— Hallo.
— Hallo.
— Ist diese Ausbildung in Aetheria wirklich so schrecklich?
— Ich glaube nicht, dass es leicht wird, antwortete Alice. Ich habe wirklich keine Lust, dorthin zu gehen, aber vielleicht hat es ja auch sein Gutes. Mein Vater sagt, dass wir noch viel über uns selbst lernen müssen.
— Was denn zum Beispiel?
— Es gibt eine Menge Elemente, die wir noch nicht kennen und die das aus uns machen, was wir sind, wie etwa unser Level, unsere Stats, unsere Erfahrungspunkte. Diese Elemente sind unsichtbar, und doch ist es möglich, sie zu sehen, und zwar durch die sogenannte visuelle Verzauberung. Alle Menschen beherrschen sie, für sie ist es ganz leicht. Ich weiß nicht, warum wir es nicht auch von Natur aus können. Wir müssen sie erst auf eine bestimmte Weise freischalten. Auf der Akademie können sie uns sicher zeigen, wie es funktioniert.
— Hoffentlich, antwortete ich.
Ehrlich gesagt hatte ich überhaupt keinen Schimmer, wovon sie da redete. Ich wollte ihr einfach nur zustimmen und mich optimistisch zeigen.
— He, was hat dein Vater damit gemeint, als er von Ständen sprach?
(Als wir kurz vorher noch am Tisch gesessen hatten, hatte ihr Vater irgendetwas von „Ständen“ erwähnt.)
— Das kann man vielleicht mit Berufen vergleichen, antwortete sie, aber irgendwie besser. Das ist schwierig zu erklären. Hum … Urf war ein Nethermant, nicht wahr? Das ist ein Berufsstand.
Dann erzählte sie mir mehr über diese Stände.
Will jemand Hexenmeister werden, kann er in den Stand der Hexenmeister eintreten. Daraufhin kann er weitere Stände wählen, seine Zauberei entsprechend vervollkommnen und zum Magier der Leere, Nethermanten oder Monsterhirten werden. Monsterhirten zum Beispiel sind echt supercool. Sie können Tiere heraufbeschwören und beherrschen. Dabei beginnt man meist mit kleineren Tieren wie Fledermäusen oder Kaninchen.
— Am Ende unserer Ausbildung werden wir auch zu Ständen gehören.
— Da ist mir etwas aufgefallen, sagte ich plötzlich. Manchmal machst du einen beunruhigten Eindruck auf mich, aber du scheinst mir nicht sagen zu wollen, warum.
— Oh!, sagte sie und zog ein schwarzes Buch aus ihrem Inventar.Da ist etwas, das Kalle mir über Geschichte, Legenden und einer Sache, die man Prophezeiung nennt, erzählt hat. Das alles steht in diesem Buch. Zuerst dachten wir, es sei wichtig, aber … es ist alles ziemlich unverständlich. Max hat versucht, die … verwirrendsten Abschnitte zu entschlüsseln. Das meiste wurde von einem Schreiber namens Mango verfasst. Er muss ziemlich abgedreht gewesen sein.
— Ich habe noch nicht einmal den Schmöker zu Ende gelesen, den Max mir gegeben hat.
Ich seufzte und zog das Buch aus meinem Inventar, um ihr zu zeigen, wie weit ich bisher gekommen war.
— Gut. Sonst verheimlichst du mir nichts?, fragte ich und klappte mein Buch zu.
— Nein. Obwohl da ist noch was … aber das ist eine Überraschung.
— Nee, ist klar! Bitte, bitte, verrat sie mir!
— Dann wäre es ja keine Überraschung mehr, oder? Du wirst es sehen, sobald wir wieder Zuhause sind, antwortete sie lachend.
— O.k. Also, hör zu! Ich weiß, es macht dich traurig, dass wir dorthin gehen müssen, aber vielleicht wird alles halb so schlimm? Ich habe viele Bücher gelesen, weißt du, und ich glaube, die Hauptstadt wäre genial für uns.
— Ich weiß. Es ist ja auch nur, weil ich dann kein einfaches Mädchen vom Land mehr sein kann. Dabei würde ich mich so gern mit der Ernte beschäftigen, weißt du noch?
— Natürlich erinnere ich mich daran, und eines Tages werde ich dir helfen, einen Bauernhof zu bauen.
— Versprochen?
Oh nein, dachte ich. Durfte ich ihr das wirklich versprechen? Ich bin nicht gerade der talentierteste Baumeister. Um die Wahrheit zu sagen, war ich schon oft kurz davor, eine jener Konstruktionfails zu errichten. Egal! Nach dem, was gestern so alles passiert, kann mich nichts mehr aufhalten. Solange sie an meiner Seite ist …
— Verspr …
Die Türen hinter uns wurden weit aufgerissen. Ein Dorfbewohner, der jedoch nicht so leicht als solcher zu erkennen war, kam auf den Balkon. Wenn man ihn so ansah, konnte man sich kaum vorstellen, dass er jemals einen Ort voller Bauernhöfe, Kühe und Hühner auch nur von Weitem gesehen hatte. Auf seinem Brustpanzer befand sich das Siegel des Königs und in seiner Hand hielt er eine Laterne, die behagliches Licht verströmte. Er trug eine blaugraue Frisur und hatte Augenbrauen in derselben Farbe. Offensichtlich scherte er sich nicht um die Traditionen der Dorfbewohner. Er stellte sich zu uns ans Geländer, von dem aus wir die Sterne beobachteten.
— Ihr müsst Alice sein. Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen.
Er verbeugte sich elegant. Sein Akzent war etwas ungewöhnlich, aber unserem doch recht ähnlich.
— Ich hoffe schon seit langem, Euch zu treffen.
Alice blickte ihn verwirrt an.
— Und wer sind Sie?
— Ah! Stimmt.
Er verbeugte sich ein weiteres Mal.
— Bitte verzeihen Sie, junge Dame. Ich bin schon seit zwei Tagen unterwegs. Mein Name ist Sir Elric Ebenbraun, Ritter von Aetheria, und ich bin hierher gekommen, um sicherzustellen, dass Eure Reise in die Hauptstadt problemlos vonstatten geht. Ich war besorgt, dass man Euch noch nicht zeitig genug vorbereitet hätte, wir müssen nämlich in Kürze aufbrechen.
Ich hörte Sir Elric nicht mehr zu. War er es wirklich?!
Der Typ, der da vor uns stand, war in ganz Ardenvell eine Berühmtheit, ein legendärer Ritter, der als der beste Fechter der ganzen Welt galt. (In meinem Zimmer hängt sogar ein Bild von ihm. Naja, darauf ist er allerdings nicht allzu gut getroffen.)
Dann fiel mir ein, dass die Ritter von Aetheria bei Zeremonien oder bei Treffen mit angesehenen Gästen stets eine Laterne tragen. Sie machen das traditionell so.
Für sie symbolisiert die Laterne das Licht, den Frieden und das Ende der Finsternis. Auch der König trägt eine, und zwar immer. Sie ist etwas ganz Besonderes, ein wertvoller Gegenstand, legendär wegen seiner acht verschiedenen Verzauberungen.
— Euer Dorf liegt auf unserem Weg, fuhr Sir Elric fort. Wir können also ohne weiteres dort anhalten, damit Ihr Euch von Euren Lieben verabschieden können. Leider kann ich sehr gut nachempfinden, was Ihr jetzt empfindet. Auch ich lebte früher in Mondweiler. Es war das erste Dorf, das gefallen ist. Ihr werdet neue Sitten und eine völlig andere Lebensart kennenlernen, doch in Eurem Herzen werdet Ihr immer Dorfbewohner bleiben. Das kann ich Euch versichern.
Egal, wie viel Zeit vergeht, Ihr werdet immer bleiben, was Ihr seid.
Aber bitte erlaubt mir, Euch vorauszusagen, dass Ihr Euch ohne Schwierigkeiten an Euer neues Leben gewöhnen werdet, solange Ihr weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart lebt, sondern Euch immer auf die Zukunft konzentriert. Ihr werdet vor Herausforderungen gestellt werden, die Euch noch nicht begegnet sind.
Dieser letzte Satz, „Ihr werdet vor Herausforderungen gestellt werden, die Euch noch nicht begegnet sind“, schien Alice zu schockieren.
— Was? Woher wissen Sie das?
Der Ritter lächelte sie milde an.
— Ist es nicht ein verbreitetes Sprichwort in Eurem Heimatdorf Dunkelhausen? Ich weiß viel über Euch. Man könnte fast sagen, dass Ihr im Westen richtig berühmt seid. Ich hoffe, Ihr haltet mich nicht für unverfroren, wenn ich frage, ob all die Erzählungen wahr sind? Die Gefangennahme? Die Experimente?
— Ja, es ist wahr, aber …
— Gerüchte verbreiten sich schnell, mein junges Fräulein, und keine Geschichte ist so mitreißend wie die Eure. Das Mädchen, das dem Augenlosen entflohen ist, gequält und für immer verändert. Doch es ist wieder aufgestanden, um weiterzukämpfen. Darum habt Ihr im Westen sehr viele Anhänger, und ich bin einer von ihnen.
Ich warf Alice einen Blick zu, der sagen sollte: „An jedem anderen Tag wäre das eine große Neuigkeit gewesen, aber nachdem, was gestern passiert ist, überrascht mich eigentlich gar nichts mehr.“
Ein weiterer Ritter betrat den Balkon und begrüßte Elric.
— Sir, ich bringe gute Neuigkeiten. Die himmelblaue Festung wurde eingenommen und die letzten Untoten wurden vernichtet. Außerdem wurden Herobrines Streitkräfte aus Imbusch vertrieben. So unglaublich es auch erscheinen mag, wir sind dabei, diesen Krieg zu gewinnen.
— Es scheint so. Vielleicht ist die Glücksgöttin auf unserer Seite. Was ist mit den Eingeweihten?
— Die letzten werden bald hier sein, antwortete der Ritter. Wir sind also jederzeit startbereit.
— Wenn das so ist, glaube ich, wird es jetzt Zeit.
Elric lächelte uns an und verbeugte sich ein letztes Mal.
— Ich treffe mich jetzt mit den anderen. Wir sehen uns später.
Als der Ritter gegangen war, wandte ich mich an Alice.
— Also, was hast du vorhin gesagt? Dass du nicht gehen möchtest? Ooch … die Hauptstadt scheint doch gar nicht so schlecht zu sein.
— Du wirst mir trotzdem helfen müssen, einen Bauernhof zu bauen, sobald wir zurück sind, sagte sie augenzwinkernd. Glaub bloß nicht, ich hätte dein Versprechen nicht gehört.
Sie nahm meine Hand und führte mich nach drinnen. Zahlreiche Ritter flankierten in zwei Reihen und Habachtstellung die Seiten. Der Schein all ihrer Laternen war beeindruckend. Als wir an ihnen vorbeigingen, war es, als schritten wir nicht einfach durch eine Hotelhalle, sondern durch einen Tunnel gleißenden Lichts.