
Was zum Teufel ging hier ab?
— Kannst du nicht einfach Milch trinken??
— Es klappt schon, antwortete sie. Die Effekte werden bestimmt bald verschwinden.
Schließlich war alles Essbare verbraucht, um ihre Gesundheitsleiste zu füllen. Hellbeerenrollen, Enderscones. Am Ende mussten wir sogar mit einfacheren Dingen vorliebnehmen, wie einem Brot und einer Kartoffel. Eigentlich habe ich keine Ahnung, wie letztere in mein Inventar gekommen ist.
— Gibt es keine Muffins mehr?, fragte sie.
— Haben wir nicht mehr. Keinen einzigen.
Ich hielt kurz inne.
— He, willst du mir wirklich weismachen, dass eine Flasche Milch dich noch kränker macht als das alles hier?
— …
Ich hielt ihr eine Flasche Milch hin.
— Trink!
— Ich kann nicht.
— Alice! Ernsthaft jetzt! Was zum Teufel machst du nur?
Sie blickte mich an.
— Minus? Kannst du mir einen Gefallen tun?
— Welchen?
— Ich möchte, dass du jetzt gehst.
— W-was erzählst du da?!
— Kannst du mich nicht einen Augenblick allein lassen?
Sie einen Moment allein lassen? Aber das geht doch nicht! Sie hat vielleicht noch mehr als eine Minute, bevor …!!
— Alice, das ist komplett verrückt! Was soll das?!
Ich hielt ihr eine Milchflasche unter die Nase.
— Los, trink jetzt! Trink!!
— Bitte, ich möchte … ein bisschen allein sein. Es wird alles gut.
— …
— Wenn du nicht freiwillig trinkst, werde ich dich zwingen müssen.
Sie wirbelte zu mir herum und ihre Augen funkelten vor Wut.
— Du bist ein echter Dickkopf, weißt du das?!
— Wenn es um die Gesundheit meiner Freunde geht, bin ich sehr stur.
Sie verschränkte die Arme und drehte mir wieder den Rücken zu.
— Hummph!
— Also?
— Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?
— Ich soll dich tatsächlich ohne einen Funken Gesundheit allein lassen? Was ist, wenn hier irgendjemand aufkreuzt?
— Auch gut.
Sie hob eine Hand.
Plötzlich war sie von einer Rauchwolke umgeben.
Ich wartete gar nicht erst darauf, dass der Rauch sich verzog. Ich wusste, dass sie ihre Kompetenz aktiviert hatte und im Begriff war zu verschwinden. Also lief ich durch die Rauchwolke immer tiefer in den Park hinein.
Leider hatte ich keine Ahnung, in welche Richtung sie verschwunden war. Ihre Kompetenz machte sie für eine kurze Zeit unsichtbar, ich glaube, fünf Sekunden lang, hatte sie gesagt. Sie war fast geräuschlos davongerannt. Drei Wege führten durch das Wäldchen, ich wählte einen davon aufs Geratewohl aus. Vielleicht hatte ich ja Glück und würde sie entdecken, sobald ihre Unsichtbarkeit nachlassen würde. Meine Gedanken überschlugen sich fast noch schneller, als meine Beine vorwärts stürmten. Warum verhält sie sich so seltsam? Warum will sie ihre Statuseffekte nicht heilen? Irgendetwas verheimlicht sie mir. Aber was?
Ich stürmte durch das hohe Gras und …
„Ouuuf…!!“
„Arggg…!!“
… und rannte sie über den Haufen.
Wir prallten in entgegengesetzte Richtungen voneinander ab und landeten mit dem Rücken auf dem Boden. Neben mir lag ein Trank auf dem Boden, das Glas glitzerte in der Sonne. Ich hatte ihn ihr aus der Hand geschlagen, als wir zusammenstießen. Ich beachtete ihn nicht weiter und hatte nur Augen für ihre Lebensleiste. Ich war unfassbar erleichtert, als ich sah, dass sie nicht mehr unter Wither litt. Offensichtlich hatte sie doch Milch getrunken, nachdem sie weggerannt war. Sie war immer noch verletzt, aber …
Plötzlich sprang sie auf und versteckte sich im Schatten eines Baumes, wo sie still stehenblieb.
— Alice? Äh… geht‘s dir gut?
— Es geht schon, wie du siehst. Kannst du gehen? Bitte …!
Ich stand auf und ging auf sie zu.
— Ehrlich, Alice, was ist das Problem? Warum bist du so seltsam?!
— Ich möchte gern allein sein.
— Gut, einverstanden. Aber vorher müssen wir dich noch endgültig heilen.
Ich erinnerte mich an den Trank, den sie fallengelassen hatte und ging zurück, um ihn aufzuheben. Doch der Trank zu meinen Füßen war nicht zur Heilung bestimmt. Ich hob ihn auf.
Tarnung II …?!
…?!
…?!?!
(?!?!?!?!)
Ich habe nur einmal etwas über seinen Effekt gelesen. Wir wollten mal in der Schule Tränke der Tarnung I brauen, aber der Kurs wurde abgesagt. Irgendjemand hatte sämtliche notwendigen Zutaten aus den Vorratstruhen der Schule gestohlen …
Ich versuchte mir, das Wenige, was ich darüber wusste, in Erinnerung zu rufen … Ein Trank der Stärke I verleiht dir das Aussehen einer anderen Person derselben Spezies. Mit Stärke II kannst du dich in alles Mögliche verwandeln, vom Zwerg bis zum Pilzmann. Das hängt ganz von der Version des Tranks ab, die vor dem Brauen durch die Zugabe besonderer Zutaten bestimmt wird. Und dieser Trank hatte die Version Dorfbewohner …
Aber warum …?!
Was wollte sie denn damit …?!
Ich drehte mich zu ihr um. Sie stand noch immer da im Schatten.
— Du solltest es nicht herausfinden, sagte sie. Noch nicht.
Sie seufzte tief.
— Mein Vater wird ausrasten …
Ich blickte in den Schatten, in den sie sich geflüchtet hatte, und spürte, dass irgendetwas an ihr anders war.
Ich hätte nicht sagen können, was es war. Ihre Haare hatten die gleiche Farbe, ihre Augen, ihre Rüstung …
Sie machte einen Schritt nach vorn ins Licht.
Doch auch jetzt bemerkte ich es nicht sofort.
Aber dann sah ich es …
In diesem Augenblick ergaben so viele Dinge plötzlich einen Sinn:
warum sie so große Schwierigkeiten gehabt hatte, sich zu integrieren; warum es so schwer für sie gewesen war, in der Schule neue Freunde zu finden; warum sie so viel über Geschichte wusste; warum sie den Gesang des Vogelblocks erkannte hatte. Und plötzlich wusste ich auch, wer diese neuen Bäume gepflanzt hatte. So wie sie dort zwischen diesen Bäumen mit ihren moosbedeckten Stämmen stand, schien sie in ihrer natürlichen Umgebung zu sein.