TAG 12
MITTWOCH - VII

Also gut, unser Dorf hat einen weiteren Angriff überstanden. Als gegen Abend die meisten wichtigen Bauwerke wieder errichtet waren, konnten wir uns endlich ausruhen. Direkt nach Sonnenuntergang bestieg ich mit Alice den Wachturm. Zunächst saßen wir schweigend nebeneinander und betrachteten die Sterne. Es fiel mir immer noch schwer, mich daran zu gewöhnen, was sie war.

— Warum hat der Effekt Tarnung deine Haarfarbe nicht verändert? Blau ist ziemlich auffällig, findest du nicht?

— Ich hatte meine Haare vorher schon verändert. Sie waren nicht immer blau. Vorher waren sie … ach, egal. Das war eben mein früheres Ich.

— Wie hast du deine Haare überhaupt verändert?

— Es gibt eine Möglichkeit, sein Aussehen dauerhaft zu verändern.

Du hast bestimmt gemerkt, das Sir Elric gar nicht die typischen Augenbrauen eines Dorfbewohners hat. Augenbrauen, Frisur und Haarfarbe sind eigentlich ganz leicht zu verändern, Ohren dagegen nicht. Dazu benötigt man einfach zu viele selten vorkommende Zutaten. Da wir ja auf der Flucht waren, entschieden wir uns für Tarnungstränke, so eine Art Express-Relooking.

Oh! Na gut, du hast dich zwar nicht so stark verändert, aber ich glaube nicht, dass ich mich jemals daran gewöhnen kann, dich so zu sehen.

Ich seufzte.

— Okay, was ist das für eine Geschichte mit den Reliquien und dem geheimen Wissen, von dem dein Vater gesprochen hat?

— Er besitzt einen Schlüssel aus Stein. Nur mit ihm kann man ins 8. Königreich und noch höher reisen. Sein Buch hast du ja gesehen. In ihm findet man alle Rezepte für das fortgeschrittene Crafting und die meisten legendären Rezepte.

Legendär? Also noch fortgeschrittener als fortgeschritten?

Ja. Was mich angeht, habe ich die meisten Sachen geerbt. Du kannst es als das Erbe meiner Familie ansehen.

Sie kramte in ihrer Gürteltasche und zog ein Schwert von überdimensionalen Ausmaßen heraus. Erwartungsgemäß war die Klinge schwarz oder tiefdunkelgrau, sehr lang und leicht gekrümmt.

Der Knauf bestand aus Knochen, war aber viel dunkler, als die meisten mir bekannten. Man konnte sehen, dass die Waffe schon sehr alt und durch viele Hände gegangen war, bevor sie in ihre gelangt war.

— Es ist ein Schwert mit einem legendären Level, beteuerte sie. Weltweit gibt es davon nur zwei.

Sie zog ein zweites Schwert aus ihrer Tasche. Es war dem, das mittlerweile ich in der Hand hielt, sehr ähnlich, nur der Knauf war bei diesem aus grauem Kristall gefertigt.

— Sie gehören zwar nicht zu den zwölf von Entity hergestellten Waffen, sind aber trotzdem sehr mächtig. Jedenfalls waren sie es mal. Jetzt fehlen ihnen ihre Edelsteine, ohne die sie nicht korrekt verzaubert werden können. Ich habe noch nie eines dieser Schwerter benutzt. Mein Vater sagt, man solle sie besser verborgen halten. Sie erregen zu viel Aufsehen.

— Ihre Haltbarkeit ist sehr gering, stellte ich fest. Hast du schon einmal versucht, sie zu reparieren?

— Du meinst mit einem Amboss? Nein. Eine legendäre Waffe kann man auf so eine Weise nicht reparieren. Sie kann nur in einer Schmiede wiederhergestellt werden. Wir hatten aber bis vor kurzem nie eine Schmiede gehabt. Auf Ioae gab es mehrere, aber sie sind alle verloren gegangen.

Jetzt aber haben wir eine … wir benötigen also nur noch die richtigen Materialien, um sie wiederherzustellen.

Ich habe alles, was dazu notwendig ist. Die Klingen sind beide aus Bedrock. Der Knauf deines Schwerts ist aus Drachenknochen, meiner aus Mondkristall.

Äh … die Art, wie du deines gesagt hast … soll das heißen, dass … du es mir geben willst?

So ist es.

— Und ich hatte schon gedacht, der heutige Tag könnte gar keine Überraschungen mehr bringen. Warte mal … wo hast du denn Bedrock und Mondkristall her? Und … äh … Drachenknochen? Außerdem kann Bedrock doch gar nicht abgebaut werden?!

— Wir konnten solche Dinge, früher.

Ja klar.

Also? Sollen wir versuchen, sie zu recraften? Das soll gar nicht so schwer sein. Ich habe gelesen, dass man die Klinge nur auf die Schmiede legen und mit den Materialien bedecken muss und … das ist alles, glaube ich.

Ich legte mein neues Schwert ab, holte die Schmiede hervor und stellte sie direkt auf den Boden des Wachturms.

Craften wir. Äh … recraften wir.

Bedrock und Drachenknochen verschmolzen in blau-grünem Blitzlicht mit dem Schwert. Nun besaß die Klinge wieder ihre vollständige Haltbarkeit, fünfmal höher als die eines Diamantschwerts. Es war etwas kleiner als die normalen Schwerter und, obwohl die fast einen Block lange Klinge aus Bedrock war, leichter, als ich erwartet hatte.Alice beugte sich zu mir und zeigte auf die Schwertspitze.

— Ist dir schon aufgefallen, dass die Würfel an der Spitze kleiner sind als bei normalen Gegenständen? Das trifft auf alle legendären Waffen zu. Sie sind aus mehr Würfeln gefertigt, sodass sie kräftiger und flexibler sind. Soviel ich weiß, wurden sie während des Zweiten Großen Kriegs von unserem großen Schmied Oaeo angefertigt.

Oaeo? Was habt ihr bloß für verrückte Namen?

— Zu Zeiten meiner Großmutter hatten die Elfen der Dämmerung ausschließlich Waldnamen. Die Waldsprache kennt nur Vokale. Oaeo jedenfalls hatte eine Eingebung, als er diese Waffen herstellte. In einer Art Wahnzustand schloss er sich wochenlang in seinem Turm ein, schlief kaum, aß kaum, trank kaum und war nur noch besessen von seiner Arbeit. Diese Waffen waren sein letztes Werk. Er entschied sich für Klingen aus Bedrock, da die Waffen zu jener Zeit besonders widerstandsfähig sein mussten. Sie wurden in vielen Kämpfen eingesetzt, die Monster jener Epoche waren ungleich stärker und ihre Kompetenzen konnten die Waffen mit Leichtigkeit zerstören …

Ich hob abwehrend eine Hand.

— Hör auf, bitte! Ich bin schon aufgeregt genug. Am liebsten würde ich sofort aus dem Dorf stürzen und eine Riesenspinne aufscheuchen, nur um dieses Ding mal auszuprobieren.

Dann werkelten wir an ihrem Schwert. Sie legte nun die Mondkristalle auf die Schmiede. Ich hätte auch dieses Mal gern gewusst, wo sie die denn aufgetrieben hatte, aber ich hielt mich zurück. Wenn euch jemand ein antikes Schwert schenkt, das zuvor einer adligen Elfe der Dämmerung gehörte (und außerdem noch das letzte Werk eines berühmten Schmieds ist), sollte man nicht zu viele Fragen stellen.

— In der Hauptstadt wird es besser sein, sie nicht öffentlich zu tragen, sagte sie. Aber wir können ja in unserer Freizeit, sozusagen als persönliches Projekt, mit ihnen arbeiten. Ohne die entsprechenden Edelsteine können sie nur auf niedrigem Level verzaubert werden. Wir müssen sie irgendwo auftreiben.

Was für Edelsteine?

— Eisopale. Tesserakte der Leere. Blaue Topase. Feuermaschen.

— Ich kam schon bei Tesserakte der Leere“ nicht mehr mit.

— Sie sind alle ausgesprochen selten. Wir müssen ein bisschen suchen, aber vielleicht werden wir ja in der Hauptstadt fündig. Dort wird es ja sicher mehr als ein Edelsteingeschäft geben.

— Ja …

Ich betrachtete mein neues Schwert, schob es in seine Scheide und hängte es mir über die Schultern.

— He … Danke für das Schwert! Zuerst wollte ich es gar nicht annehmen, aber … du hättest ohnehin darauf bestanden.

— Wir brauchen jede mögliche Unterstützung.

— Wahrscheinlich hast du recht. Ich …

Dieses Mal war es keine quietschende Tür, die mich unterbrach. Wenn es eine gewesen wäre, hätte ich sie sofort pulverisiert. Aber auf einem Wachturm gibt es ja keine Tür, sondern nur eine 50 Blöcke lange Leiter, und wir hörten, wie jemand sie hinaufkletterte.

Nicht einer, nein gleich zwei: Kalle und Esmeralda.

— Es hat sich leider nichts geändert, wir müssen immer noch in die Hauptstadt, sagte Esmeralda missmutig. Ich hatte gehofft, sie würden uns davon befreien, jetzt da unser Dorf zerstört ist, aber nichts da. Wir werden noch ein paar Tage hierbleiben, um beim Wiederaufbau zu helfen und dann geht‘s los. Der Kurs beginnt bald. Und wisst ihr was: Elric hat gesagt, dass wir in der Akademie Uniformen tragen müssen.

Sie seufzte und ließ ihre langen Haare in der Luft wehen.

— Das ist voll doof.

— Ich werde auch bald nachkommen, sagte Kalle. Aber erst einmal bleibe ich noch ein wenig und helfe beim Wiederaufbau mit. Das kann ein paar Wochen dauern.

Als sie näherkamen, bemerkten sie unsere neuen Waffen.

— Was für interessante Waffen! Man kann die Handwerkskunst der Elfen der Dämmerung deutlich erkennen. So kann man sich die schlechte Laune auch vertreiben, sagte er mit verstohlenem Grinsen. Ihr zwei seid ja richtige Geheimniskrämer, was?

Das sagst ausgerechnet du!, antwortete ich. Mir ist zu Ohren gekommen, was du vor uns versteckst.

— Ach, tut mir leid, Minus. Ich wollte es dir ja sagen.

Er zog ein Schwert aus seiner Gürteltasche. Die Klinge war in der Mitte schräg abgebrochen, die andere Hälfte fehlte. Genau wie die Legende besagte. Die Klinge war hellgrau, schimmerte aber sanft in allen Regenbogenfarben, sie war aus dem legendären Metall Adamant.

— Ist es das? Ragnarok?

— Früher hieß es Aeon, wurde aber von seinem letzten Besitzer, einem Ritter von Aetheria, umbenannt, erklärte der Legionär. In seinem jetzigen Zustand verursacht es nur armselige Schäden. Ein Teilstück der Klinge befand sich in einem Verlies nicht weit von hier. Wir haben es erst vor Kurzem gefunden. Könntest du mir vielleicht die Schmiede leihen, wenn du sie nicht mehr brauchst?

Nimm sie, sagte ich und hielt sie ihm hin. Ich bin fertig. Du kannst sie übrigens behalten, ich brauche sie nicht mehr. Ich habe gehört, dass auf der Akademie in jedem Klassenzimmer eine steht.

— Wenn ich fertig bin, gebe ich sie deinem Vater, Alice. Er baut schon an einer Obsidianfarm. Ihr werdet sehen, in Kürze laufen alle NPCs in Obsidianrüstungen herum.

— Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal erleben werde!, lachte er.

Esmeralda stupste ihn an und flüsterte ihm ins Ohr:

Aetherier!

Tut mir leid, ich kann mir das einfach nicht merken. Aetherier, Erdlinge. Aetherier, Erdl …

Klong, klong, klong! Mastoc stieg die Leiter empor. Jetzt sind es nicht mehr Türen, die sich quietschend öffnen; es sind knarrende Leitern!

Das nächste Mal, wenn ich etwas Ruhe brauche, werde ich mir einen Ort suchen, an dem es weder Türen noch Leitern und auch nichts anderes gibt, was Geräusche macht. Das einzig Gute war der Aufzug meines besten Freundes: rotgoldener Anzug, megastylisch, echt gewagt. Was für ein kultivierter junger Herr!

— Wir haben den Auftrag, euch zu suchen, sagte er.

Ophelia stieg direkt hinter ihm von der Leiter, und, wow, sie sah absolut großartig aus. Sie trug ein ähnliches Kleid wie das, das Alice gestern anprobiert hatte, allerdings ärmellos. Dafür steckten ihre Arme in langen, weißen Handschuhen. Als sie sie hob, errötete sie vor Verlegenheit so stark, dass sie aussah wie ein Redstoneblock.

D-das Fest beginnt … in etwa einer halben Stunde.

Esmeralda grinste spöttisch.

— Wow, seid ihr etwa … ein Paar?

Ja, sagte Ophelia. Ich habe ihn heute Abend gefragt.

Völlig verwirrt blickte ich auf das sogenannte Paar.

— Kann mir vielleicht mal einer erklären, was das zu bedeuten hat? Dieser Typ S hat Alice und mich auch einmal gefragt, ob wir ein Paar wären, aber was heißt das? Ja, wir sind zwei Personen, na und?

— Vielleicht nicht gerade irgendwelche zwei Personen, sagte Esmeralda augenzwinkernd. Um sicherzugehen, solltest du sie besser fragen.

Was soll ich sie fragen?! Ob sie eine Person ist?!

— Wir sehen uns auf der Feier, sagte Ophelia amüsiert.

Die beiden Paarhälften verabschiedeten sich und stiegen die Leiter wieder hinab.

— Ja, genau, bis später, sagte Kalle und machte sich mit Esmeralda auch auf den Weg. Oder wollt ihr direkt mit uns kommen?

Alice schüttelte den Kopf.

Nein, passt schon. Wir treffen uns dann dort.

Alles klar, sagte er und zwinkerte uns vielsagend zu.

Kommt nicht zu spät!, sagte Esmeralda. Ihr seid die Stars des Abends!

Während sie die Leiter hinabstiegen, wandte ich mich an Alice.

— Warum wolltest du nicht mit ihnen gehen?

— Wir haben doch noch etwas Zeit, oder nicht?

Ja, stimmt.

Ich trat an den Rand des Turms.

— Also … das war‘s. Wir reisen bald ab …

Ich blickte auf die Lichter unter uns, die Fackeln waren inzwischen wieder aufgestellt worden. Trotz der Zerstörungen waren die Straßen und die Grundmauern der Häuser am Fuße der Mauer noch zu erkennen.

— Dieser Ort wird mir fehlen.

— Wir können doch immer in den Ferien hierher zurückkommen.

— Ja, ich weiß.

— Nach der Ausbildung würde ich mich gern einer Gilde anschließen, sagte Alice.

— Was ist eine Gilde?

— Das ist so etwas wie ein Clan. Davon gibt es viele unterschiedliche. Vielleicht können wir ja gemeinsam einer Gilde beitreten. Das wäre toll.

Plötzlich erschien ein blassblau schimmernder Stern am Horizont. Er leuchtete intensiver als all die anderen Himmelskörper und seine Farbe erinnerte an eine Meereslaterne. Nach und nach strahlte der Stern immer heller wie ein zweiter Mond oder eine nächtliche Sonne, nicht ganz so hell, aber ebenso großartig. Er warf sein sanftes Licht auf die umliegende Berge und färbte sie bläulich ein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich endlich begriff, was es wirklich war.

— Pierre ist es gelungen, den Leuchtturm anzuzünden.

— Ich wusste, dass er es schafft.

Sie kam zu mir an die Kante der Mauer.

— Sobald das Signal leuchtet, ist der Tempel geschützt. Für immer. Das bedeutet, dass er ab sofort kein Ziel mehr für den Augenlosen ist. Das sind jetzt wir. Noch mehr Monster werden sich an unsere Fersen heften. Wir müssen uns verkleiden, bevor wir aufbrechen. Wir können es auf die Weise machen, von der ich dir erzählt habe. Außerdem hat mein Vater immer ein paar Zaubertricks in der Hinterhand, mit denen wir unsere Namen ändern können …

Eine neue Identität? Ich konnte meinen Namen ohnehin noch nie ausstehen.

Ich drehte mich zu ihr um.

— Was auch immer geschieht, wir werden immer ein Paar bleiben.

Der Blick, mit dem sie mich danach ansah, erinnerte mich daran, dass es auf dieser Welt mehr gibt, als nur Festungen und Mauern.

— Ich glaube, wir sind wirklich ein Paar.

Ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

— Und zwar ein sagenhaftes!

An alle, die vielleicht gerade dabei sind, eine Ausgabe meines Tagebuchs zu lesen: Alice hat mir geraten, meinen Schreibstil einem höheren Level anzupassen, und zwar in Form einer Dokumentation. Ich gebe ihr da recht. Naja, wenn von mir erwartet wird, dass ich über alles berichte, was in unserer Welt geschieht, muss ich etwas professioneller an die Sache herangehen, nicht wahr? Aber keine Sorge, so viel wird sich nicht ändern. Ich werde nur etwas an meinem Erzählstil feilen. Das Gute daran ist, dass ich künftig mehr über meine Freunde berichten werde. Ich bin mir sicher, dass ihr unbedingt mehr über Alice und die anderen erfahren wollt, stimmt’s? Und vielleicht verrät Mastoc hier auch noch ein paar seiner raffinierteren Rezepte!

 

Bleibt neugierig!