Zu dieser späten Stunde waren die meisten Geschäfte schon geschlossen. Der Wind war noch strammer geworden und ich hatte große Mühe, gegen ihn anzulaufen. Mit gruseligem Heulen, das durchaus von einem Ghast hätte stammen können, pfiff er durch die engen Gassen.
Vorhin, als wir noch mit S zusammen ritten, hatte er uns erzählt, dass ein Geist durch die Stadt irrte, sobald die Nacht anbrach.
Da hatte ich noch lachen müssen. Das konnte ja nur so ein weiteres Märchen sein. Doch jetzt, ganz plötzlich, glaubte ich jedes Wort. Eulenfeld ist nach Sonnenuntergang supergruselig.
Schließlich fand ich doch noch ein Geschäft, das alles hatte, was wir benötigten. Ich lief so rasch ich konnte mit dem Eimer, der kalt wie ein Eisblock an meiner Hand baumelte, in Richtung Hotel und hoffte inständig, mich nicht zu verlaufen. Ich fragte mich gerade, ob Milch eigentlich gefrieren kann, als ich plötzlich einen Schrei hörte.
Doch keine Angst, es war kein Geist. Es waren drei junge Menschen in voller Rüstung, die mit ihren Schwertern herumfuchtelten. Auf ihren Brustpanzern prangte ein Wappen mit einem roten Schwert. Sie rannten durch die Straßen und inspizierten jeden Weg und jede kleinste Gasse.
— Wo ist er hin?
— Verflucht sei seine Unsichtbarkeit!
— Sieh mal! Da drüben! Ich sehe ihn!
Plötzlich zeigte einer der Menschen mit seinem Schwert auf mich.
— Jetzt entkommst du uns nicht mehr, Dorfbewohner! Gib uns sofort den Ring, oder der Zorn der Feierlichen Klingen wird dich bis in alle Ewigkeit verfolgen!
Während sie gemächlich auf mich zukamen, stellte ich … äh … erst einmal den Eimer mit der Milch vorsichtig auf den Boden. Warum? Es hatte mich super viel Zeit gekostet, ihn zu bekommen, o.k.? Ich wollte definitiv nicht, dass er umkippt.
— Was habt ihr für ein Problem?, fragte ich und zog meine Schwerter. Ich bin kein Dieb! Ich habe nichts gestohlen! Vor euch steht nur ein einfacher Dorfbewohner, der sich gerade seine Nachtmilch geholt hat. Ohne ein Gläschen Milch kann man schließlich keine Hellbeerenrolle essen. Es geht einfach nicht!!
— Wovon quatscht der?, fragte einer von ihnen und verdrehte die Augen.
— Ach, vergiss ihn, sagte der zweite und wandte sich ab. Das ist nur ein Noob.
— Das ist vielleicht nur ein Täuschungsmanöver, warf der Dritte ein. Die arbeiten häufig zusammen. Schön wachsam bleiben, ihr Idioten!
Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, was hier vor sich ging. Ich drängte mich an eine Mauer, während sie sich immer weiter näherten. Dann hörte ich plötzlich eine Stimme weniger als zwei Blöcke rechts von mir.
Ich hatte gerade noch Zeit, zu erkennen, wer da mit mir gesprochen hatte, dann war er auch schon wieder verschwunden.
— Sag ich doch!, zeterte einer der Ritter. Seine Unsichtbarkeit
lässt allmählich nach!
Mit lautem Geschrei und klappernden Rüstungen nahmen die Ritter seine Verfolgung wieder auf. Meine Wenigkeit schienen sie offensichtlich völlig vergessen zu haben. Die Schreie und Beschimpfungen waren noch eine Weile aus der Ferne zu hören, dann verklangen sie.
Ich blieb eine ganze Weile wie angewurzelt stehen. Ich konnte mich kaum bewegen, geschweige denn atmen. Auch die Kälte nahm ich nicht mehr wahr. Hartmut. Es war Hartmut gewesen! Aber wie war das möglich?!
Es war dunkel und ich hatte ihn nur eine knappe Sekunde sehen können, aber seine Stimme war unverkennbar. Hartmut hatte eine sehr unangenehme Stimme, hoch, schrill und krächzend. So etwas vergisst man nicht so schnell.
Ich rannte zurück zum Hotel. In meinem Kopf überschlugen sich Gedanken und Fragen.
Ophelia, Hartmut … Warum sind sie alle hier?
Die eine ist Kellnerin, der andere ein Dieb.
Warum? Aus welchem Grund?
Ich hatte ein ungutes Gefühl,
und während ich rannte, hatte ich den Eindruck,
dass die Straßen immer dunkler wurden.